Fabian Vogt

Bube, Dame, König


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verheerenden Sog. Mariana dagegen reichte die Stoffbahn sanft lächelnd ihrer Schwester und sah den jungen Mann fragend an. Doch ehe sich die Blicke der beiden begegnen konnten, hatte sich der spanische Graf schon zwischen sie geschoben und den Arm des Mädchens ergriffen: »Liebste Mariana! Ihr habt mir den ersten Tanz versprochen. Ihr erlaubt doch, Baron von Neuhoff?«

      Er gab den auf einer Bank sitzenden Musikanten ein Zeichen, zog die schlanke Frau an sich und drehte sie leidenschaftlich im Kreis.

      Theodor begab sich mit Ludwig zur Festtafel, begrüßte seinen Professor und die übrigen Gäste und setzte sich mit einem Glas Rotwein in die Nähe der kleinen Streichergruppe, die gerade ein Menuett anstimmte. Wortlos stippte er ein Stück Brot in den Wein und steckte es gedankenverloren in den Mund. Ludwig hatte inzwischen Blick kontakt mit Eva aufgenommen und beachtete den Freund erst, als der anfing, mit dem Absatz Löcher in die Wiese zu bohren: »Was ist?«

      Theodor druckste: »Guck sie dir doch an: Ich weiß, wie gern sie tanzt. Sie hat es mehrmals erwähnt. Und dieser Dummschwätzer von Graf kann es einfach zu gut. Guck doch, wie er sich bewegt. Kein Wunder, dass sie strahlt. Frauen lieben gute Tänzer.«

      Ludwig stieß ihm aufmunternd in die Seite: »Dann fordere sie doch auf!«

      »Ich? Mein Gott, ich kann überhaupt nicht tanzen. Jedenfalls nicht so.« Theodor zupfte nervös an seiner Jacke: »Ich kann gerade mal den Takt halten. Aber er, er kennt Tausende von Figuren. Ich weiß nicht, wie man richtig führt, und ich weiß nicht, wann und warum man den Grundschritt variiert. Wahrscheinlich verliere ich ohnehin alle Kraft, wenn ich ihr so nah bin.« Ein verächtliches Keuchen kroch aus seinem Mund: »Außerdem hast du ja gehört, was sie gesagt hat. Ich stinke. Ich stinke! Kann eine Frau einem Mann etwas Schlimmeres sagen? Es ist identisch mit ›unattraktiv, abstoßend, eklig, billig, ungepflegt, viehisch und ärmlich‹. Sie hat mir vor dem Grafen gezeigt, wo mein Platz ist: beim Pöbel. Und er, er darf ihre Wange mit der seinen berühren, ihren Rücken spüren und ihre Hand halten. Warum?«

      Ludwig schnitt Eva eine Grimasse, die diese mit gebleckten Zähnen und rollenden Augen erwiderte. Dann nickte sie kurz mit dem Kopf Richtung Tanzfläche. Ludwig wollte aufstehen, aber Theodor hielt ihn am Rock fest. Er flüsterte: »Da! Siehst du! Guck es dir an: Jetzt tuscheln sie. Und schauen dabei andauernd zu mir her. Sie machen sich über mich lustig, sie amüsieren sich über den kleinen Stinkebaron. Hast du dieses Grinsen des Grafen bemerkt? Wie beschämend. Ich hätte nie gedacht, dass Mariana so hinterhältig ist. Ich kann doch nichts dafür, dass ich nur eine Jacke besitze. Bitte, Ludwig, lass mich jetzt nicht allein.«

      Der Freund legte ihm die Hand aufs Knie: »Theodor! Ich bin beim Tanzen nur fünf Meter von dir entfernt – und ich komme gleich wieder. Weißt du was: Wenn das heute klappt, dann werde ich Eva bestimmt küssen dürfen. Und vielleicht erlaubt sie mir ja sogar einen kleinen Griff in ihren Ausschnitt. Mannomann, sind das herrliche Brüste. Sei ehrlich: Hätte Mariana dich erwählt, wärst du doch jetzt auch in ihren Armen.«

      Er stand auf und lief zu dem aufreizend strahlenden Mädchen, das schon auf ihn wartete. Neckisch zog er die Nase nach oben und sah für einen Moment wie ein Wiesel aus. Eva schmiegte sich an ihn. Theodor aber konnte seine Augen nicht von Mariana und dem Grafen wenden, die leichtfüßig über die Wiese flogen, während er sich an seinem Weinkelch festhielt. Er fühlte sich immer unbehaglicher, versuchte mehrmals unauffällig, seinen eigenen Geruch wahr zunehmen, und entdeckte, dass er sich der aufsteigenden Verzweiflung nicht entziehen konnte. Wie eine Krankheit kam sie tief aus seinem Inneren, schlich sich in alle Glieder und verdrängte nach und nach die letzte Hoffnung. Er wollte schreien, doch es war keiner da, zu dem er hätte rufen können. Und in seinen Gedanken trugen zwei Schreckensbilder einen schmerzhaften Kampf aus: Da stritten »Mariana und der Graf, Wange an Wange« gegen »Mariana und der Graf, wie sie leise und erregt über ihn sprachen«. Theodor musste seine ganze Kraft aufbieten, damit ihm nicht wieder die Tränen in die Augen traten; sie flossen stattdessen in seine Seele.

      Als er mit verhangenem Blick auf die Tanzfläche sah, löste sich Mariana gerade aus den Armen ihres Tanzpartners, der sie offensichtlich zu etwas ermutigte, und nickte schelmisch in seine Richtung, woraufhin der Graf äußerst süffisant lächelte. Theodor wurde von einer würgenden Angst gepackt, die mit jedem Schritt wuchs, den die junge Frau auf ihn zu machte. Er erhob sich, als sie vor ihm stand, und hörte sie wie in weiter Ferne sprechen:

      »Baron! Wie soll ich denn das verstehen? Erst kommt Ihr zu spät und dann fordert Ihr mich nicht einmal auf. Ich habe noch niemals mit Euch getanzt. Kommt, lasst es uns probieren! Zeigt mir, wie viel Taktgefühl Ihr besitzt!«

      Der junge Mann vernahm die Worte, doch in seiner Fantasie verzog sich der fröhliche Mund der erregten Frau zu einer triumphierenden Fratze, die ihn vor allen der Lächerlichkeit preisgab. Sie konnte es nicht ernst meinen. Es war, als filtere seine Angst alle Schönheit aus dem Leben, er musste schlucken und durfte doch nicht. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um und lief vor seinen Tränen davon.

      Es war längst dunkel geworden, als Theodor die aufsteigende Gasse zum Haus des Professors erreichte. Er war stundenlang ziellos durch die Rheinauen gezogen, verletzt und mit der entschlossenen Wut eines Menschen, der sich in die Enge getrieben fühlt. Ihn fröstelte, denn mit dem Mond stieg an diesem 8. September auch die erste herbstliche Kälte aus den Wiesen und erkundete klamm die Innenstadt. Weil die Fledermäuse auf der Promenade immer frecher um seinen Kopf geflogen waren, hatte sich der Baron der Frage entzogen, die ihn verfolgte: »Wie sollte ich Mariana jemals wieder unter die Augen treten?« Seine Verzweiflung war im Lauf der Stunden einer betäubenden Leere gewichen, die sich festzusetzen drohte.

      Als Theodor den Schlüssel zur Haustür aus der Tasche zog, hörte er hinter sich ein verhaltenes, schabendes Geräusch. Instinktiv zog er seinen Degen und ging in den Grundschritt. Ein leises Pfeifen zog durch den Vorgarten. Dann kam eine ruhige Stimme aus der Dunkelheit: »Lieber Baron von Neuhoff. Nicht so hitzig.« Der Sprecher sog die frische Luft ein, als könne er sich daran berauschen. Weich sagte er: »Ihr hättet auf dem Fest etwas mehr Feuer zeigen sollen. Jetzt und hier ist es überflüssig.« Theodor entdeckte unter dem Kirschbaum die aufglimmende Spitze einer Zigarre und erahnte in der winzigen Lichtquelle die Umrisse des Grafen. Der löste sich langsam aus dem Dunkel und hob grüßend die Hand: »Ihr habt Euch heute ziemlich töricht benommen, Baron. Und Mariana ...«

      »Schweigt!« Wilder Hass stieg in dem Angesprochenen auf. Erregt ließ Theodor den Schlüssel zurück in die Tasche gleiten und zog seine Jacke aus: »Das genügt!« Er presste die Sätze hervor: »Erst beleidigt Ihr mich, indem Ihr verkündet, dass ich rieche, und jetzt nennt Ihr mich einen Dummkopf. Glaubt Ihr, dass Euer Titel Euch alle Unverschämtheiten erlaubt? O nein! Zieht Euren Degen!«

      Der spanische Graf wich zurück. Seine Bewegungen zeigten erstmals Unsicherheit. Bewusst beherrscht sagte er: »Baron, hängt nicht an die Fehler von heute Abend noch einen weiteren dran. Ihr habt Euch da in etwas verrannt. Es geht hier doch gar nicht um meine möglicherweise etwas saloppen Worte. Das war ein Spaß, den Ihr mir sicher vergeben werdet. Ich bitte Euch: Lasst uns in Ruhe darüber sprechen, was Mariana und ich ...«

      Theodor ließ seinen Degen mehrmals durch die Luft kreisen. Die Worte sprangen jetzt unter größter Anspannung aus seinem Mund: »Ich wusste es: Ihr seid ein Feigling, ein Prahlhans und ein Charakterschwein. Ohne Euch wäre die Welt ein wesentlich schönerer Ort. Schlagt Euch mit mir!«

      Noch während er sprach, näherte sich der Baron seinem Gegner, und nur Sekunden später trafen die Klingen aufeinander.

      Da der Graf sich offensichtlich nur verteidigte und nicht ernsthaft kämpfte, geriet Theodor immer mehr in Rage. Verbissen hieb er auf den Adligen ein, der, während er die Angriffe parierte, immer wieder energisch bat, den Kampf zu beenden. Doch der beleidigte junge Mann legte all den angestauten Zorn in seine Hiebe und ließ sich nicht beirren. Minutenlang waren nur noch das Ächzen der Fechter und das harsche Klirren der Degen zu hören. Je weiter der Baron den Grafen in die Dunkelheit unter den Bäumen trieb, desto schwerer wurde es für beide, die Ausfälle des anderen überhaupt zu sehen.

      Vom metallenen Schlagen der Waffen geweckt, entzündeten mehrere Bewohner der nahe liegenden Häuser Kerzen, doch als sich auch noch eine Wolke vor