schaut, was ich geworden bin: ein alter, vertrottelter Narr, der am Ende seines Lebens um ein Stück Brot betteln muss. Die Seide hat sich in Sackleinen verwandelt. Es wird Zeit zu sterben. Aber ich will Julia fragen, ob sie mir zuhört. Julia, kommst du? Julia!
»Wir nehmen Gott, den Allmächtigen, zum Zeugen
und erklären angesichts der ganzen Welt:
Wir hängen unserem König in unveränderter Liebe
und unerschütterlicher Treue an und sind entschlossen,
für ihn zu leben und zu sterben.«
Korsische Erklärung vom 21. Januar 1737
Prolog
Die Geschichte des Theodor von Neuhoff kann nicht seelenruhig erzählt werden. Aber erzählt werden soll sie. So, wie sie sich uns zeigt, begegnen wir ihr erstmals am zweiten Advent des Jahres 1756 nach der Frühmesse in London, der damals größten Stadt der Welt, die wenige Jahre zu vor dem fernen Konstantinopel diesen wenig rühmlichen Titel abgerungen hatte. Zwei wohlgenährte Männer, die zu jener Zeit die Metropole zu Fuß umrundeten, um ihre Ausmaße deutlich zu machen, benötigten geschlagene sieben Stunden, bevor sie ihren Ausgangspunkt wieder erreichten.
In den buckligen und mit Löchern übersäten Straßen des kärglichen Stadtteils Soho erschienen an diesem vorweihnachtlichen Dezembertag die letzten Besucher des Gottesdienstes der St. Annenkirche, um fröstelnd unter den kahlen Ulmen nach Hause zu eilen. Ein leichter, kalter Nieselregen legte sich auf die Gesichter und verlieh ihnen einen feinen Glanz, der nicht ihrem inneren Empfinden entsprach. Reverend Sonheart, ein knurriger, vergrämter Einzelgänger, hatte den Gläubigen in seiner Predigt gewaltige apokalyptische Bilder vor Augen gemalt und dabei die Worte Jesu aus dem Lukasevangelium ausgelegt: »Es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen in Erwartung der Dinge, die da kommen sollen.«
Immerhin war es dem Gottesmann gegen Ende doch noch gelungen, für seine Herde mit den abschließenden Versen des Textes einen tröstlichen Bogen zum bevorstehenden Christfest zu spannen: »Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.«
Der fast blinde Mann, der in diesem Augenblick aus der Dean Street in die Little Chapel Street einbog, hielt den Kopf dennoch gesenkt. Er war nicht mehr bereit, an irgendeine Erlösung zu glauben, solange sie sich als Vertröstung entpuppte, die seiner Angst keinen Einhalt gebieten konnte. Laut zog er die große Nase über dem dunklen Bart hoch, der von grauen Strähnen durchzogen war, und spie dann in weitem Bogen in den Rinnstein, wo der Auswurf von dem trüben Rinnsal des Regenwassers davongetragen wurde, das sich zwischen den Steinen einen Weg bahnte.
»Buh!«
Der Alte, der die fünfzig deutlich überschritten hatte, zuckte zusammen, als er den Laut neben sich hörte, doch dann hellte sich seine Miene auf. Für einen Moment schämte er sich, dass er gerade so ordinär auf die Straße gespuckt hatte, bald aber überwog die Freude. »Schascha! Was machst du denn bei diesem Wetter hier draußen?«
Das kleine Mädchen, das nicht viel älter als acht Jahre sein konnte, schmiegte sich an den schmucklosen Tuchrock des Bärtigen und streichelte seine Hand. »Ich warte!«
Der Mann schaute suchend umher, dann neigte er den Kopf und kräuselte die Nase. »Auf wen? Auf deinen Prinzen?«
Das Kind sah schelmisch zu ihm auf: »Großvater Albrecht. Du sollst dich nicht über mich lustig machen!«
»Das würde ich niemals wagen. Aber meinst du wirklich, dass er bei diesem widerwärtigen Wetter hier vorbeireitet? Mitten in der Stadt?«
Mit seiner knorrigen Hand prüfte er die Kleidung seiner Enkelin. Das Kittelchen des Mädchens hatte sich bereits mit Feuchtigkeit voll gesogen und klebte an dem dürren Körper wie eine zweite Haut. Schascha grinste so breit, dass sich auf ihrer linken Wange ein Grübchen in die Haut legte. »Großvater, du weißt doch, wie das ist: Prinzen kündigen ihr Kommen nicht an.« Sie drückte kindlich verspielt die Knie zusammen. »Könige tun das ja auch nicht!«
Beunruhigt hielt Albrecht inne. Langsam legte er die Enden seines Mantels am Hals übereinander. Seine Stimme klang sehr brüchig, als er fragte: »Der König! Ist er schon aufgewacht?«
Das Mädchen lief plötzlich davon und zog hinter einem Ginsterstrauch einen hölzernen Puppenwagen hervor, dessen blumenbestickte Stoffbespannung ebenfalls durchnässt war. Konzentriert starrte es auf die verdreckte Puppe, die zwischen den Kissen hervorlugte. Schüchtern fragte es: »Ist er wirklich ein König?«
Der Großvater nickte fast unmerklich: »Zumindest war er einer. Und seine Königswürde ist ihm niemals aberkannt worden.«
Schascha schüttelte mit großer Konzentration die Decke des Wagens aus und murmelte: »Er stinkt!«
Albrecht ging mühsam in die Hocke, um mit seiner Enkelin auf einer Höhe zu sein. »Das stimmt. Er war viele Jahre im Gefängnis. Und dort hat man ihn nicht besonders gut behandelt.«
Mit einer trotzigen Bewegung schob das Kind sein Spielzeug von sich. »Warum ist er dann zu uns gekommen? Wenn er doch ein König ist?«
Der Großvater zog eine Augenbraue hoch. Ruhig sagte er: »In der Zeit, in der der König noch ein richtiger Herrscher war, wollten viele Leute seine Freunde sein. Jetzt verachten sie ihn. Sie lachen über ihn, weil er sich nicht mehr wehren kann. Weißt du: Als er heute Morgen entlassen wurde, ist er als Erstes zum Botschafter des Landes Portugal gefahren, einem seiner alten Bekannten. Doch der hat ihn einfach rausschmeißen lassen!«
Schaschas Augen leuchteten, und sie musste ihre Erkenntnis sofort mitteilen: »Wahrscheinlich, weil er so stinkt.«
Vorsichtig strich der Bärtige dem Kind über den Kopf: »Weißt du: Dreck kann man abwaschen. Und wenn jemand nur dann dein Freund sein darf, wenn er gut riecht, dann ist deine Freundschaft nicht viel wert. Der König hat vor vielen Jahren, als er noch mächtig war, bei mir viele Kleider nähen lassen. Weil ich wie er ein Deutscher bin. Damals waren wir gerade erst in London angekommen – und dank seiner Aufträge konnten wir hier Fuß fassen. Das vergesse ich ihm nie. Ich bin sein Freund, auch wenn er stinkt. – Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Schläft er noch oder nicht?«
Das Mädchen schaute verstohlen auf den Boden. »Als ich aus dem Haus gegangen bin, war er noch nicht aufgewacht.«
Energisch griff der Alte nach der Hand der Kleinen. »Komm, Schascha. Lass uns reingehen. Es ist viel zu kalt, um draußen zu spielen.«
Sie entzog sich ihm. »Bitte, Opa, lass mich noch eine Weile hier warten. Nur ein ganz kurzes Bisschen.«
Er schüttelte bedenklich den Kopf: »Na gut, aber nur noch ein paar Minuten. Deine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen um dich.«
»Och, das glaube ich nicht. Ich mache mir Sorgen um sie: Sie klebt schon wieder an der Wand.«
Der Großvater lachte. Er ging behutsam die nasse Straße hinunter und verschwand im Haus mit der Nummer 5. Das Mädchen schaute ihm lange nach. Dann blickte es wieder konzentriert die Straße hinunter, als sehe es dort eben gerade einen wunderschönen Jüngling auf einem stattlichen Schimmel herantraben.
Zur selben Zeit bog eine große Mietkutsche vom Leicester Square in die Wardour Street ein, um Richtung Oxford Road zu fahren. Es war einer jener modernen Wagen mit stählerner Federung, die erst vor kurzem eingeführt worden waren und nun überall von neugierigen Jungen bestaunt und voller Ehrfurcht berührt wurden.
Im Fond des eleganten Gefährts saß ein verschnupfter Mann von etwa dreißig Jahren und rieb sich die Nasenflügel über dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Er trug einen blauen Wollfrack mit Hornknöpfen über einer Weste aus weißem Pikee und eine gelbe Wildlederhose. An seiner Seite lag statt eines Degens ein