Marina Scheske

Namenlose Jahre


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reisen darf, sein Vater würde sie nicht fahren lassen.

      Mutter, denkt er, warum hast du ihm immer alles recht gemacht? Und warum standest du mir nie bei, wenn er mich niederbrüllte? Die Angst vor diesem Mann beherrscht dein Leben, beherrschte es immer, solange ich mich erinnern kann. Warum verhältst du dich ihm gegenüber so unterwürfig. ... Er verlässt das Abteil, niemand soll seine Tränen sehen. Wenn er drüben ist, wird er ihr schreiben. Alles wird er ihr schreiben, was ihm schon seit Jahren auf der Seele brennt.

      Während Gerhard Erdmann im Zug nach Dresden sitzt, findet im Polizeipräsidium Schwedt eine kleine Dienstbesprechung statt.

      Klaus Bäumert streicht verlegen seine Uniformjacke glatt. Er weiß nicht, wohin mit seinen schwitzenden Händen und ihm ist nicht wohl. Verstohlen beobachtet er den Mann in Zivil.

      Er sitzt ihm gegenüber und liest aufmerksam ein Protokoll. Nur mühsam gelingt es Klaus Bäumert, seine Angst zu verbergen.

      „Ich wusste nicht, dass er der Sohn vom alten Erdmann ist“, sagt er und seine Stimme klingt seltsam belegt.

      „Das spielt auch keine Rolle, wo kämen wir denn dahin. ... Darum geht es hier nicht. Verdammt, Klaus, wie konntet ihr ihn laufen lassen. Das hier reicht, um ihn einzulochen! Aber sicher ist er schon über alle Berge, so wie all die anderen, jeden Tag werden es mehr. Was soll man dazu sagen, da fehlen mir die Worte! Das hat Konsequenzen, Genosse, das ist dir doch klar.“

      Klaus Bäumert schluckt und nickt stumm, er meidet den Blick des Mannes.

      „Aber wir ... Wir hatten doch keinen Haftbefehl“, stammelt er.

      „Der ist gut! Der beste Witz, den ich seit Langem gehört habe! Ich kann dich beruhigen, seit einer Stunde läuft die Fahndung. Den kriegen wir, soweit kann er noch nicht sein. Ich schätze mal, er hat den Zug nach Dresden genommen.“

      Laut seufzend lehnt sich der Mann in Zivil zurück.

      „Und wenn wir ihn nicht kriegen, mal ganz unter uns, spielt das noch eine Rolle? Einer mehr oder weniger von diesem asozialen Pack. Sollen sie doch gehen, alle! Ich bin es leid, verstehst du, mir steht es bis zum Hals! Hast du was zu trinken da?“

      Klaus greift in das Schreibtischfach und stellt eine Flasche Weinbrand auf den Tisch. Erleichtert atmet er auf, kramt ein Taschentuch hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

      „Ich habe alles aufgenommen. Das ganze Gespräch ist im Kasten. Beweismaterial gibt es genug.“

      „Dein Eifer in Ehren, Klaus, aber was soll das, seit wann brauchen wir Beweise? Hör es dir selbst an, wenn du mal Langeweile hast. Prost!“

      Klaus nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Angenehm wärmend rinnt der Weinbrand durch seine Kehle und ein wohliges Gefühl der Ruhe breitet sich in ihm aus.

      „Wir sehen uns.“

      Der Mann in Zivil steht auf und verlässt den Raum.

      Auch Klaus Bäumert steht auf und schließt die Tür, dann geht er zum Waschbecken und dreht den Hahn auf. Während das Wasser über seine Hände läuft, schaut er in den Spiegel.

      Ich kann nicht mehr... Ich bin so blöd, warum habe ich ihn nicht gleich kassiert, dann wäre die Sache für mich vom Tisch. Dieser freche kleine Gammler. Sein Alter bläst ihm doch sicher Zucker in den Arsch, der hat doch alles, was will der denn drüben. ... Ich muss mir das noch mal anhören, die ganze Aufnahme. Gut, dass es eine gibt, da kann ich beweisen, dass ich mich korrekt verhalten habe. Wer weiß, was da noch hinterherkommt. ...

      Er legt die Kassette ein. Ein Rauschen tönt aus dem Aufnahmegerät, schließlich hört er seine Stimme: „Warum wollen Sie in die BRD ausreisen, gibt es dafür einen konkreten Anlass? Zum Beispiel einen Verwandtenbesuch, da haben wir hier ein Formular, das füllen Sie aus und dann kommen Sie wieder.“

      „Ich will nicht zu Besuch, ich will für immer raus.“

      „Für immer. Das geht aber nicht mit diesem Antrag.“

      „Womit dann? Mit meinem Personalausweis komme ich ja wohl nicht raus!“

      „Werden Sie nicht frech. In diesem Fall gibt es ein anderes Formular. Wir hindern keinen daran, auszureisen. Die DDR ist ein Rechtsstaat, junger Mann.“

      „Ein Rechtsstaat. Soll das ein Witz sein? Ein Rechtsstaat lässt seine Bürger reisen, wohin sie wollen. Na klar, ein Rechtsstaat, deshalb wird an der Grenze geschossen.“

      „Woher haben Sie diese Information, das ist ja ungeheuerlich! Ich warne Sie.“

      „Entschuldigen Sie bitte. Ich möchte einen Antrag stellen, einen Antrag zur ständigen Ausreise. Ich denke, nun habe ich mich korrekt genug ausgedrückt.“

      „Was korrekt ist, das überlassen Sie gefälligst mir. Name, Geburtsdatum?“

      „Erdmann, Gerhard Erdmann, geboren am 10.04.1959.“

      „Erdmann. Ach, jetzt verstehe ich. ... Susanne Riedel, so heißt doch ihre Verlobte, nicht wahr? Dann war das wohl ein abgekartetes Spiel und Sie wollen ihr folgen. Eine sogenannte Familienzusammenführung also. Das haben Sie sich ja fein ausgedacht.“

      „Ich möchte ausreisen, das ist mein gutes Recht.“

      „Da könnte ja jeder kommen, junger Mann.“

      „Ich bin nicht Ihr junger Mann. Haben Sie schon mal was von der KSZE-Schlussakte gehört? Jeder hat das Recht, dieses Land zu verlassen!“

      „Kommen Sie mir nicht so und nicht in diesem Ton! Bis jetzt bestimmen immer noch wir, wer ausreisen darf und wer nicht.“

      „Ich denke, Sie bestimmen gar nichts, Sie sind doch nur ein mieser kleiner Handlanger.“

      Klaus schaltet das Tonband aus, geht zum Fenster und öffnet es. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.

      „Ein mieser kleiner Handlanger“, sagt er leise, „genau das bin ich.“

      Im Zug fühlte er sich sicherer. Er konnte sehen, wie er vorwärts kam, weg von Schwedt, raus aus dem Dunstkreis der Stadt. Unschlüssig bleibt er stehen, schaut sich um und findet, was er sucht. Ein Zeitungskiosk, dort wird es Landkarten geben. Es ist zu gewagt, weiter mit dem Zug zu fahren, in den Grenzbezirken gibt es Kontrollen. Jeder weiß es, auch in Schwedt reden die Leute darüber.

      Ein Mann steht am Kiosk. Er trägt eine schwarze Lederjacke und eine graue Hose. An seinem Handgelenk hängt ein kleines Täschchen, sein Haar ist korrekt geschnitten und ordentlich gescheitelt. Gerhard beschleunigt seinen Schritt und macht einen großen Bogen um den Kiosk. Auch ohne Karte werde ich ankommen, denkt er. Immer nach Süden, irgendwie.

      Sein Magen knurrt. Ziellos läuft er in die nächste Gasse hinein. Erst muss er was essen, dann sich ein bisschen ausruhen, nur ein paar Minuten, vielleicht an der Elbe auf einer Bank sitzen. Nein, da ist er allein, das ist zu gefährlich. Dort vorn ist ein Wochenmarkt, farbenprächtige Astern werden zum Kauf angeboten und beim Anblick der Blumenpracht denkt er an Susanne. Er erinnert sich an jenen Tag vor einem Jahr. Es war Spätsommer und er kam zu ihr mit einem bunten Strauß Astern, um sie zu fragen, ob sie seine Frau werden möchte. In Ermangelung eines Ringes schenkte er ihr ein Kettchen aus Bernstein. Gold konnte er nicht auftreiben und Trauringe erhält man nur gegen Goldabgabe.

      Er denkt an diesen Tag voller Glück und seine Augen füllen sich mit Tränen. Schnell setzt er die dunkle Brille auf, geht zu einem Bratwurststand und stellt sich in die Schlange.

      Am Rande des Marktes steht eine Bank. Müde setzt er sich hin und lehnt sich zurück.

      Die Sonne streichelt sein Gesicht und er schließt die Augen. Nur ein bisschen ausruhen will er sich und dann laufen, immer weiterlaufen. Bald wird es dunkel, er hat keine Taschenlampe dabei, noch nicht mal ein Feuerzeug besitzt er, seit einem Jahr raucht er nicht mehr.

      Egal, es wird schon klappen, Hauptsache erst mal raus aus der Stadt. Vielleicht dann irgendwo in einer Scheune übernachten, zur Not im Wald. Ich schaffe das, andere schaffen das auch.

      Beim Aufstehen