Marina Scheske

Namenlose Jahre


Скачать книгу

alte Mann im weißen Kittel setzt sich auf einen Schemel und seufzt. Ihre Blicke treffen sich. Du tust mir nichts, denkt Gerhard, nein, du nicht. Ich weiß nicht warum, aber ich vertraue dir, so wie ich auch deiner Frau vertraue.

      „Haben Sie eine Allergie, ein Anfallsleiden oder sind Sie vielleicht Bluter?“

      Gerhard schüttelt den Kopf. „Nein. Soviel ich weiß, ist mit mir alles in Ordnung!“

      „Wirklich alles? Was haben Sie da für ein Hämatom an der rechten Schläfe, junger Mann? Das sieht aber nicht gut aus.“

      Herr Seewaldt reicht ihm einen Spiegel und er sieht, dass sich die kleine rote Stelle, die er heute Morgen im Spiegel der Bahnhofstoilette sah, um das Dreifache vergrößert hat.

      Im Schein der hellen Lampe leuchtet sie purpurrot.

      „Ach das! Das ist nichts. Ich habe mich gestoßen, wissen Sie. ... Gestern, in der Werkstatt. Ich bin Schlosser in einem Landmaschinenbetrieb.“

      Herr Seewaldt schmunzelt. „Ich weiß.“

      Gerhard schickt sich an, den Stuhl zu verlassen. Schon setzt er seine Beine auf den Boden, doch Herr Seewaldt greift nach seiner Hand.

      „Ich sehe es an deinen Händen, du bist Handwerker. Hände können viel. Sie reparieren Traktoren oder auch Zähne. Sie bauen Mauern, dem Menschen zum Wohl und manchmal auch zum Übel. Und sie können zuschlagen, um Menschen daran zu hindern, Mauern einzureißen. ... Du bekommst jetzt eine kleine Betäubung, dann ziehe ich den Zahn. Die Schläfe behandeln wir mit einer Heparin-Salbe. Danach musst du dich allerdings eine Weile ausruhen, bevor du weiterkannst. Nebenan steht eine Liege, Decken sind auch da. Schlaf ruhig, bei uns bist du sicher wie in Abrahams Schoß.“

      „In Ordnung“, murmelt Gerhard verlegen und lehnt sich zurück. Er duzt mich, denkt er, er kennt mich doch gar nicht. Aber es stört mich nicht, es ist in Ordnung. Obwohl er ein Fremder ist, vertraue ich ihm. …

      Noch betäubt von der Spritze macht er es sich nach der Behandlung auf der Liege bequem und schläft sogleich ein.

      Als er erwacht, ist es bereits dunkel. Tastend bewegt er sich im Raum, findet endlich den Lichtschalter und schaut auf seine Armbanduhr. Noch in dieser Nacht will er über die Grenze. Leise öffnet er die Tür zum Flur. Er wird einfach gehen, ohne sich zu verabschieden. Eigentlich ist das nicht richtig, man stiehlt sich nicht einfach so davon. Aber länger kann er nicht warten, er muss die Dunkelheit nutzen, um unauffällig aus der Stadt zu kommen. Sie sind bestimmt noch wach, ältere Leute schlafen nicht mehr viel. Wenn sie hören, dass er aufgestanden ist, werden sie ihn sicher bitten, bis zum Morgen zu bleiben. Aber das ist zu gefährlich.

      Er bückt sich, um seine Schnürsenkel zu binden. Als er sich wieder aufrichtet, stößt er gegen einen kupfernen Schirmständer. Gegenüber öffnet sich eine Tür, Frau Seewaldt steht vor ihm.

      „Es tut mir leid“, stammelt er, „ich wollte Sie nicht aufwecken. Aber jetzt muss ich endlich los. Vielen Dank für alles und grüßen Sie ihren Mann.“

      „Das kommt überhaupt nicht in Frage, wir lassen Sie doch nicht mitten in der Nacht gehen. Außerdem müssen Sie etwas essen. Kommen Sie, sie sind unser Gast. Mein Mann wartet schon auf Sie.“

      Gern nimmt er die Einladung an. Er hat Hunger, seit der Bratwurst am Mittag hat er nichts mehr gegessen.

      „Na endlich, junger Mann“, begrüßt ihn Herr Seewaldt. „Ich dachte schon, Sie schlafen gleich durch bis Morgen. Haben Sie noch Schmerzen?“

      „Nur noch ein bisschen, es geht.“

      Frau Seewaldt kommt mit einem Tablett herein, stellt ihm einen Teller mit Schnitten hin und gießt Tee ein. Er bedankt sich verlegen.

      Das glaubt mir keiner, denkt er. Wenn ich das jemandem erzähle. Fremde Menschen helfen mir. Einfach so, ganz uneigennützig.

      Er schaut in das prasselnde Feuer des antiken Kamins und eine wohlige Wärme breitet sich in ihm aus. Es riecht würzig nach Holz. Auch das Ehepaar Seewaldt schaut still dem Spiel der Flammen zu, doch hin und wieder richten sie ihre Blicke zum Fenster und es sieht aus, als würden sie lauschend auf etwas warten. Helles Scheinwerferlicht fällt plötzlich in den Raum. Frau Seewaldt steht auf, schiebt den Vorhang beiseite und schaut hinaus. Man hört Motorengeräusch. Laute, brüllende Männerstimmen gellen durch die Nacht.

      „Zieh die Vorhänge zu und setz dich um Gottes Willen hin, Eva.“

      Herr Seewaldt steht auf und tut es selbst. Frau Seewaldt setzt sich wieder und Gerhard sieht, dass ihre Hände zittern.

      „Sie kommen jede Nacht“, flüstert sie, „immer zur gleichen Zeit. Ich kann das nicht mehr ertragen.“

      „Vielleicht sollte ich doch besser gehen.“

      Auch er steht nun auf und lauscht. Man hört das Bellen einer Hundemeute, jemand brüllt etwas und das Gebell verstummt.

      „Wenn du ihnen direkt in die Arme laufen willst“, sagt Herr Seewaldt, „dann musst du jetzt gehen. Aber gleich, sonst sind sie weg! Sie fahren jede Nacht durch die Neustadt, sie machen Razzia. Hier wohnen viele junge Leute und sie haben oft Gäste, die auf der Durchreise sind. ... Bleib nur ruhig, Junge, und setz dich schön wieder hin. Wir sind alt, zu uns kommt keiner. Eva, du bringst uns jetzt eine schöne Flasche Wein, nicht wahr, meine Liebe?“

      Schweigend räumt Frau Seewaldt die Teetassen auf das Tablett. Gerhard steht auf, um ihr die Tür aufzuhalten und folgt ihr in die Küche.

      „Du hast etwas unterschrieben, nicht wahr“, flüstert sie. „Ich habe gehört, wie du im Traum geredet hast. Mach dir keine Gedanken, ihre Zeit ist vorbei. Du gehst in die Botschaft, wir kennen da jemand in Prag, der dir helfen wird. Du wirst sehen, es ist ganz einfach.“

      „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“

      „Aber dafür doch nicht, das ist selbstverständlich“, antwortet sie hastig, während er zuschaut, wie sie die hauchdünnen Porzellantassen behutsam auf den Küchentisch stellt.

      „Man muss sie wie rohe Eier behandeln, das Porzellan ist ganz fein und sie sind sehr alt. Sie stammen aus dem Haushalt meiner Schwiegermutter. ... Mein Mann sagt, sie sind kitschig. Aber das ist mir egal. Was zählt, ist einzig die Erinnerung.“

      „Ja“, sagt er leise, „Erinnerungen sind wichtig.“

      Früh erwacht er am nächsten Morgen und die Zeit zwischen Traum und Tag schenkt ihm eine Illusion. Er schlägt die Augen auf und schaut auf ein Regal. Mineralien sieht er, Steine verschiedener Art, Tannenzapfen und einen Strauß getrockneter Blumen, deren Namen er nicht kennt. Noch einmal schließt er seine Augen und sieht eine Gebirgslandschaft. Ein klarer Bach plätschert über Gestein, dunkle Tannen säumen einen Pfad. ...

      Er setzt sich auf die Bettkante und seufzt. Nein, das hier ist kein Urlaub und er wird nicht gemütlich wandern, auch wenn Herr Seewaldt meint, nur so würde er unauffällig bis Prag gelangen. Schnell steigt er in seine Hose, um ins Bad zu gehen. Die fürsorgliche Frau Seewaldt hat ihn mit allem versehen, was er braucht, sogar ein elektrischer Rasierapparat liegt auf der Kommode. Kein Wunder, dass man denkt, man erwacht in einer Ferienpension.

      Er kommt aus dem Bad, kämmt schnell sein Haar vor dem Schrankspiegel, doch dann hält er inne und dreht sich um. Über dem Bett hängt ein Bild. Es ist das Porträt eines jungen Mannes, eine Fotografie im Postkartenformat. Ein schwarzes Band, quer über die linke untere Ecke gespannt, gibt dem Betrachter darüber Auskunft, dass er einen Toten anschaut.

      Sein Blick wandert zurück zum Spiegel und er fühlt, wie sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufrichten, etwas Kaltes scheint durch ihn hindurchzugehen. Noch einmal geht sein Blick vom Spiegel zum Bild, der tote junge Mann sieht ihm sehr ähnlich, er könnte sein Bruder sein.

      „Es wäre gut, wenn du dein Äußeres etwas verändern würdest, bevor du dich auf den Weg machst“, sagt Frau Seewaldt nach dem Frühstück zu ihm. „Deine Frisur ... Das lange Haar ist einfach zu auffällig, geradezu provozierend. Sicher verstehst du, was ich meine. Dein langes Haar reiht dich in die