Marina Scheske

Namenlose Jahre


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fällt das Wort „Stasi-Methoden“. Der Mann mit der Liste versucht vergebens, die erhitzten Gemüter zu beschwichtigen. Erst nach einem schrillen Pfiff wird es still im Bus. Alle schauen auf den, der so ohrenbetäubend gepfiffen hat, es ist der Busfahrer. Der große kräftige Mann hat sich schwerfällig aus seinem Sitz erhoben.

      „Augen rechts“, brüllt er. „Da ist er.“

      Was sie draußen sehen, veranlasst den Mann mit der Liste, aus voller Brust zu seufzen.

      „Okay“, sagt er zum Busfahrer, „du kannst fahren. Soll er doch sehen, wie er klarkommt.“

      Gerhard ist soeben in einen grünen Kleinlaster eingestiegen. Eine schwungvolle Aufschrift verrät, dass es sich um das Auto eines Winzers handelt. Sie sehen, wie er seinen Arm winkend aus dem offenen Fenster hält und alle winken sie zurück. Es ist ein Moment, der den Frauen das Wasser in die Augen treibt und die Männer schlucken lässt. Da fährt einer von ihnen einfach so los in die Freiheit. Hier, in diesem fremden Land macht er sich allein auf den Weg in eine Zukunft, die er selbst gestalten wird.

      „Bist du von drüben?“

      „Merkt man das?“

      „Man hört es am Dialekt. Kommst du aus Berlin?“

      „Fast. Ich komme aus Schwedt an der Oder, das liegt hundert Kilometer nordöstlich von Berlin.“

      „Ich bin geborener Berliner, habe hier eingeheiratet. Und du willst also nach Freiburg, zu deiner Verlobten.“

      „Ja. Ich war in Prag, in der Botschaft. Bin gerade angekommen.“

      „Hier sind schon viele von euch. Wenn das so weitergeht, haben die da drüben bald keine Leute mehr. Die meisten sind über Ungarn gekommen, bei mir in der Kelterei arbeiten zwei, die sind aus Sachsen. Und du? Was bist du denn von Beruf?“

      „Ich bin Schlosser.“

      „Ach, da könnte ich dir was besorgen. Mein Schwager hat eine Werkstatt, gleich hier nebenan in Waidlingen. Er braucht dringend jemand, er schafft es nicht mehr allein. Wir kommen direkt da vorbei. Wenn du Lust hast, können wir gleich zu ihm. Von da aus kannst du den Bus nach Freiburg nehmen, das Ticket schenk ich dir.“

      „Danke. Ja gern, warum nicht. Klar brauche ich Arbeit, je eher, desto besser.“

      „Das ist die richtige Einstellung. Eines kann ich dir nämlich sagen, hier fliegen dir keine gebratenen Tauben ins Maul! Als ich damals hierherkam, das war gar nicht so einfach. „Saupreuß“ haben sie mich genannt, obwohl ich hier eingeheiratet habe. Aber denen habe ich es gezeigt. ... Biss musst du schon haben und vor allem ein dickes Fell.“

      „Haben sie hier einen Weinberg?“

      „Einen?“ Der korpulente Mann grinst. „Schau dich um, das ist alles meins!“

      Eine warme, goldene Herbstsonne leuchtet über dem Tal. Gerard schaut hinauf zu den Hängen, nie zuvor sah er Weinberge.

      „Da oben“, sagt der Mann, „siehst du das Schild da? „Waidlinger Jungferntröpfchen“, der hat im vergangenen Jahr die goldene Kammerpreismünze bekommen. Komm doch mal vorbei zur Weinprobe und deine Braut bringst du natürlich mit. Ich gebe dir nachher meine Visitenkarte.“

      Das Leben lässt sich hier ja ganz gut an, denkt er. Eine Einladung zur Weinprobe und mit der Arbeit klappt es bestimmt. Warum soll er nicht schaffen, was dieser Mann aus Berlin geschafft hat, er muss ja nicht gleich Weinbergsbesitzer werden.

      Er schließt die Augen und sieht sich mit Susanne dort oben zwischen den Rebstöcken, dunkle Trauben leuchten verheißungsvoll im grünen Laub und sie trägt ein weißes Hochzeitskleid.

      Lächelnd hebt sie ein Glas empor. Das Licht der Sonne glitzert im Wein, es funkelt und strahlt wie ihre Augen. ...

      Ein kreischendes Geräusch dringt in sein Ohr. Er spürt den mächtigen Druck, der ihn nach vorn schleudert und bevor der Schmerz kommt und ihm das Bewusstsein raubt, sieht er das Feuer vor sich und hört den Schrei des Fahrers. Es wird dunkel. Gerhard Erdmann befindet sich in einem brennenden Autowrack auf einer Wiese unweit von Freiburg.

      Neben ihm liegt der tote Weinbauer, der am Abend zuvor zu tief ins Glas geschaut hat.

      Karl-Heinz Erdmann beschließt, einen kleinen Spaziergang zu machen. Wie es im Winter seine Gewohnheit ist, will er die Schwäne unten am Fluss füttern.

      „Anneliese! Willst du nicht mit?“

      Er steht schon fertig angezogen im Flur, in der Hand hält er den Beutel mit dem alten Brot.

      „Wo bleibst du denn? Was ist? Kommst du nun mit, oder nicht?“

      Anneliese setzt ein leidendes Gesicht auf.

      „Geh allein“, sagt sie, „mir ist heute nicht gut, ich habe Migräne.“

      „Das war mir ja gleich klar, dass du nicht mitwillst!“

      „Sei doch nicht immer so patzig. Und binde deinen Schal um, es ist kalt draußen.“

      Nun steht sie am Fenster, schiebt vorsichtig die Gardine beiseite und schaut ihm hinterher.

      Er ist schon auf der anderen Straßenseite, gleich wird er in die Gasse einbiegen. Dann ist sie ihn los und kann zum Briefkasten gehen. Er geht nie zum Kasten, den einzigen Schlüssel hat sie. Hauptsache, er bekommt morgens sein „Neues Deutschland“, das legt sie ihn auf den Frühstückstisch. Die Post kommt erst am Mittag und interessiert ihn nicht sonderlich.

      Vorsichtshalber wartet sie noch ein Weilchen, aber jetzt ist er bestimmt schon unten am Fluss. Kalt ist ihr, fröstelnd zieht sie ihre Strickjacke über der Brust zusammen.

      „Du lebst“, flüstert sie, „da bin ich mir ganz sicher.“

      Geträumt hat sie von Gerhard in der letzten Nacht. Ganz deutlich sah sie ihn, er stand vor ihr, direkt am Fußende ihres Bettes. Merkwürdig war ihr zumute und sie erschrak sehr. Sie schaute hinüber zu Karl-Heinz, der laut schnarchte und sich nicht stören ließ. Deutlich hörte sie seine Stimme. „Ich lebe, Mutter“, sagte er, „und alles andere wird sich finden.“

      Dann war er fort. Seine Gestalt verschwand einfach im Dunkel.

      „Mein Gott“, sagt sie laut, „das kann kein Traum gewesen sein, ich war doch wach!“

      Sie lässt sich in den Sessel fallen und schaut auf ihre zitternden Hände. Parkinson, hat der Arzt gesagt, es könnte Parkinson sein, Frau Erdmann. Das müssen wir noch mal genauer untersuchen. ... Nein, es ist kein Parkinson, denkt sie, das ist mein Kummer. Er ist mein einziges Kind und ich habe ihn geboren, als andere Frauen in meinem Alter schon Großmutter waren.

      Er lebt, ganz bestimmt lebt er. ... Sie denkt an den Tag, an dem die Männer von der Staatssicherheit vor der Tür standen. Ganz ruhig ist sie geblieben, obwohl ihr Herz so heftig klopfte. Als sie endlich wieder gegangen waren, da saß sie still im Sessel und eine zufriedene Genugtuung breitete sich in ihr aus.

      Er war ihnen entwischt. Sicher war er schon längst in Freiburg und sein Brief noch nicht angekommen, weil jetzt alles drunter und drüber ging. Sie hatte es ja selbst gesehen, am letzten Montag. Da ging es Karl-Heinz nicht gut, er schlief auf der Couch ein und sie ging heimlich zum „Platz der Befreiung“. Sie sah die Transparente und die vielen Menschen, die er als „Abschaum“ bezeichnete. Soviel Abschaum kann es gar nicht geben in einer ordentlichen Stadt wie Schwedt, dachte sie. Die Welt steht Kopf, sie hat es selbst gesehen, wie soll denn da noch die Post funktionieren. ... Die Menschen liefen im langen Zug durch die Stadt, wie sonst nur am 1. Mai. Sie versammelten sich vor der Kirche und trugen brennende Kerzen und sie dachte, wenn so viele Menschen dort mitlaufen, dann kann es doch nicht falsch sein, was sie wollen.

      Wie er gebrüllt hat, als sie zu Hause davon erzählte. Und dann fing er wieder an mit seiner ewigen Litanei. Von der Schande sprach er, die der eigene Sohn über sie gebracht hatte und wie er nun dastünde. Er steigerte sich hinein und drohte mit Selbstmord. Da platzte ihr der Geduldsfaden. Dann tu es doch, sagte sie. Wenn du deinen Sohn verstößt, der nie etwas Schlechtes