Matthias Falke

Phalansterium


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der klassischen Pilgerrouten darstellte. Hier heuerten die Pilger Führer, Träger oder Lasttiere an. Hier versorgten sie sich mit Lebensmitteln und festem Schuhwerk. Es gab eine Art Hauptplatz, eine natürliche Halle unter einem breitschattenden Bodhibaum, wo ein paar Männer herumlungerten und ihre Dienste anboten. Es gab auch einen Verkaufstand, wo die Pilger und die Einheimischen sich mit Obst, Gemüse, Reis und Gerstenmehl versorgen konnten. Wir verschafften uns einen Überblick über das Angebot an Waren und Dienstleistungen, kamen aber noch nicht zu einem Abschluss. Wir mussten uns erst darüber klar werden, was wir nun hier anfangen wollten. Das eine aber wussten wir: Wir wollten allein bleiben. Den ortskundigen Guides, die sich uns unterwürfig präsentierten, mussten wir daher eine Absage nach der anderen verpassen, obwohl sie uns in den schaurigsten Tönen die immergleiche Mär von den versprengten Laya-Soldaten erzählten, die angeblich noch das Hinterland unsicher machten. Nachdem wir zum zehnten Mal auf unsere Offizierspistolen gedeutet hatten, änderten sie ihre Strategie und berichteten mit aufgerissenen Augen und verzerrten Mündern von wilden Tieren, giftigen Pflanzen, Lawinen, Erdrutschen und anderen Gefahren, die das Gebirge für uns bereithalte. Irgendwann wurde es uns zu dumm. Wir kehrten zu unserer Unterkunft zurück.

      Wir blieben mehrere Tage in dem beschaulichen Weiler. Allmählich begannen wir uns in der bescheidenen, aber liebenswürdigen Pension einzuleben. Wir mussten unsere Körper an diese Welt akklimatisieren. Die Schwerkraft war geringer, die Luft wesentlich dünner als der Standard, den wir gewohnt waren. Und auch unsere Seelen bedurften einiger Zeit der Anpassung. Wie es war, in einem Bett zu schlafen! Unter normalen atmosphärischen Bedingungen zu leben. Keine Entscheidungen treffen zu müssen und nicht permanent in Lebensgefahr zu sein! Mit Beginn der zweiten Woche stellte ich eine tiefe Entspannung bei mir fest.

      Auch mit Jennifer ging eine Wandlung vor. Sie wurde ruhiger. Sie konnte eine Viertelstunde lang da sitzen, ohne mit dem Fuß zu wippen und Pläne zu schmieden, einfach nur so.

      »Was denkst du?«, fragte ich dann manchmal

      »Es ist seltsam«, sagte sie, ohne mich anzusehen, »aber ich will mit dir zusammen sein.«

      »Ich bin da.«

      »Wir waren so lange getrennt.«

      »Spielst du auf alte Geschichten an?«

      »Nicht, was du meinst. Ich habe einfach nur Sehnsucht nach dir.«

      »Ich bin da«, wiederholte ich.

      »Lass uns nach vorne schauen, lass uns den Augenblick leben, lass uns diese paar Jahre genießen, die uns vielleicht noch bleiben.«

      »So kenne ich dich gar nicht.«

      »Du weißt, worum es geht.«

      »Ich weiß es.«

      »Es ist keine Sache der Zeit, nichts von Tagen oder Wochen oder Monaten.«

      »Du hast alle Zeit der Welt.«

      »Kommst du mit mir?«

      »Wohin du willst. Aber ich glaube, ich weiß schon, wohin es dich zieht.«

      »Ich würde gerne eine Pilgerfahrt unternehmen.«

      »Du hast die Warnungen gehört!«

      »Es ist eine ganze Welt, und ich kenne die Seitentäler und Klöster.«

      »Wie du meinst. Du willst nach Loma Ntang?«

      »Auch. Aber ich will zu Fuß dorthin gehen.«

      »Durch diese schreckliche Schlucht?«

      »Nicht durchs Kali Gan. Es gibt auch andere Wege, längere, aber sanftere Wege, einsame Täler, abgelegene Dörfer, menschenleere Landschaften.«

      »Klingt verlockend.« Ich dachte an die kilometerhohe Mauer aus Fels und Eis, die scheinbar unüberwindlich hinter dem Dorf aufragte. Aber ich wusste, dass es Schleichwege gab, uralte heilige und geheime Pfade. Das gewundene, tief eingesägte Tal des Masyan! »Was immer du willst!«

      »Halt mich fest, Frank!«

      Sie wurde immer weicher. Etwas in ihr war zerbrochen. Ich ertappte sie dabei, wie sie leer vor sich hinstarrte. Die Geiselhaft bei den Zthronmic hatte etwas in ihr angerichtet, dem sie sich bis jetzt nicht hatte stellen können. Die unsichtbare innere Wunde zehrte und fraß an ihr, sie vergiftete ihre Seele, wenn sie sie nicht dem hellen Licht ihres Bewusstseins aussetzte und ein für allemal verödete. Aber es hatte keine Gelegenheit dazu gegeben. Keine vierundzwanzig Stunden nach ihrer Rettung hatten wir die nächste Schlacht schlagen müssen. Die Zthronmic mussten besiegt werden. Die Laya hatten sich erhoben. Die Tloxi hatten gemeutert. Jetzt, endlich, so schien es, jetzt war die Zeit gekommen, dem Schrecklichen, das noch immer in ihr war, die Stirn zu bieten, ihm ins Angesicht zu schauen, und ich wusste, dass sie diesen Gang nur wagen würde, wenn ich ihr dabei zur Seite stand.

      Also nach Loma Ntang.

      Kapitel 2: Aufbruch nach Loma Ntang

      Und eines Morgens brachen wir tatsächlich auf. Wir hatten uns auf dem kleinen Markt mit Vorräten versehen. Und mit Bargeld! In den Tornistern trugen wir das Zelt und die Schlafsäcke, sowie ein paar Kilo Kartoffeln, Zwiebeln und Mehl, Reis, Nudeln und Gewürze. Auch unterwegs, so hatte man uns versichert, würden wir uns mit Lebensmitteln versorgen können. Es war das Ende des Sommers, überall wurden die Felder abgeerntet. Das Wetter war stabil. Einer langen Wanderung auf die andere Seite des Ilaya und das lange Tal des Masyan hinauf zum uralten Hauptkloster des Prana-Bindu-Ordens stand nichts im Wege. Trotz flehender Appelle der Einheimischen, die einen einträglichen Job suchten, gingen wir ohne Führer. Wir wollten für uns sein. Die hysterisch ausgeschmückten Warnungen schlugen wir in den Wind.

      Ich dachte darüber nach, ob das nicht doch vielleicht zu leichtsinnig gewesen sein mochte, als Jennifer stehen blieb. Wir überquerten gerade eine kleine Brücke. Unter uns rauschte der Masyan, der hier aus dem Gebirge hervortrat und in die Ebene von Feba einbog. Es war ein stattlicher Wildfluss. Er hatte schon einiges hinter sich, wenn er hier um die Biegung kam. Ihn ohne Brücke oder technische Hilfsmittel zu überwinden wäre unmöglich. Wir standen an dem wackligen Geländer aus notdürftig ineinander verflochtenen Bambusstangen und sahen in die lehmgrauen Fluten, in denen man das Knacken und Krachen mitgewälzter Felsblöcke hörte. Wer dort hineinfiel, würde in Augenblicken zu Hackfleisch zermahlen.

      Jennifer zog etwas aus der Tasche und ließ es in die brodelnden Wassermassen fallen. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass es ihr HandKom gewesen war.

      Ich unterdrückte den Schrei so schnell, wie er sich aus mir losringen wollte. Dennoch entging ihr nicht das verständnislose Grunzen, das ich ausstieß. Sie lächelte milde.

      »Hätte es nicht gereicht, das Ding auszuschalten?«, fragte ich.

      »Das ist nicht dasselbe!«

      »Nein, ist es nicht!« Ich starrte fassungslos in das Mahlwerk aus tosendem Wasser und kollernden Steinen.

      »Wir haben ja noch deinen«, sagte sie.

      »Willst du ihn auch wegschmeißen?«

      »Von mir aus!« Sie lächelte mir in ihrer aufreizenden Art zu.

      »Das lass gefälligst bleiben!«

      »Fühlt es sich nicht viel besser an so?«

      »Solange nichts passiert.«

      »Was soll denn passieren?«

      Noch immer hätte man meinen können, sie provoziere nur, aber ihre Tat sprach für sich.

      »Meiner hat keine Qbox«, sagte ich. Nur ihr Gerät war von Reynolds auf Quantenkommunikation aufgerüstet worden. Das meine musste mit konventioneller Technik auskommen. Unter den hier waltenden Bedingungen – keine Satelliten, kein weltumspannendes Netz – konnte ein Funkspruch ins nächste Dorf zu einer technischen Herausforderung werden.

      »Bis vor ein paar Jahren hatte das niemand.«

      »Das waren andere Zeiten!«

      »Als wir damals nach Loma Ntang gegangen sind,