Daniel Juhr

Morde und andere Gemeinheiten


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hatten. Nur ich habe sie nie vergessen. Habe in Gedanken oft mit ihr geredet, aber das waren traurige Gedanken.

      Im Haus meines Vaters waren damals noch Flüchtlinge untergebracht, und Mariechen kam als Hausgeburt auf die Welt. Wer den Krieg und alles überlebt hatte, überlebte noch lange nicht sein totes Kind und eine tote Frau. Margot starb Jahre später im Johanniter Krankenhaus auf der Intensivstation. Mein Vater konnte meine Schwester und seine Frau nicht retten. Konnte sie nicht retten, so wie er seine Kameraden im Krieg gerettet hatte, die ohne ihn ihr Leben verloren hätten.

      Er konnte damals so kurz nach dem Krieg keinen Sarg für Mariechen bekommen. Er hat bei Keusen dann doch noch einen aufgetrieben. Es war mitten im Winter. Die Erde war so tief gefroren gewesen, dass die Männer noch nicht einmal mehr ein Loch für einen Kindersarg graben konnten. Als ich geboren war, wurde er so krank, dass meine Mutter dachte, dass er ihr wegstirbt. Da wurde er von den Ärzten „kaputt geschrieben“.

      Damals haben sie ihm alles genommen, was ihn zusammengehalten hat.

       Wie stehen Sie zu Herrn Fuchs, Frau Hermann?

      Im Sommer hat er einen Sessel ganz alleine nach oben in seine Wohnung getragen. „Soll ich mit anpacken?“, habe ich ihn gefragt, und er hat mich nur angelächelt und ihn alleine weiter getragen. Er ist einfach eine Sonne für mich, und ich spüre Wärme, wenn ich an ihn denke. Wir sehen uns nur, wenn ich auf dem Balkon bin, die Straße fege oder wenn ich mal wieder nicht genug Eier für den Kuchen habe, und ich seine Frau fragen muss, ob sie mir aushilft. Einmal hat er mich nach einem Cinch-Stecker gefragt. „Was ist das denn?“ fragte ich ihn. „Ein Stecker für einen Lautsprecher.“ Das ist das schönste Geschenk, das er mir je gemacht hat. Er hat das Vertrauen, dass ich das habe, was er braucht.

       Erzählen Sie mehr von ihrem Zusammenleben mit Ihrem Vater, Frau Hermann, damit wir uns ein Bild machen können von Ihnen.

      „Der ist eine Schande für das Haus“, beschwerte sich mein Vater ständig über meinen Balkon. „Der Balkon ist meine Sache. Das ist unsere Abmachung“, erwiderte ich scharf. „Eine Schande!“ Er musste immer das letzte Wort haben. Ich ging auf den Balkon und drückte die Tür hinter mir zu. Sperrte ihn aus.

      Später kommt Herr Fuchs und bringt den Müll raus. Trägt statt einer Jeans eine Jogginghose und läuft träge und breit. „Was ist los?“, frage ich, und er erzählt mir von seiner Sterilisation. „Ist ja ein kleiner Eingriff für einen Mann“, sage ich und denke, dass ich das nie gedacht hätte, dass er das für seine Frau machen würde. Wir reden miteinander, bis er zu ihr wieder nach oben muss. Abends habe ich dann nachgeschlagen, wo die Samenstränge in den Eiern entlanglaufen. Die Schnitte hätte ich ja gerne einmal gesehen. Wo sie genau sind, und ob die so klein sind, wie ich sie mir vorstelle.

       Wie kamen Sie dazu, Ihren Vater mit dem Brotmesser umzubringen?

      Als ich noch ein Kind war, sind mein Vater und ich zu meiner Tante nach Lindlar gefahren. Da sitze ich auf dem Rücksitz mit meinem Vater allein im Auto, sehe das brutale Profil seines Gesichts. Ich habe solche Angst vor ihm. Eine Angst, für die ich gar keinen Namen habe.

      Wenn ich mein Geburtstagsgeschenk bekommen habe von meiner Mutter, hat sie mir immer gesagt, dass ich mich bei meinem Vater bedanken soll. Und es ist klar: Ich soll ihm einen Kuss geben. Aber ich kann das nicht. Ich mag ihn nicht küssen. Aber ich musste das tun.

      Unser Brotmesser läuft vorne so spitz zu. Ich habe ihn in Gedanken hunderte Male erstochen. Mein Vater hat mein Leben jeden Tag mit seiner Freudlosigkeit und seinem Scheißhumor umgebracht. Für ihn war ich im Grunde genommen so tot wie Mariechen.

       Warum haben Sie denn überhaupt mit Ihrem Vater zusammengelebt, Frau Hermann?

      Ich konnte meine Mutter doch nicht mit ihm alleine lassen. Er war ein schwieriger Mensch, wissen Sie. Er konnte doch nichts dafür, dass ihn das Leben so gemacht hat. Es gibt Fotos von ihm, als er noch ein ganz junger Mann war. Darauf sehe ich einen strahlenden Mann am Radevormwalder Bahnhof. Damals gab es ihn ja noch. Das Leben hat ihn aus der Bahn geschleudert. Hilfe wollte er auch nicht, wollte nicht zum Seelenklempner oder nach Marienheide in die Klapse. Er wollte alles mit sich alleine abmachen.

      Da treffe ich einen Freund von mir Jahrzehnte später in der Stadt, und der sagt: „Ich habe Deine Eltern am Busbahnhof gesehen.“ „Aha.“ „Sie standen händchenhaltend an der Haltestelle.“ „WAS?“ Mehr brachte ich nicht heraus. So kannte ich meine Eltern nicht. Ich kannte nur den Entzug, aber ich begriff nun, dass es auch Liebe gab. Liebe, die entzogen werden konnte.

       Frau Fuchs, haben Sie von den Spannungen zwischen Frau Hermann und Ihrem Vater etwas mitbekommen?

      Wie soll ich es sagen: das Verhältnis war angespannt. Ja, das habe ich bemerkt. Herr Hermann war ein lustiger Mann, hat seine Späße mit mir gemacht und mich immer „junge Frau“ genannt. Er war ein Charmeur, würde man sagen. Gut, habe ich mir gedacht, er ist ein älterer Herr. Lass ihm seinen Spaß. Im Grunde genommen war das alles harmlos. Seine Frau hat mal zu mir gesagt: „Bei Ihnen benimmt er sich wie ein junger Gott.“ Das hat ganz schön bitter geklungen, als sie das sagte, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Damals wusste ich ja noch nicht, wie das alles endet.

       Warum sind Sie denn nicht ausgezogen, Frau Hermann?

      Mein Vater pisste ins Waschbecken im Bad, verstehen Sie? Er kam vom Klo nicht mehr so gut hoch. Meine Mutter hat ihm dann ein Behindertenklo einbauen lassen. Da hat er so lange Theater gemacht. „Ich bin kein Behinderter!!!“ Bis sie es wieder ausbauen ließ.

       So genau wollen wir das nicht wissen, Frau Hermann!

      Doch, so genau müssen Sie das wissen! Er pisste nämlich daneben. Und wenn meine Mutter oder ich ihm das sagten, dann brüllte er, wir würden lügen und würden ihn immer schlecht machen.

       Frau Hermann, bitte, so genau …

      Ich habe seine Pisse weggewischt. Als ich einmal die Schnauze voll hatte, habe ich ihm gesagt, er solle gefälligst aufs Klo gehen, da hat er mir die Fernbedienung an den Kopf geworfen. Einmal hat er seine Tasse Kaffee nach meiner Mutter geworfen. Da haben wir ihm die Medikamente gegeben, die wir für ihn vom Arzt bekommen haben. Ich wollte nicht, dass er in ein Altenheim kommt. Dort hätten sie ihn mit Medikamenten abschießen müssen. Anders hätten sie meinen Vater nicht ertragen. Er hat das nicht verdient, nach all dem, was er im Leben durchgemacht hat. Ich wollte ihm das ersparen.

       Herr Fuchs, was passierte zwischen Ihrem Eintreffen am Tatort und dem Eintreffen der Kollegen von der Mordkommission?

      Ich habe meine Blumenfrau in den Armen gehalten.

       Die Autorin: Irmgard Hannoschöck

      Irmgard Hannoschöck lebt und arbeitet in Hückeswagen. Sie ist mit Leidenschaft Fachkraft für Suchtvorbeugung, Künstlerin, Autorin und Lektorin. Zahlreiche ihrer Kurzgeschichten hat sie bereits bei Lesungen vorgestellt.

       Christine Kaula

       Putschertod

       Einführung: Paula und wie sie die Welt sieht

      Es ist warm an diesem Mittwoch. Während Ulla sich in den ersten Stock verzogen hat, um da die Zimmer sauber zu machen, nimmt sich Paula den Flur vor. Von der Rezeption her hört sie es klingeln. „Ja, hier ist das Waldhotel in Marienheide“, vernimmt sie die angenehme Stimme der jungen Dame am Empfang, deren Namen sie sich einfach nicht merken kann. „Ja, Herr Putscher, das machen wir. Zwei Personen für drei Nächte. Sehr gerne.“

      Paula durchzuckt es plötzlich: Putscher. Da war doch was. Diese alte Figur in Wipperfürth, wo sie mal im Hansecafé geputzt hat. Damals erlebte sie die düsteren Ereignisse hautnah mit,