Jürgen Ullrich

Mörderisches Taucha


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unbekannter und bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ermittelter Täter hatte zu Geschäftsbeginn mit einer Bohrmaschine den hinteren ungesicherten Personaleingang geöffnet. Durch diesen war er in die Sparkasse eingedrungen und hatte auf die Angestellten gewartet, um ihnen dann nach und nach die Handys abzunehmen. Die Bohrmaschine unter dem Kittel des Täters hielten alle für eine Waffe und machten bereitwillig, was dieser forderte. Er entkam mit einer beträchtlichen Summe in seinen roten Schuhen. Bestimmt war es nur eine Frage der Zeit, dass der Polizei auch dieser Täter ins Netz ging oder es blieb für immer eine Frage.

      Schulzes Freund Georg Tandler, der ermittelnde Hauptkommissar, würde heute ohnehin an der Krimitour teilnehmen. „Vielleicht kann er mir ja etwas Neueres dazu berichten, natürlich nur wenn er darf.“ Beide hatten schon in ihrer Phantasie ganz komplizierte Kriminalfälle gelöst. Heute wollten sie sich mit einigen Krimifreunden auf eine Tour durch das düstere Taucha machen.

      Schulze musterte die potentiellen Tourteilnehmer, welche sich in kleinen Gruppen formiert vor der Sparkasse eingefunden hatten. Sein Blick ging von einer Person zur anderen. Er stellte fest, dass noch nicht alle eingetroffen waren und konnte sich mit der Betrachtung Zeit lassen. Die hatte er ja auch noch, denn es war noch mehr als eine halbe Stunde bis zum Beginn des Rundgangs. Zeit, die er für seine körperliche Regeneration brauchte. So ließ er sich kurz entschlossen auf der Treppe zur Sparkasse nieder, nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und setzte ungeniert seine Betrachtung fort.

      Zwei Meter von seinem Platz entfernt stand eine Frau, welche er bisher noch nie auf einen Rundgang gesehen hatte, eine Frau, so schätzte Schulze, wie er im „Mittelalter“. Sie war von schlanker Gestalt, hatte festes Schuhwerk an, ein unauffälliges aber doch schönes Kleid und sie hatte einen Hut auf, so wie er. „Festes Schuhwerk ist in Ordnung“, dachte er sich, „mit der kann man ja was anfangen. Natürlich rein tourmäßig.“ Unter ihrem breiten Hut kam ein noch breiteres Lächeln zum Vorschein. Kontakte pflegte er zu Frauen, ausgenommen zu seiner eigenen Frau, überhaupt nicht. Nicht das Schulze das nicht wollte, nein er hatte gar keine Zeit dafür. Zeit war für ihn überhaupt das Kostbarste in seinem Leben und die wollte er nicht mit Nebensächlichkeiten verbringen.

      Gaby, sein Eheweib hatte dafür unendlich viel Verständnis und jeder lebte sein eigenes kleines Leben. Jürgen Schulze verbrachte den Tag bis in den späten Nachmittag hinein im Büro, um nach der Arbeitszeit in den verschiedensten Vereinen seine Kraft einzubringen. Er hatte an allem Interesse, was in dieser Stadt geschah. Den Abend und die halbe Nacht verbrachte er dann am Computer, über vielen Büchern, über Tagebüchern von Pfarrern aus dem Kirchenumkreis von Taucha und las in alten Zeitungen. So setzte er aus vielen kleinen Mosaiksteinen seine Geschichten zusammen, welche er dann zu Rundgängen wie diesem an den Mann oder auch an die Frau brachte. Unwillkürlich suchten seine Augen wieder den Blickkontakt zu der Unbekannten und wieder lächelte sie ihn an. Der Bann war gebrochen.

      Agatha blickte immer wieder zum Nachtwächter Johann Christoph Meißner hin, betrachtete seinen Umhang, seinen Hut und die anderen Nachtwächterutensilien. Als er vor einigen Minuten hier ankam, stand er unter Volldampf mit hochrotem Kopf. Jetzt wirkte er gar gelassen und zog genüsslich an seiner Zigarette und ließ dabei die Asche auf seine Schuhe fallen. Mit ihm sollte also ihr erster Tag in ihrem neuen Leben beginnen. Das Abenteuer Leben nahm seinen Lauf. Meißner erhebt sich mit einem Schwung, dem man ihm gar nicht zutraut. Ein Mann wie ein Fels.

      Agatha ging auf Jürgen Schulze zu, streckte ihm ihre Hand entgegen und flüsterte verschwörerisch: „Agatha ist mein Name, Agatha Leistner, ich müsste auf ihrer Liste stehen.“ Und noch leiser und ein wenig geheimnisvoll fügte sie hinzu: „Unser Abenteuer kann beginnen.“

      Jetzt war auch noch der letzte, aber einer der wichtigsten Tourteilnehmer eingetroffen, Hauptkommissar Georg Tandler. Sein großes Wissen aus der Szene wollte er heute bei diesem Stadtrundgang der besonderen Art einbringen. „Grüß dich Georg“, rief der Nachtwächter freudig seinen Freund zu, was dieser ebenso freundlich erwiderte. „Hast du heute deine Hellebarde mit, dass wir uns wenigstens vor den ganzen dunklen Gestalten verteidigen können“, lachte Georg und klatschte vor Freude in die Hände. Alle lachten mit, ohne zu wissen, welchen furchtbaren Gestalten aus mehreren hundert Jahren sie heute begegnen würden. Zur allgemeinen Überraschung bekamen die Teilnehmer der Tour vom Veranstalter Wasser und trocken Brot gereicht. „Auf das Anketten können wir heute bestimmt verzichten, sie wollen doch nicht abhauen“, sagte er lachend. Nein das wollten sie alle wirklich nicht, sie wollten die Tour bis zum bitteren Ende durchstehen!

       III. Schnüffelnase Georg

      Hauptkommissar Georg Tandler hatte sich auch schon längere Zeit auf diesen Nachtwächterrundgang gefreut. Schließlich war dieses Projekt ja vor allem sein Kind, er hatte diese Idee mit Jürgen aus der Taufe gehoben und wollte sie auch mit ihm und den anderen an diesem Abend erleben. Er hatte die vergangene und die kommende Woche Urlaub. Einen Urlaub, den er auch nötig brauchte. Es würde der letzte sein, denn seine Pensionierung stand unmittelbar bevor. Georg hatte seinen letzten großen Fall gelöst, ein Fall, der ihm ganz schön an die Nieren ging. Bei aller Abgestumpftheit seines langen Berufslebens, ein Fall bei dem es um ein Tötungsdelikt an einem Kind ging, das wühlte seine Seele immer wieder auf. Gott sei Dank, der Fall war gelöst, der Täter weggesperrt und nun auch noch verurteilt. Abgeschlossen, aber dennoch klaffte eine Wunde in seiner Seele offen, wenn auch unsichtbar. Wie immer wurde dem Täter die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Sein Verteidiger ließ nichts aus, um aus schwieriger Kindheit und verpfuschten Leben großes Kapital für seinen Mandanten heraus zu holen. Für das Opfer und seine Angehörigen blieben wenige Worte übrig. Das wusste er, und das war immer wieder so und immer wieder kotzte das Georg an. Umso mehr hatte er sich auf den heutigen Tag gefreut. Die Fälle, um die es hier ging, lagen weit zurück, und er kannte diese Menschen, bis auf einige wenige Fälle aus der jüngeren Vergangenheit, nicht. Er hatte mit Jürgen für den heutigen Abend eine Strategie entwickelt, eine Strategie, welche die neugierigen Menschen in den Bann des Verbrechens ziehen sollte. Die ganz alten Fälle aus dem Mittelalter und der Zeit um die Völkerschlacht, und die aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert sollte der Nachtwächter erzählen, und Georg wollte über ein paar Fälle aus den Achtzigern berichten.

      In einer Stunde würde über Taucha der Schleier der Nacht gezogen sein und alles Freundliche würde dahinter verborgen bleiben. Unwillkürlich fiel Georg das Gedicht „Menschen bei Nacht“, von Rainer Maria Rilke ein, und er trug es der erstaunten Menge gleich vor.

       Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.

       Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht

       und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.

       Und machst du nachts deine Stube licht

       um Menschen zu schauen ins Angesicht,

       so musst du bedenken: wem.

      Damit hatte er auf jeden Fall ein Stimmungsbild erzeugt, denn die Menge rückte gleich etwas enger zusammen und dies hatte den Vorteil, dass Beide nicht mehr so laut reden mussten. Ja, Georg war ein Feingeist. Er las gern, besonders Gedichte von Rilke. Spät erst hatte er sich damit beschäftigen können, denn Rilke war in der DDR, in der er aufwuchs nicht so unbedingt gewollt. Ansonsten stand er zu seiner Vergangenheit, denn Kriminalist war er schon seit seiner Jugend. Politisch hatte er sich damals wie heute nicht betätigt, was ihn auch von Beförderungen verschonte. Mit seinen knapp sechzig Jahren war er deshalb auch nur beim Hauptkommissar angekommen. „Mehr geht nicht“, dachte er und war zufrieden mit sich und der Welt. Er träumte vor sich hin. Der Tross überquerte die Leipziger Straße in Richtung Park, als es plötzlich hupte. Georg Tandler erschrak, denn er hatte den Funkstreifenwagen gar nicht kommen hören. Hämisch rief ein junger Kollege aus den Wageninneren: „Na Georg, bist du wieder als Schülerlotse tätig?“ Georg winkte ab und lachte. Inzwischen war es in Taucha dunkel geworden und etwas gespenstisch lag der Park vor ihnen. Die Gruppe war auf der Parthenbrücke stehen geblieben und Georg schaute runter zum Fluss.

       Die Parthe ist ein kleiner Fluss in Sachsen, der im Glastener Forst zwischen