KAPITEL 2
Julia
Mit gehetztem Blick dreht sie sich einmal um sich selbst. Hier muss es doch eine Straße, Häuser oder wenigstens einen erkennbaren Pfad geben. Doch soweit ihr Auge reicht, nur braune Lavasteine zu bizarren Formationen aufgehäuft.
Wo ist sie?
Wie ist sie bloß hierhergekommen?
Ein eisiger Wind beißt sie ins Gesicht und wirbelt Schneeflocken in einem wilden Tanz durcheinander.
Plötzlich sieht sie in der Ferne eine Bewegung. Sie wischt sich über die tränenden Augen und starrt in das undurchsichtige Blaugrau, das sich über die Landschaft gelegt hat.
Tatsächlich. Drei Gestalten mit wehenden Gewändern kommen direkt auf sie zu.
Ihr Herz schlägt wie verrückt. Sie presst die Hand darauf. Jetzt wird alles gut. Sie ist nicht mehr allein.
Als sie vor ihr stehen, erkennt sie, dass es sich um Frauen handelt. Schlank, groß, in weiße Tücher gehüllt.
Sie lächelt ihnen zu, möchte sie grüßen, doch die Worte bleiben ihr im Hals stecken, als sie in kristallblaue Augen blickt, aus denen ihr kein Lächeln, kein Wohlwollen entgegenkommen.
Eine arktische Kälte geht von ihnen aus und trifft sie bis ins Mark.
Voller Entsetzen wird ihr bewusst, dass sie von ihnen keine Hilfe erwarten kann. Im Gegenteil. Sie rennt los.
Julia wird durch ihr eigenes Keuchen geweckt. Ruckartig setzt sie sich im Bett auf, für einen Moment orientierungslos.
Sie knipst die Nachttischlampe an. Helligkeit erfüllt den Raum und löst die bedrohliche Situation auf.
Ihr Blick fällt auf den Wecker. Vier Uhr.
Erste zaghafte Amselgesänge klingen durch das offene Schlafzimmerfenster.
Was war denn das für ein furchtbarer Traum?
Aus Angst, wieder in das Geschehen zurückzugleiten, verlässt sie das Bett, geht in die Küche und füllt ein Glas mit kaltem Wasser. Das eben Erlebte hinunterspülen, doch die Traumbilder wollen nicht weichen. Sie sieht die Frauengestalten immer noch so deutlich vor sich, als hätten sie den Traum verlassen und befänden sich ganz in der Nähe.
Julia schüttelt unwillig den Kopf. So ein Quatsch! Weg mit diesen unguten Gefühlen.
Sie hat noch nie an Traumdeutung und unsichtbare Phänomene geglaubt und wird jetzt mit fünfunddreißig auch nicht damit anfangen.
Sie geht zurück ins Schlafzimmer und stellt das Wasserglas auf den Nachttisch. Noch ein wenig schlafen wäre schön. Sie kuschelt sich unter die Decke, doch es gelingt ihr nicht, zur Ruhe zu kommen.
Der gestrige Besuch bei ihren Eltern kommt ihr in den Sinn. Die übersteigerte Reaktion ihrer Mutter, als sie von ihrer geplanten Reise nach Island erzählte.
„Nein, nicht nach Island“, rief ihre Mutter entsetzt aus.
Am Kaffeetisch wurde es mit einem Mal still, die Bewegungen wirkten plötzlich wie eingefroren. Ihr Vater, ihr Bruder David und Julia starrten erschrocken Elin an, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war und mit blassem Gesicht ihre Tochter anstarrte.
„Nein, überallhin, nur nicht nach Island“, wiederholte sie leise. Sie wirkte wie zerbrochen.
„Was hast du gegen Island? Schließlich bist du dort geboren.“ Julia sah ihre Mutter fragend an.
„Du darfst nicht dorthin! Mehr kann ich dazu nicht sagen“, antwortete Elin, drehte ihr den Rücken zu und flüchtete ins Haus.
„Ich habe bereits gebucht. Übermorgen fliege ich nach Reykjavik, mache eine Rundreise durch den Südwesten und fahre im Anschluss nach Nordisland auf einen Reiterhof. Ich freue mich darauf und lasse mir das von ihr nicht vermiesen“, warf Julia ärgerlich in die erstaunte, schweigsame Runde. Unwirsch zwirbelte sie an ihrem Zopf.
„Warum erzählt sie nicht endlich, was los ist? Weißt du, warum sie so heftig reagiert hat?“ David blickte seinen Vater fragend an.
Dieser seufzte. „Ich weiß auch nicht viel mehr als ihr.“ Michael wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Aber irgendetwas Schweres trägt sie mit sich herum, das spürt man. Hat es mit ihrer Familie zu tun?“, fragte David.
„Ich dachte, alle aus ihrer Familie seien tot. Hat sie auf jeden Fall immer behauptet“, warf Julia ein.
„Wenn eure Mutter nicht darüber reden will, dann müssen wir das respektieren. Lasst uns reingehen, hier draußen wird es langsam unerträglich heiß.“ Michael blickte in den Himmel. „Ich glaube, es gibt heute noch ein Gewitter.“ Er zeigte auf die ersten Wolkentürme, die von Westen heranzogen.
„Kommst du mit schwimmen? Ich brauche jetzt eine Abkühlung.“
„Gute Idee, Schwesterherz. Ich bin dabei.“ David grinste Julia beschwichtigend an. „Komm, mach wieder ein freundliches Gesicht. Sie wird sich schon wieder beruhigen. Du weißt ja, wie Mam ist. Ein kleiner, harmloser Vulkan.“
Julia musste lachen, als sie in das mit Sommersprossen übersäte Gesicht ihres Bruders blickte. Mit seinen wirren, blonden Locken und seinen blitzenden, blauen Augen sah er aus wie ein Wikinger.
„Ein isländischer Vulkan. Toller Vergleich“, ergänzte sie, „und manchmal hat sie was von einem kleinen Troll, wenn sie so ärgerlich und stur ist.“
„Kinder, nun lasst es gut sein! Ab in den See mit euch! Ich kümmere mich derweil um eure Mutter.“ Michael seufzte noch einmal, nahm seine Tochter kurz in den Arm und gab seinem Sohn einen liebevollen Klaps auf den Rücken.
Wieder staunte er über die außerordentliche Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter. Beide klein und zierlich. Lange auffallend rote Haare, die sie meistens zu einem dicken Zopf flochten. Lebhafte, grüne Augen in einem schmalen Gesicht, das jetzt im Sommer mit Sommersprossen übersät war. Seine Elfenfrauen.
Julia und David gingen durch den Garten. Das schlappe Grün schien ebenfalls nach einer Erfrischung zu lechzen. Sie öffneten das kleine Holztor, das ihr Grundstück vom Uferweg trennte. Gleich darauf stürzten sie sich kreischend und prustend in das erfrischende Blau des Bodensees.
„Wer zuerst an der Boje ist“, rief David und begann mit ausholenden Armbewegungen zu kraulen.
„Gewonnen!“ Ihr Bruder hielt sich kurz darauf an der Boje fest und blickte seiner älteren Schwester triumphierend entgegen.
„Bin momentan nicht so in Form“, japste Julia und hielt sich hustend an seiner Schulter fest.
„Momentan? Ich gewinne doch immer“, entgegnete er frech.
Julia schnitt eine Grimasse und patschte mit der Hand ins Wasser.
„Was für ein Geheimnis Mam wohl mit sich herumträgt? Komisch, dass nicht einmal Paps davon weiß. Ob es was mit meinem leiblichen Vater zu tun hat?“ Julia blickte ihren Bruder fragend an.
„Keine Ahnung, aber lass uns zurückschwimmen. Es wird langsam kühl. Schau, der See beginnt sich bereits zu kräuseln und große Sturmwarnung haben wir auch.“
Heftiger Wind und Donnergrollen trieben die Geschwister ans Ufer und ins Haus zurück.
Ihr Vater erwartete sie bereits. „Gut, dass ihr wieder zurück seid.“
Als die Geschwister nach kurzer Zeit wieder ins Gartenzimmer kamen, stand ihr Vater an der offenen Verandatür und beobachtete das Naturgeschehen.
Der Wind fuhr in die Bäume, zauste die Hortensien, Rosenblätter wirbelten durch die Luft und die Taglilien wiegten sich im wilden Tanz. Blitze erhellten den dunklen Himmel, grollender Donner folgte. Doch der Regen blieb aus. Das Gewitter verzog sich so schnell, wie es gekommen war. Die Windböen verloren an Kraft. Die Sonne brach durch die Wolken und brachte die