Anne Goldmann

Lichtschacht


Скачать книгу

wartete.

      »Mein Angebot steht. Wenn Sie für mich arbeiten wollen … «

      »Danke. Ich überlege es mir.« Die Frau schien es eilig zu haben. »Bis nächste Woche dann.«

      »Überlegen Sie nicht zu lange.«

      Leichte schnelle Schritte. Die Tür flog auf. Lena sah einen Mann in Shorts, um die vierzig mit rasierter Glatze und reichlich Muskeln. Er nickte ihr zu und musterte sie.

      Sie grüßte ihn, ohne eine Miene zu verziehen, trat zur Seite und lächelte die Frau an. Sie war schön. Ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen. Mittelscheitel, die glatten blonden Haare nachlässig hochgesteckt.

      Die Frau hielt den Blick gesenkt, während der Lift nach unten summte und schließlich mit einem Ruck stehen blieb. Sie wühlte in ihrer Tasche, zog ein Tuch hervor. Einen roten Schirm. Ihre Blicke trafen sich. Große blaue Augen. Ein scheues Lächeln. »Auf Wiedersehen.«

      »Auf Wiedersehen.« Scheißkerl, dachte Lena und zog energisch den Zipp ihrer Regenjacke hoch.

      Drei Tage später sah sie die Frau in der Fußgängerzone wieder. Sie schlüpfte direkt vor ihr aus dem Seiteneingang eines Nachtlokals, versperrte die Tür und hastete, ohne nach links oder rechts zu blicken, die Straße entlang. Ihre Schuhe klackten auf dem Asphalt. Sie hatte die Haare mit einer Spange hochgesteckt. Eine Strähne wippte bei jedem Schritt. Sie trug Jeans und eine große graue Tasche über der Schulter. Lena sah ihr nach, bis sie im Gewühl der angrenzenden Einkaufsstraße verschwand.

      ||

      Er hatte ihr versprochen, sich darum zu kümmern. Die Tote wegzuschaffen. Er dachte gar nicht daran, aber sie hatte ihm wie immer geglaubt.

      Es besteht keine Gefahr, dass jemand die Leiche findet, überlegte er. Kein Schwein zwängt sich ohne Grund durch das schmale Klofenster, um den Lichthof zu inspizieren. Wer da zu liegen kommt, bleibt liegen. Er würde also den Teufel tun.

      »Ruf mich nicht an. Das ist riskant. Ich sag dir Bescheid, wenn alles erledigt ist.«

      Sie dreht ihren Ring am Finger. Nickt. Er kann ihren Blick nicht deuten. »Wo bringst du sie hin?«

      »In den Wald. Ich … «

      Sie unterbricht ihn sofort. »Du darfst sie nicht einfach ablegen. Die Tiere … « Sie zögert. »Ein Grab«, stammelt sie. »Du wirst sie doch begraben?«

      »Jaaa.«

      »Versprich es mir.« Sie packt seine Hände. »Versprich …!«

      Er hätte es wissen müssen: Seit dieser Sache klebt sie an ihm. Ständige Anrufe, der Wunsch, ihn zu treffen. Zu reden. Er wird sie nicht mehr los. Immerhin: Die Medikamente machen sie ruhiger. Sie wirkt fahrig, aber weniger hysterisch als zuletzt.

      »Vielleicht solltest du ein paar Tage wegfahren«, schlägt er vor. »Bis alles vorbei ist. Nimm dir Urlaub.«

      »Und du?«

      »Was meinst du?« Manchmal versteht er sie nicht.

      »Warum machst du das alles?«

      Ich werde verdammt viel Geld haben, wenn ich den Schein einlöse, denkt er. »Ich will nicht, dass du in Haft kommst. Dass dein Leben vorbei ist«, sagt er sanft. Er kann ihre Angst an- und ausknipsen. Mit zwei, drei Worten. Ihre Schuldgefühle und ihre Dankbarkeit. Es beginnt ihn zu langweilen. »Griechenland«, sagt er müde. »Irgendeine kleine Insel. Du kannst spazieren gehen, fotografieren, malen. In der Sonne liegen. Du kommst auf andere Gedanken. Und wenn du zurück bist, ist alles geregelt.«

      Sie zögert. »Ich kann doch nicht wegfahren, während du … ich kann dich doch jetzt nicht allein lassen.«

      Er hätte sie vom Dach stoßen sollen! Dem ersten Impuls folgen. »Genug! Es ist genug, hörst du! Es reicht!« Er fängt an zu schreien. Packt sie an den Oberarmen, schüttelt sie und brüllt, bis er heiser ist und sie heult.

      »Entschuldige bitte«, schluchzt sie, »entschuldige.«

      Er stößt sie weg. Sie taumelt, knallt gegen ihren Bücherschrank, verzieht das Gesicht und reibt sich die linke Schulter. Recht geschieht es ihr, denkt er. Sie rutscht langsam nach unten und kommt auf dem Boden zu sitzen. Er blickt auf ihren Scheitel, die nackten, nach außen gedrehten Beine. Sie hat die Arme vor der Brust gekreuzt und wiegt sich ganz leicht vor und zurück.

      »Ich hab auch nur Nerven. Du provozierst mich. Machst du das absichtlich? Was? Was sagst du?« Er zerrt an ihrem Arm und stößt sie dann von sich.

      Sie reißt die Augen auf. »Ich wollte … «, piepst sie.

      »Du wolltest was?« Er wird lauter. »Es ist schwer genug. – Kathrin … « Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht und verharrt eine Weile so. Kathrin ist nur noch ein Name.

      Sie zittert. Will etwas sagen, schüttelt dann den Kopf. Mit ihrer langen hellen Mähne wirkt sie zerbrechlich und trotz der geröteten Augen schön. Sie neigt den Kopf. Dichte Wimpern. Alabasterhaut. Er greift ihr ins Haar. Zwingt sie, ihn anzusehen. Löst den Gürtel.

      »Nicht«, flüstert sie. »Nicht.« Er lächelt. Er knöpft ihr die Bluse auf, streicht mit den Fingerspitzen ganz leicht über ihren Brustansatz, zieht sie näher zu sich heran. Sie wehrt sich ein bisschen.

      Eine halbe Stunde später verlässt er die Wohnung.

      ||

      Über Nacht war es Sommer geworden. Lena lag auf einer bunt gestreiften Decke in der Wiese. Flugzeuge tauchten durch bauschige Wolken und hinterließen eine sich kräuselnde, langsam zerfließende Spur im kitschigen Blau. Der Wind strich durch die Baumkronen und über ihre nackten Arme. In einiger Entfernung saßen Großfamilien beim Picknick, spielten Kinder Fangen, schmiegten sich Paare aneinander. Sie hatte den Park durch Zufall entdeckt: einen englischen Landschaftsgarten mit Bäumen, Teichen und exotischen Pflanzen. Unweit der Liegewiese gab es einen Kleinkinderspielplatz, einen Kiosk und einen Streichelzoo. Auf dem Fußballplatz tobten ein paar Halbwüchsige. Bälle prallten auf den harten Boden und gegen die Gitter des Käfigs. Sie schloss die Augen. Lachen, Schreien und Quietschen vom Spielplatz. Es roch nach Gras, nach Sonnenöl und Sonntagsbraten. Nach Staub und süßem Klee. Bienen summten.

      Erinnerungen an die Kindersommer im Freibad wurden wach. Fast vermeinte sie, das stark gechlorte Wasser zu riechen. Pommes frites. Wassereis mit Himbeergeschmack. Sie wartete auf das schrille Pfeifen des Bademeisters, mit dem er die Rabauken zur Raison brachte, die sie heimlich bewundert hatte, weil sie alles probierten, was verboten war. Sie war hingerissen von den Wasserspringern. Einmal, als sie schon leidlich schwimmen konnte, war sie auf den Turm geklettert, rasch, ohne ihrem Vater etwas zu sagen, ohne nachzudenken, ohne hinunterzusehen, und gesprungen – um sich zu beweisen, dass sie es auch konnte. Um es hinter sich zu haben. Der Aufprall nahm ihr die Luft. Sie ging unter wie ein Stein, schluckte Wasser, hustete, geriet in Panik. Riss die Augen auf. Sie sah strampelnde Beine, Badehosen, bekam einen Tritt gegen die Hüfte, einen Stoß gegen die linke Schulter, trudelte, tauchte auf – und schnappte nach Luft. Sie würgte, keuchte. Ihr Hals brannte. Rotz lief ihr aus der Nase, die Ohren dröhnten. Dann setzten die Freibadgeräusche wieder ein. Langsam schwamm sie zum Beckenrand und klammerte sich daran fest, bis das Zittern nachließ und ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Als sie den Freischwimmerschein machen sollte, verfiel sie in Panik und sperrte sich in der Umkleidekabine ein. Sie schämte sich ihrer Angst, aber sie gab nicht nach. Schließlich nahm der Vater sie aus dem Kurs. Es dauerte lange, bis sie wieder ins Wasser ging. Sie blieb eine Sonntagsschwimmerin.

      Sie drehte sich auf den Bauch und streckte sich. Die Sonne machte sie müde. Sie hörte Krähen zetern. Das schnarrende Zirpen einer einsamen Grille. Kinderlachen aus großer Entfernung. Langsam verschwamm die Geräuschkulisse. Sie dämmerte ein.

      Ein harter Schlag gegen den Kopf, ein dumpfer Schmerz. Benommen rappelte sie sich auf und tastete mit der Hand ihren Hinterkopf ab. Mit dem Blick die Umgebung. Um sie herum immer noch Sommeridylle. Spielende Kinder, zwei junge Familien beim Picknick. Staubwolken und halbnackte Spieler im Fußballkäfig. Vor ihr im Gras lag eine Frisbeescheibe.

      Ein