Fabian Vogt

Bube, Dame, König


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sein scheint, kann Euch nur die Wahrheit heilen. Ja, ich möchte, dass Ihr erfahrt, wie der König wirklich ist, und dass die Gefühle, die Ihr ihm gegenüber hegt, falsch sind. Ich kann nämlich Hass nicht ausstehen.« Sie nickte ihm auffordernd zu: »Also: Kommt!«

      Der Adlige schüttelte langsam den Kopf. Er redete mehr mit sich selbst als mit der jungen Frau: »Vielleicht hattest du vorhin doch Recht. Es ist alles nicht so einfach, wie ich dachte. Ich kann jedenfalls nicht mehr in das Haus gehen, in dem er liegt. Jedes Mal, wenn ich ihm zu nahe komme, zerbreche ich innerlich. Irgendetwas Fremdes nimmt dann von mir Besitz, das mich Dinge tun und sagen lässt, die ich niemals wollte – die ich zumindest nicht geplant, geschweige denn bewusst gewünscht habe. Es ist, als träte ich in eine andere Welt ein, in der alle meine Verletzungen, Zweifel und Fragen wie fratzenschneidende Dämonen um mich stehen und über mich spotten. Dann fühlt es sich an, als ob genau in diesem Moment mein Schicksal entschieden würde. Und ich ahne, dass ich verlieren werde, gegen mich selbst und gegen die Welt. Dann will ich nur noch fliehen, aber ich weiß nicht, wohin.«

      Isabelle schloss zu Lord Kilmarnok auf: »Hört mir doch erst einmal zu. Vielleicht habt Ihr Euch einfach geirrt. Vielleicht hat man Euch falsch informiert. Wir laufen alle mit Lebenslügen herum. Und die meisten davon entstammen einfach der Furcht vor der Wahrheit. Aber nicht jede Wahrheit schmerzt. Im Gegenteil. Eine Lüge hat immer nur die Macht, die wir Ihr verleihen. Bitte! Kommt! Auch wenn ich Eure Vorbehalte verstehe: Wir können nicht hier im Regen bleiben.«

      Der Adlige, der noch immer das lange Paket in Händen hielt, öffnete die darumgewickelten Schleifen, zog einen langen Gegenstand hervor und hielt ihn der jungen Frau hin. Die wich schnell einen Schritt zurück. Ratlos fragte sie ihn: »Was ist das? Ein Gewehr?«

      Lord Kilmarnok schmunzelte unwillkürlich: »Nein! Das ist kein Gewehr. Das ist ein Schirm, ein Schirm gegen den Regen. Ich habe ihn vorhin in einem Laden gekauft, als ich mich entschlossen habe, zu Fuß zu dir zu gehen. Das ist eine ganz ungewöhnliche neue Erfindung. Du hältst dieses Ding über den Kopf und wirst nicht nass.«

      Vorsichtig nahm ihm Isabelle das lange Gebilde aus der Hand, hob es in die Höhe und stellte sich darunter. Traurig sagte sie: »Es funktioniert nicht!«

      Sie sah so enttäuscht aus, dass der Lord jetzt trotz seiner Not lauthals loslachen musste. Er nahm der jungen Frau den Schirm aus der Hand und öffnete ihn. Dann breitete er die aufgespannte Fläche über sie und beugte sich zu ihr: »Also gut! Erzähl!«

      Er reichte Isabelle schüchtern den Arm. Sie zögerte einen Moment, dann atmete sie zweimal tief, bevor sie sich bei ihm einhakte und langsam mit ihm in Richtung St. James’s Park ging.

      {{{

      THEODOR SCHAUTE DER erdfarbenen Strömung des Rheins hinterher und ließ es zu, dass sich sein Blick nach und nach in den Wellen verfing, bis alles vor seinen Augen zu schwimmen begann. Mit einer trotzigen Geste wischte er die Tränen weg, von denen die erste schon beinah sein schmales Oberlippenbärtchen erreicht hatte. Der siebzehn jährige Student saß in etwa zwei Metern Höhe rittlings auf dem abgespreizten Ast einer großen Eiche in den Auen vor der Stadtmauer Kölns, während die untergehende Sonne über das Wasser sprang und die Luft mit glitzernden Reflexen füllte.

      Vorsichtig versuchte er, eine andere Position zu finden, um seinen im Lauf der Stunden steif gewordenen Körper zu entlasten. Es half nichts. Die Druckstellen blieben. Er warf einen halb flehenden, halb verärgerten Blick Richtung Himmel und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Das Rauschen des Windes nahm zu. Nach kurzem Zögern knüllte er das halb beschriebene Blatt auf seinen Knien zusammen und zog ein neues aus der Tasche, die an seiner Seite hing. Er legte es sorgsam auf das Buch, das ihm als Unterlage diente, und schrieb zum wiederholten Male: »8. September 1708«. Weiter kam er nicht. Süßlich poetische Zeilen schossen ihm wie Kometen durch den Kopf, beglückten seine Seele für einen kurzen Moment und ließen tief vergrabene Wünsche aus ihm hervorbrechen – bis sie in einem Akt freudloser Zensur verglühten. Nicht eine der Ideen genügte seinen Sehnsüchten. Diesmal wollte er endlich Worte finden, in denen sein Hoffen wahrhaftig gegenwärtig wäre, Worte, in denen er irgendwie das Unendliche, das ihn zu sprengen drohte, einfangen konnte, Worte, die wie ein Zauberspruch den Bann lösen und eine veränderte Welt hervortreten lassen würden.

      Das Blatt blieb leer. Falls es solche Zeilen gab, hielten sie sich zumindest in diesem Moment verborgen und verwehrten dem jungen Mann ihre Kraft. Theodor, dessen blonde Locken ihm vom lauen Wind, der das Rheintal heraufzog, immer wieder ins Gesicht geweht wurden, biss so heftig auf seine Schreibfeder, dass sie zerbrach.

      Kraftlos steckte der junge Mann die zerfransten Überreste in die zerklüftete Rinde des Baumes und griff dann mit zitternden Fingern in seine Tasche. Fast zärtlich zog er ein eingewickeltes Kreuz hervor und legte es frei. Es glänzte wie Elfenbein, als es die Sonnenstrahlen einfing. Seine Finger fühlten lange die Formen der Holzschnitzarbeit nach, in die er mit feinen, geschwungenen Buchstaben den Namen »Mariana« geritzt hatte. Die Enden des Kreuzes waren mit metallenen Beschlägen versehen, deren winzige Nägel über die glatte Oberfläche des Holzes zu wachen schienen. Ein Lächeln flog über das Gesicht Theodors; so verträumt war er, dass seine Augen bald nur noch in die Unendlichkeit starrten.

      »Theodor! Bist du hier?«

      Der Gerufene steckte das Kreuz blitzschnell in seine Weste, verbarg das Blatt mit den vergeblichen Liebesmühen zwischen den Seiten seines Buches und öffnete es an einer beliebigen Stelle.

      »Theodor. Was machst du denn da oben? Wir warten auf dich!«

      Es war, als klettere die Antwort erst mühsam den Baum herunter, ehe sie sich dem Frager zuwandte. Sie klang wie ein Seufzen: »Hallo, Ludwig. Ich lese.«

      Der leicht schielende, schwarzhaarige Junge, der mit Theodor am Kölner Jesuitenkolleg studierte, zog seine Jacke aus, warf sie gewollt lässig über die Schulter und blickte hinaus auf das Wasser: »Was hältst du davon, runterzukommen und anständig mit uns zu feiern? Es ist nicht gerade höflich, was du hier tust. Du bist offiziell eingeladen.«

      »Ich will nicht.« In der Stimme Theodors schwang Trotz mit: »Außerdem ist Plutarch viel zu aufregend.«

      Ludwig hob langsam den Kopf: »Wie bitte? Du liest lieber antike Heldengeschichten, statt selbst welche zu erleben?« Er fing an, heftig zu winken: »He, es gibt ein Fest. Gute Laune, guter Wein, fantastisches Essen. Wann bekommen wir das schon? Und du Dickschädel beschäftigst dich mit den großen Taten heroischer Männer.« Er lehnte sich zurück, um hoch in den Baum schauen zu können, und schirmte dabei seine Augen gegen die Sonne ab: »Los, genug jetzt von Alexander dem Großen, Cäsar und Cicero. Vergiss die Toten und komm runter!«

      Theodor schaute unverwandt in das Buch. Dozierend sagte er: »Du weiß selbst, dass Plutarch überhaupt keine Heldensagen verfasst hat. Er schreibt ganz klar: ›Ich erzähle keine Geschichten, sondern Lebensbilder, weil sich der Wert eines Menschen nicht in seinen großen Taten ausdrückt. Oft wirft eine unbedeutende Handlung, ein einzelnes Wort oder ein Scherz ein schärferes Licht auf den Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten, Zusammenstöße der mächtigsten Heere oder Belagerungskriege um einflussreiche Städte.‹« Endlich erbarmte er sich und schaute nach unten: »Ludwig, es geht um Vorbilder, um die wesentlichen Charakterzüge großer Persönlichkeiten. Bei Plutarch kann man lernen, was bedeutende Männer auszeichnet. Du siehst: Gerade du könntest von dem Priester aus Delphi einige Nachhilfe gebrauchen.«

      Ludwig setzte sich mit dem Rücken gegen den Baum und streckte genüsslich die Beine aus, weil ihm die Streitgespräche mit Theodor allzu vertraut waren. Den Tonfall Theodors nachahmend, sagte er: »Bravo, du weiser Mann. Du kannst es ja sogar auswendig. Was für ein gelehriger Schüler. Aber vergiss nicht: Plutarch war nur sehr kurz in Delphi. Die meiste Zeit hing er in dem kleinen, elendigen Dorf Chaironeia in Boiotien herum. Offensichtlich haben ihm all seine Einblicke in das Wesen großer Heroen nicht besonders viel gebracht. Mann, Theodor, du bist ein Träumer.« Er unterdrückte ein hämisches Lächeln: »Ich hätte übrigens noch einen Anreiz für dich. Vielleicht möchtest du ja wissen, was der liebe Graf und Mariana gerade treiben.«

      Bevor ihn das Buch schmerzhaft im Rücken traf, hatte sich Ludwig schon