Ja, ja, die Zeit der Strings ist nun endgültig vorbei. Wenigstens, stellte Agatha fest, ausgezogen hatte sie sich und das auch noch selbst. Bei den Gedanken kicherte sie laut vor sich hin und ebenso laut sagte sie: „Ist ja auch gar keiner da, welcher das für mich hätte übernehmen können. Eigentlich schade.“ Aber das sollte sich in ihrem neuen Leben auch, wie noch viele andere Dinge, ändern. Vor dem Spiegel ihren Körper betrachtend, dachte sie sich: „Warum eigentlich keine Strings mehr? Die kann ich mir schließlich noch leisten.“ Diesen Vergleich brauchte sie nicht zu scheuen, und sie dachte an ihre etwas füllige, gleichaltrige Nachbarin Petra und kicherte in sich rein.
Barfuß kraxelte Agatha zum Fenster, zog entschlossen die Vorhänge auf und die Oktobersonne wallte in voller Kraft in ihr Schlafzimmer und überzog ihr genügsames Heim mit einem strahlenden, güldenen Schein. Dies alles kam für sie mit so einer Wucht, dass sie erst einmal einen Schritt zurück wich. Als sie zum Kirchturm der Tauchaer St. Moritz Kirche hinaufblickte, blinzelte sie noch ein wenig mehr als zuvor im Bett. Sie ließ den Blick aus ihrem Fenster schweifen, sah ein wunderschönes altes Eckhaus in einem nicht so tollen baulichen Zustand, welches bestimmt viel zu erzählen hatte. Ihre Nachbarin Petra hatte ihr vor ein paar Tagen etwas darüber erzählt:
„Dieses Haus war Anfang 1900 im Auftrag des Ziegeleibesitzers Albin Seidemann in sehr kurzer Zeit errichtet. Im Volksmund wurde es Seidemann-Haus genannt. Von 1900 bis 1913 hatte er es an die Stadtverwaltung Taucha als Rathaus vermietet. Später wurde es dann zum Wohnhaus umgebaut“.
„Also, im Prinzip wohne ich gegenüber vom Rathaus und das hatte früher doch am Markt gestanden“, dachte sich Agatha. Sie blickte nach rechts und bemerkte sofort den Stilbruch. In einer Art rotem Container bot ein Händler Döner und andere ihr nicht so vertraute Speisen an und zerstörte mit dieser „Immobilie“, den Blick auf die sehr alte Tauchaer Kirche. Dieses Teil passte einfach nicht dorthin, aber außer ihr störte sich wahrscheinlich kein anderer an diesem Blick. „Furchtbar und doch so real“, dachte sie.
Das kleine Parthestädtchen strahlte an diesen Morgen eine Ruhe aus, die sie selten so genossen hatte. Sie musste nie wieder in ihr Krankenhaus. Vor allem konnte sie sich auch nicht vorstellen, noch weitere fünf Jahre dort zu arbeiten. Sie hatte jetzt unendlich viel Zeit. Agatha war fest entschlossen ihr Leben zu ändern. Was wusste sie schon von Taucha? Hier hatte sie eh nur geschlafen, hin und wieder ein wenig fern gesehen, um sich dann auch schon wieder auf den Weg zur Arbeit zu machen. Arbeiten, arbeiten, immer wieder arbeiten war zu ihrem Lebenselixier geworden, hatte sie ständig und immer wieder angetrieben, unfähig sich zu erinnern, dass es noch andere Dinge in ihrem Leben geben könnte. Ab jetzt war sie nun „Seniorin“, und genau das wollte sie auch mit ganzen Herzen sein.
Es war Samstag früh, es war Oktober, sie war Sechzig und das Abenteuer Leben sollte für Agatha genau an diesem Tag beginnen. Sie hatte in der Zeitung gelesen, am Abend würde in Taucha ein Nachtwächterrundgang stattfinden, eine Kriminaltour durch ihre Heimatstadt.
Nachtwächtertour
15.Oktober
Treff: 18 Uhr
Sparkasse Taucha
Dauer: ca. 3,5 Stunden
„Tauchas absonderliche Kriminalfälle“
„Sie meinten bisher, in Taucha passiert nichts? Irrtum! Der Nachtwächter führt Sie auf dieser spannenden Tour zu ehemaligen Tatorten, an denen in den letzten sechs Jahrhunderten Kriminalfälle passierten, die den Ermittlern so manches Rätsel aufgaben. Nehmen Sie mit Johann Christoph Meißner die Spuren der Vergangenheit wieder auf und staunen Sie über so manche abrupte Lösung ...“
Hier wollte sie nun alles nachholen, was durch Arbeit in den Hintergrund gerückt war. Agatha war wissbegierig und sie wollte auch staunen, genauso wie es in der Zeitung stand. Sie wollte die helle und die dunkle Vergangenheit ihrer doch so unbekannten Wohnstätte ergründen. Heute stand die Dunkle auf der Tagesordnung, und Agatha wusste in diesem Moment noch nicht, dass diese Tour ihr ganzes Leben verändern würde.
Noch gestern dachte sie: „Mörder, Diebe, Ehebrecher und das in Taucha, das gibt es doch gar nicht.“ Die Menschen waren nett, und wenn sie doch einmal Mittwoch auf den Markt ging, um frische Blumen für ihre kleine zauberhafte Wohnung zu kaufen, grüßten sie alle sehr freundlich, standen in kleinen Gruppen und tuschelten. „Nein, hier gibt es doch keine Mörder und Diebe, und Spießertum ist ja nun auch kein Verbrechen.“ Noch gehörte Agatha nicht so richtig zu ihnen. Obwohl sie schon viele Jahre in Taucha wohnte, angekommen war sie hier noch nicht. Sie sah sich allerdings schon mitten unter diesen Menschen. Sie wollte dazugehören, sich an den Gesprächen beteiligen und viel über diesen Ort erfahren, einen Ort, welcher sie immer mehr in seinen Bann zog. Im Buchladen, welcher hinter den Arkaden unterhalb ihrer Wohnung zu finden war, konnte Agatha einige Büchlein über Taucha erwerben und wurde in ihnen fündig. Sie konnte ihr Wissen über dieses bezaubernde Städtchen an der Parthe erweitern.
So zum Beispiel, dass Taucha erstmals im Jahre 974 urkundlich erwähnt wurde, dass in den Jahren 1349 und 1680 viele Menschen durch die Pest starben und auch dass mehrere Großbrände die Stadt zerstörten. Das Städtchen Taucha lag auf einer Höhe von 128 Meter über dem Meeresspiegel, hatte mit seinen neun Ortsteilen etwas über 14500 Einwohner zum jetzigen Zeitpunkt. Am 22. Januar 1851 wurde in der Schloßstraße 2 in der Wohnung des Herrn Breitenborn das erste „Expeditionslocal der Sparcasse der Stadt Taucha“ eröffnet.
Da war es wieder, das was sie schon seit Tagen beschäftigte – Sparkasse Taucha, hier war heute Abend der Startpunkt für den Nachtwächterrundgang, auf welchen sie sich schon wie ein kleines Kind freute. Heute ist die Sparkasse in der Leipziger Straße untergebracht und genau dorthin machte Agatha sich nun auf den Weg.
II. Mit Jürgen Schulze durch Taucha
Jürgen Schulze alias Nachtwächter Johann Christoph Meißner
Das Wetter war sehr angenehm, das Thermometer zeigte an diesem frühen Oktoberabend immerhin noch beachtliche zwanzig Grad. Jürgen Schulze war von zu Hause aus gelaufen, immer durch den jetzt farbenprächtigen Stadtpark. Schwerfüßig stapfte er durch das herbstliche Laub auf den Parkwegen. Unter seinem großkrempigen Hut und dem langen Umhang schwitzte er gehörig. Darunter hatte er sich eine dicke Strickjacke und einen Pullover angezogen. Hätte er doch nur auf seine Frau gehört. Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass es noch ein warmer Abend sei und er in dem Aufzug doch fürchterlich schwitzen würde. Jürgen Schulze hatte dies ignoriert und gedacht: „Lass sie nur reden, ich muss ja schließlich an den Hintern frieren.“ Er würde das gegenüber Gaby aber nie zugeben, dass sie recht gehabt hatte. Ein Übriges hatte der Rotwein am gestrigen Abend getan, welchen er mit einem Freund in einem kleinen Café in Taucha getrunken hatte. Es sollte eigentlich nur ein Schoppen von diesem wunderbaren trockenen Bardolino werden, es wurden aber einige von diesem edlen Gesöff und es wurde sehr spät. Leicht besäuselt hatte er sich dann gestern auf den gleichen Weg, in die andere Richtung, gemacht, den er auch jetzt benutzte. So stapfte er schwitzend durch den Park, mit Nachtwächterlaterne und Horn, laut vor sich hin schimpfend. Sein Weg führte am Schöppenteich vorbei, an einer lärmenden Gruppe von Jugendlichen, welche ihn ganz ungläubig wie einen Außerirdischen anstarrten. „Zurück in die Zukunft“, dachte Jürgen. Er war eben ein Relikt aus der Vergangenheit, und diese Rolle spielte er gern und gut. Jürgen Schulze war der Nachtwächter Johann Christoph Meißner. Er bog ein auf den Weg, der zur Leipziger Straße führte, und konnte die Sparkasse schon sehen. Jürgen Schulze, ein groß gewachsener, übergewichtiger Endfünfziger, kam schwitzend und prustend an der Sparkasse in Taucha an.
Das Gebäude war 1930 auf Geheiß des damaligen Bürgermeisters Karl Hermann Jubisch als Stadtsparkasse im Bauhausstil errichtet worden.
Bei dem Anblick der Sparkasse musste Schulze immer wieder ein wenig grinsen. Dieses Grinsen brachte umgehend seine Atmung wieder in normale Kanäle und er erinnerte sich, dass vor