Wo war sie? Der Raum war in rötliches Licht getaucht. Um sie zerknüllte Kissen. Sie selber halb nackt, bis zur Hüfte in ein Badetuch gewickelt. Sie hatte die Nacht auf dem Sofa verbracht! Ihre Füße tasteten über den rauen Stoffbezug. Ihr Herz schlug wie wild, der Mund war ausgedörrt, der Hals brannte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff: ein Traum. Sie hatte nur geträumt!
Der Mann zwingt sie zu springen, und obwohl die Aussichtsplattform gut besucht ist, greift niemand ein. Zwei Paare stehen eng umschlungen und küssen sich, Kinder wirbeln wie wild gewordene Kreisel zwischen den Erwachsenen herum und spielen Fangen. Direkt neben ihr hantiert ein dicker Mann gelassen mit einem imposanten Teleobjektiv, während ihr Mörder, der kein Gesicht hat, näher rückt und sie an den brüchigen, ungesicherten Rand drängt: »Spring!«
Rostige Eisenteile ragen ins Leere. Sie sieht sich – plötzlich von außen – an einem Balken hängen bleiben, über dem Abgrund baumeln wie in einem Horrorfilm. Sieht Straßen, Autos, Menschen unter sich, bevor ihr Blick verschwimmt. Ein Dröhnen in den Ohren, sie hofft, ohnmächtig zu werden, spürt, wie der Stoff reißt. Dann fällt sie – und schreit. Schreit.
Sie träumte sonst nie. Legte sich abends hin und schlief wie ein Stein. Sprang morgens vergnügt aus dem Bett. Alles war durcheinander. Sie musste es wieder in den Griff kriegen, etwas dagegen tun.
Nun stieg langsam die Sonne empor. Der beeindruckende Scherenschnitt einer Dachlandschaft mit Kränen vor flammendem Rot. Sie wickelte sich in das Badetuch und ging zum Fenster. Schaute auf die stille Straße hinunter.
Sie war ständig allein. Kein Wunder, dass das ganze Zeug in ihren Schlaf kroch und sie verrückt machte. Ich sollte endlich ausgehen, Leute kennenlernen. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt.
Sie lief hinunter und holte die Zeitungen. »Alle drei?«, fragte der Trafikant. Sie nickte. Kaufte in der kleinen Bäckerei nebenan Milch und ein Brioche, machte Kaffee und setzte sich an den Tisch am Fenster.
Die Sonne streichelte ihren linken Oberarm, wanderte langsam über die Schulter und legte sich auf ihren Nacken. Diese Wohnung war ein Glücksgriff, ihr ganz persönlicher Lottogewinn. Lena kaute, genoss die Wärme und sog den Kaffeeduft ein, nahm hin und wieder einen Schluck, während sie akribisch Seite um Seite die Zeitungen durchsah und nach einer Toten fahndete, von der sie hoffte, dass es sie nicht gab.
»Leiche gefunden.« Ihr Herzschlag setzte aus. »Tote lag tagelang in Wohnung. Keiner der Nachbarn hat etwas bemerkt.« Porzellan klirrte auf Porzellan, der Kaffee ergoss sich über die Seiten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Die Frau war alt, der Fundort eine Villenetage im Botschaftsviertel.
Wenn das so weiterging, war sie über kurz oder lang ein Nervenbündel. Niemand hat gemordet. Es gibt keine Tote. Alles wird gut. Es war, als würde man sich selber in den Arm nehmen. Durch einen finsteren Wald stolpern und sich lautstark versichern, dass man keine Angst zu haben brauchte. Ungeheuer gibt es nicht!
Sie fuhr ihr Notebook hoch, löschte eine Menge Spam und schickte eine E-Mail an Steffi:
geht’s dir gut, gibt’s schon fotos? die vernichtung der beweismittel ist abgeschlossen.;-) die belohnung hatte es in sich.:-*, lena
Dann klappte sie den Laptop zu, knüllte die nasse Zeitung zusammen und stellte ihre Tasse in den Geschirrspüler. Sie brachte den Müll hinunter, bezog das Bett neu und startete eine Waschmaschine. Um halb elf verließ sie das Haus.
Sie hatte Steffi erst vor kurzem wiedergetroffen. An einem trüben, regnerischen Tag Anfang März standen sie einander plötzlich an einem der Wühltische im Großkaufhaus gegenüber.
»Steffi?«
Es war nicht zu fassen: Ihre Bekannte schob langsam, ohne sich im Geringsten um ihre Umgebung zu kümmern, ein cremefarbenes Spitzenhemdchen in die Innentasche ihrer Jacke und zog seelenruhig den Zipp zu. Sie stutzte, riss die Augen auf, strahlte sie an und fiel ihr um den Hals.
»Hey, was machst du denn hier? Wie geht’s dir? Seit wann bist du in Wien?« Sie duftete nach einem teuren Parfum. »Ich freu mich so, dich zu sehen. Du bist nicht mehr mit Elias zusammen, hab ich gehört? Das war immer cool mit euch beiden.«
»Ich arbeite hier«, sagte Lena hölzern und sah sich hektisch um. Die war verrückt. Überall waren Kameras installiert. Gleich würden der Detektiv oder Frau Schauer, die sich einen Sport daraus machte, Ladendiebe zu jagen, neben ihnen auftauchen und die Polizei rufen. Und dann? Oh nein, man wird uns für Komplizinnen halten! Sie konnte unmöglich da stehen bleiben.
»Ich dachte, du arbeitest im Spital?« Steffi hatte die Ruhe weg. Sie zog ein Spitzenhöschen aus dem Wäschehaufen und hielt es prüfend hoch. »Hübsch, oder?«
»Lass das. Hier sind überall Kameras.«
»Komm, entspann dich.« Steffi warf das Spitzending achtlos zurück. »Ein bisschen Nervenkitzel, ich brauch das. Mich erwischt schon keiner.«
»Kommst du öfter her? Wie lange machst du das jetzt schon?«
»Willst du den Detektiv auf mich hetzen?« Steffi lachte. »Ich bin das erste Mal hier, Lena, ich schwör’s. Wollte nur einmal schauen … Lena, was ist denn? Hey, tut mir leid.« Sie legte ihr den Arm auf die Schulter. »Ich … es ist wie ein Spiel, weißt du. Ein Kick. Stöbern. Shoppen. Hin und wieder was mitgehen lassen.«
»Du bist noch nie erwischt worden?«
»Einmal, vor einem halben Jahr. Zu Hause. War ziemlich peinlich. Die Sache wurde aber außergerichtlich geregelt. Mein Vater hat sich darum gekümmert. Du weißt ja, er kennt Gott und die Welt. Und du? Seit wann bist du in Wien? Wo wohnst du? Du lieber Himmel, ist das schade, dass wir uns erst jetzt treffen. Es ist unglaublich öd, allein wegzugehen. Mein ganzer Freundeskreis ist ja in Salzburg. Wir hätten … «
»Frau Lena, Sie können jetzt in die Pause gehen! Dreißig Minuten.«
Sie fuhr herum. Die Schauer! »Danke«, stammelte sie und hielt die Luft an. Jetzt! Aber ihre Chefin eilte weiter.
Steffi redete immer noch auf sie ein: »Meine Eltern haben mich zu einer Reise überredet. Ich fliege Anfang April. Ja, allein. Sag, Lena, hast du Lust auf einen Kaffee?«
»Nein, ich … okay«, sagte Lena matt. »In zehn Minuten. Gegenüber. Ich muss mich noch umziehen.« Sie wollte nicht dabei sein, wenn man Steffi ins Büro bat und höflich ersuchte, ihre Tasche zu öffnen und die Jacke auszuziehen.
Nichts dergleichen geschah. Als sie das Café betrat, saß ihre Bekannte bereits vor einem Latte und winkte ihr fröhlich zu. »Ich hab schon bestellt. Melange, oder?« Lena nickte.
Da hatte sie zum ersten Mal von der Wohnung gehört.
»Die steht leer, während ich weg bin. Meine Eltern wollen bei Gelegenheit nach dem Rechten sehen. Ich muss noch aufräumen, die trifft sonst der Schlag. – Ein paar Monate, halbes Jahr ungefähr, vielleicht länger. Mal sehen. Mein Vater hofft, dass ich danach weiß, was ich will. Also beruflich. Und dass ich die Sache da«, sie klopfte auf ihre Jacke, die neben ihr auf der Sitzbank lag, »in den Griff kriege. Wenn du magst, wenn dich das Chaos nicht stört, kannst du einziehen. Ja, sicher. Das ist es!«, rief Steffi enthusiastisch. »Dann spare ich mir den Stress mit den Eltern. Ich bin mitten in den Reisevorbereitungen. Momentan sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. – Die Wohnung gehört mir«, nahm Steffi ihren Einwand vorweg. »Du zahlst die Betriebskosten weiter. Machst ein bisschen sauber. Räumst auf. Wenn dir irgendwas von meinen Klamotten gefällt«, sie lachte und zwinkerte Lena zu, »bedien dich. Ich mach mir nichts aus dem Zeug. Komm, Lena, komm, sag ja.«
Nach kurzem Zögern schlug sie ein.
Lena trödelte und blinzelte ins Helle. Sie hatte noch Zeit. Sollte sie gleich hingehen? Nachsehen? Sich überzeugen, dass alles in Ordnung war. Kein Mord. Kein Unfall. Keine Tote im Hof.
Ein bisschen Detektivarbeit. Vielleicht war die Tür ja diesmal offen? Sie konnte hineinschlüpfen, wenn jemand das Haus verließ. Sie wechselte die Straßenseite. Sie würde klingeln. Ich muss etwas abgeben. Die Postkästen kontrollieren. Ob