ihr Leben eine einzige Enttäuschung war: die Ernüchterung über ihren homophilen Ehemann Philipp, den jüngeren Bruder des Sonnenkönigs, der sein Vermögen immer wieder aufs Spiel setzte und sie in eine desaströse Einsamkeit zwang, die Scham über den Verlust ihrer bodenständigen Heidelberger Heimat, die sie gegen die aufgeblasene Hülle des Pariser Hofes tauschen musste, die Verweigerung der vielen Pfunde, ihre ausladenden Hüften zu verlassen, und die frustrierende Erkenntnis, dass sich letztlich das ganze Leben als ein Spiel entpuppte, dessen Ausgang niemanden interessiert außer den Spieler selbst. Ich habe sie gehasst, und das hat mich stark gemacht. Positive Vorbilder sind wertlos, denn sie erzeugen nur billige Imitate – negative Bilder dagegen, markante Darstellungen des Unschönen, zwingen den Beobachter dazu, sich sein eigenes Profil zu erarbeiten. Vielen Dank, altes Ekel.
Wenn einer – wie diese Frau – nur noch die Enttäuschung kennt, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie zu kultivieren. Wer in seinem Leben keinen Sinn findet, erklärt das letzte bisschen Elend, das ihm bleibt, zum Sinn. Und so fing auch Madame an, ihre Desillusionierung, diese abgründige Entzauberung ihres Daseins, selbst zu verzaubern. Sie schmückte das Fiasko prächtig aus, setzte es auf einen goldenen Thron und huldigte ihm mit einer Hingabe, die sie möglicherweise einem wirklichen Daseinsgrund niemals hätte zuteil werden lassen. Erregt schwelg te die eitle Herzogin von Orleans im Kummer, huldigte ihrer Verbitterung frenetisch und zelebrierte ihr Leiden wie einen Gottesdienst: eine Priesterin der ekstatischen Verzweiflung. Ich habe sie beobachtet, forschend und ahnend, und ich glaube, dass ihr mein Wissen zuwider war, denn sie behandelte mich all die Jahre distanziert.
Andererseits: Zu wem war sie nicht distanziert? Weil ihr das reale Leben zwischen den Fingern zerrann, schrieb sie alles auf, was es festzuhalten gab. Ihre blumigen Briefe, die Briefe der Liselotte von der Pfalz, haben sie, wie ich vor kurzem hörte, inzwischen berühmt gemacht. Seltsam. Da ist es dieser frustrierten Kuh, die aus ihren sicherlich vorhandenen Talenten und Möglichkeiten nichts, aber auch überhaupt nichts gemacht hat, in einer ironischen Laune des Schicksals gelungen, ihr Versagen in ein sinnstiftendes Ziel zu verwandeln. Siebzig Jahre hat sie ihr Hass auf das Leben am Leben gehalten und ihr dabei geholfen, für andere zum Segen zu werden.
Der Graf von Montague, ein Verehrer meiner Mutter und ein Ehrenkavalier von Madame, führte uns am Pariser Hof ein. Und wie es häufig bei desillusionierten Menschen ist: Die Herzogin fand Gefallen an unserem Leiden. Sie verschaffte uns eine äußerst großzügige Wohnung in der Nähe des Palais Royal und versorgte meine Schwester Elisabeth mit einer Mitgift von zweihunderttausend Franken, die es ihr ermöglichte, den Grafen von Tre veaux zu heiraten. So hatte es wenigstens eine aus unserer Familie geschafft, eine Verbesserung ihres Standes zu erreichen. Mir, dem nicht fertig ausgebildeten Flüchtling, gab Madame ohne viel zu fragen eine Stelle als Page in ihrem Haus. Ich bin sicher: Es war ihr ein besonderes Vergnügen, uns freigebig zu helfen. Und als meine Mutter in zweiter Ehe den Zollpächter Marneau heiratete und nach Metz zog, war die Herzogin sichtlich gekränkt, dass ihr damit der Triumph entging, diese leidgeprüfte Frau mit einem Adligen zu verbinden. Wir waren ihre Spielfiguren – so wie sie selbst eine Spielfigur war. Wir alle behandeln die Menschen um uns herum so, wie wir selbst behandelt worden sind, ganz gleich, ob wir das wollen oder nicht.
Auch Enttäuschung braucht Formen, und so baute sich Madame ihren »Ersatzsinn« zu einem Ersatzleben aus: Die von ihrem Mann verweigerte Liebe fand sie bei ihren sieben Hunden, die ich regelmäßig ausführen musste, das für sie selbst unerreichbare Schönheitsideal verkörperten ihre unzähligen Vögel und die überall hervorquellende Langeweile vertrieb sie mit wilden Parforcejagden und schwelgerischen Einladungen. Ihr Tag war so angefüllt mit Verabredungen, Veranstaltungen und anderen gesellschaftlichen Pflichten, dass ihr keine Zeit blieb, sich mit dem Übel der Leere, die in ihren Eingeweiden wütete, zu beschäftigen. Und so wurde sie, ganz gegen ihre Absicht, zu einem Kind ihrer Zeit, das sich im höfischen Benehmen eine Trutzburg gegen die Gefahr der Alltäglichkeit bauen wollte.
Nur eines hat Madame immer zurückgewiesen: den Verfall der Sitten; etwa diese Kleider, die den Busen herausdrücken statt ihn zu verdecken, und die Selbstverständlichkeit, mit der man sich einen Liebhaber hielt. Doch auch in diesem Punkt folgte sie wohl mehr ihrem Groll gegen das ausschweifende Leben ihres Mannes als einem eigenen Moralkodex. Das Leben von Elisabeth Charlotte war eine einzige Reaktion, nie hat sie etwas aus sich heraus getan, sie folgte ihren Verletzungen und Ängsten.
In meiner Zeit als Page habe ich alles aufgesogen, was man über das Dasein bei Hofe wissen muss. Ich lernte – endlich – richtig zu tanzen, fand heraus, welche Floskeln man wann sagen sollte, wenn man bestimmte Erfolge erzielen will, wandelte immer sicherer über das glatte Parkett der Etikette, verbesserte meinen Umgang mit dem Degen und der Pistole, begann, nett zu plaudern und dabei kleine, aber feine Intrigen zu spinnen, führte berühmte Gäste durch die üppigen Gärten und die weiten Gänge des Schlosses und entlockte ihnen nach und nach alle Geheimnisse der höfischen Diplomatie.
Ich habe schnell erkannt, dass ich den Makel meiner niederen Geburt nur mit Wissen ausgleichen konnte. Und so stürzte ich mich atemlos in diese fremde Welt, eroberte sie im Sturm und beherrschte ihre Spielregeln nach kurzer Zeit besser als manche der in ihr Geborenen. O ja, ich genoss die sich daraus entwickeln de Macht wie eine Droge. Bald konnte ich mit den Konventionen und Gepflogenheiten des Hofstaats derart versiert umgehen, dass ich mir bereits gestatten durfte, sie zu untergraben. Da man mich als exzellenten Vertreter des Kodex kannte, durfte ich mir erst winzige, dann immer größere Übertretungen erlauben. Alles, was dem Spiel Spannung verlieh, war gestattet.
So wurde ich ein Meister des schönen Scheins, brillant, strahlend – und meiner Falschheit wohl bewusst. Doch im Lauf der Jahre verwischten die Grenzen und ich verlor den Überblick da rüber, wo denn ich und wo die Kunstfigur Theodor begann. Und wenn ich anfangs den Menschen, von denen ich mir Förderung erhoffte, sehr bewusst nach dem Mund redete, war es mir bald zu einer zweiten Natur geworden, meinem Gegenüber genau das zu sagen, was es hören wollte. Ich roch förmlich, wonach es diesem gelüstete, denn ein Mensch dünstet seine Wünsche gleichsam aus. Es ist wirklich befriedigend, das Strahlen in den Augen eines Mannes oder einer Frau zu sehen, die gerade in ihrem tiefsten Wollen bestätigt wurden. Wer es lernt, Menschen auf sich selbst stoßen zu lassen, der hat immer Freunde. Na ja, soweit man in diesem Metier von Freundschaft sprechen kann.
Welch ein Glück, dass ich eines Tages, sehr viel später, die Frau traf, die mich wieder aus dem Strudel der Verlogenheiten herausziehen konnte. All die Jahre habe ich über Liselotte und ihr Ersatzleben gespottet, heute frage ich mich, ob ich nicht auch nur ein Ersatzleben geführt habe. Julia, du weißt das doch. Du kannst doch hinter meine verquollenen Gedanken schauen. Das konntest du vom ersten Augenblick an. Bei dir war ich plötzlich ich – völlig überrascht, dass es so etwas in mir gibt. Julia, wie gut habe ich es bei dir. Julia, ich werde dir noch viel erzählen müssen, damit dieser Brief ihm deutlich macht, was mit mir passiert ist. Aber bevor ich erzähle, lies mir noch ein paar Seiten vor, vielleicht nur ein paar Zeilen. Sie sind so ... so verlockend. Julia, kommst du?
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