Erhard Heckmann

100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 4


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im Mount Rainier Nationalpark

      Aussichtspunkte und Frühstücksplätze locken überall zum Verweilen, wie auch mehr als zwanzig Wasserfälle, die sich mit etwa zwanzig bis zweihundert Meter präsentieren, und von denen der „Christine“ in unmittelbarer Nähe der „706“ gelegen ist. Und auch der Wanderweg zu einem der beiden schönsten im Park, den „Comet Falls“ – der andere ist der breitgefächerte, 107 Meter hohe Spray Falls – beginnt etwa vierhundert Meter westlich der Brücke, die sich an den Christine Falls über den gletschergefütterten Van Trump Creek spannt. Nach weniger als drei Kilometern steht man zwischen Longmire und Paradise vor seinen drei Sprüngen, die er mit 119, 16 und sechs Metern vollführt. Der am meisten besuchte Ort im Park ist „Paradise“, mit dem Hauptbesucherzentrum auf 1.647 Metern und der schönen, nur im Sommer geöffneten Lodge. Bekannt ist es für sein grandioses Panorama, das im Sommer durch Wildblumen, im Herbst durch das Rot des Laubes auf den Hügeln noch zusätzlich unterstrichen wird. Wer den Rucksack schultern möchte, kann das ebenfalls tun, bis hin zu den 93 Meilen des „Wondertrails“, der mit Start und Ziel zu Longmire in einem großen Bogen den Park durchzieht und hier und dort auch Begegnungen mit Schwarzbären, Hirschen, Rehen, Bergziegen, Eichhörnchen oder Murmeltieren ermöglicht. Die Zufahrtsstraße wird auch im Winter geräumt, denn in der Paradise-Region fallen jährlich mehr als siebzehn Meter Schnee, der Langläufer, Schlittenfahrer und Schneeschuhwanderer begeistert.

      Nach ein paar Stunden in dieser herrlich bunten Bergwelt kurvt unsere Straße am felsigen Hang des gewaltigen Paradise Valleys entlang und windet sich in Schleifen um Seen und Felskanten hinunter ins Tal. Unterwegs berührt sie die Stevens- und Box Canyons und schlägt zwischen den Cougar- und Silver Falls ein langes „V“, um die Backbone Ridge zu umgehen. In der Nähe des „Grove oft the Patriarchs Trailheads“ und des Stevens Canyon Einganges, wo der Höhenunterschied in etwa wieder ausgeglichen ist, geht die Straße zu Ende und trifft auf die „123“. Hier sofort nach Süden zu fahren, um den Park am Ohanapecosh Visitor Centers zu verlassen, in dessen altem Wald wieder wunderschöne Zedern, Tannen und der Campingplatz am gleichnamigen Fluss locken, sollte man vermeiden, sondern vorher noch die etwa vierzig Kilometer auf der „123“ nach Norden fahren, und zum „Sunrise“ abzuzweigen. Wer dort das Glück eines klaren Sonnentages wie heute hat, dem zeigt dieser Park dort auch seine Schokoladenseite mit bunten Bergblumenwiesen, dem Mount Rainier, Emmons Gletscher und weitere Vulkane dieser Bergkette. Übernachten muss man aber vor den letzten Kehren, zu White River, weil der dortige Campingplatz auf 1.341 Metern die letzte Möglichkeit ist, und die Sunrise Day Lodge (1.950 m) nur mit einem Restaurant aufwartet.

      Wir haben das getan und verlassen später den Park über das Ohanapecosh Besucherzentrum, fahren durch den Gifford Pinchot National Forest, nutzen die „12“ und „25“ nach Süden bis sich in der Nähe von Iron Creek Falls die „99“ anbietet, um mit uns in vielen Kurven zur „Windy Ridge“, und damit zum Mount St.Helens hochzuklettern, wo nur noch Wandertrails um den Vulkan weiterführen, die teils aber eine Genehmigung voraussetzen. Als der Mount St.Helens am 18.Mai 1980 letztmals ausbrach, sah die Welt erschütternde Bilder: Bäume, die wie Streichhölzer umknickten, Aschenregen, Schlamm- und Erdmassen, die sich über die Hänge des mächtigen Vulkans schoben. Aber so furchterregend das war, erdgeschichtlich gesehen kam die Explosion am „St.Helens“ der eines Knallkörpers gleich. Als der ebenfalls im Kaskadengebirge beheimatete Mount Mazama vor 6.800 Jahren ausbrach, schleuderte er 42mal so viele Kubikkilometer vulkanischer Auswürfe in die Luft! Von wandern kann heute auch keine Rede sein, denn je höher wir uns durch Regen und Nebel nach oben tasteten, desto dichter wurde beides, und dort, wo normalerweise der Blick auf den Vulkan fällt, reichte die Sicht keine zehn Meter mehr. Es ist also ratsam, sofort wieder zu drehen, um dieser Waschküche unbeschadet zu entkommen. Ganz überflüssig war der Ehrgeiz dennoch nicht, denn dort, wo der Nebel unterwegs die Hänge hinaufglitt und den Blick auf Verbranntes freigab, schauten die damals verkohlten Baumstämme mit verschwommenen Umrissen wie rastende Gespenster von den rechten Hängen herab, während sich linkerhand bereits halbhohe grüne Nadelhölzer, Sträucher, Gras und Blumen zeigten. Mehr war nicht zu sehen, und somit blieb nur noch nachzulesen, was im kostenlosen Mount St.Helens Visitor’s Guide unter der Überschrift „30th Year Commemorative Edition Volcano Review“ zu erfahren war: Die Eruption dieses Vulkans war zwar eine der stärksten im 20.Jahrhundert, doch reichte sie nicht an Amerikas schlimmstes Ereignis dieser Art in jenem Jahrhundert heran, dass sich am 6.6.1912 in Alaska ereignete. Als damals der Novarupta im heutigen Katmai National Park dem inneren Druck nachgeben musste, schleuderte er dreißig Kubikkilometer Schlamm, Geröll und Lava aus sich heraus. Aber auch die Lawine des St.Helens, der zu dem sich um den Erdball ziehenden „Ring of Fires“ gehört, riss in wenigen Minuten mit ihrem totbringendem Feuersturm alles nieder und verwüstete ein Gebiet, das etwa zweimal so groß wie München war. Am Ende war die gesamte Nordflanke des Berges weggerissen, die Gerölllawine sehr schnell von der in Richtung Spirit Lake fließenden Lava überholt, so dass diese verheerende Schäden anrichtete, wie die Säule aus Asche und Gasen, die sich über elf Bundesstaaten verteilte. Auf dem Berg schmolzen Schnee, Eis und Gletscher, und der Vulkanschlamm erreichte sogar den fünfzig Kilometer entfernten Columbia River, während der Spirit Lake, ein glasklarer Bergsee, in kürzester Zeit seinen Sauerstoff verlor und zu kochen begann. Was im Umkreis von dreißig Kilometern stehenblieb, war verkohlt, von der Hitze gebogen und ragt noch heute astlos aus dem Boden Andererseits hat die Natur in den vergangenen dreißig Jahren gezeigt wozu sie in der Lage ist, wenn man sie in Ruhe lässt. Am See, der bereits nach zehn Jahren seine einstige Wasserqualität wieder erreicht hatte, gibt es wieder blühende Wiesen, Wapitis haben das offene Land in Besitz genommen und auf dem Berg, dessen heutiger Krater eine Meile breit, zwei lang und 2.200 Meter tief ist, hat sich Amerikas jüngster Gletscher gebildet. Als die ersten Pioniere, die für diesen Wandel sorgten, gelten Lupinen und Taschenratten. Diese benötigen jene als Futter und durchwühlten und lockerten den Boden mit Röhren und Höhlen. Und weil die tiefen Wälder offenem Land gewichen waren, trugen auch die besitznehmenden Wapitis zum Neubeginn bei. Mit ihren Tritten brachen sie in dem von den Ratten durchwühltem Boden ein, wodurch der Regen eindringen, und die Regeneration beginnen konnte. Dreißig Jahre später ist dort, wo einst der Wald die Szenerie beherrschte eine Bimssteinebene entstanden, und Pflanzen und Tiere haben das verlorene Paradies zurückerobert. Nur der Spirit Lake friert wegen der gewaltigen Treibholzansammlung nicht mehr zu, und der 150 Meter dicke neue Gletscher, der sich im Krater gebildet hat, liefert für die völlig neue Landschaft mit Tümpel und Seen das Wasser. Mit diesem kamen auch die Bieber zurück, und die durch ihre Dämme aufgestauten Gewässer nützen Amphibien und Kröten. An den Ufern gedeiht wieder saftiges Gras, und die dichten Büsche wurden zum Unterstand der Wapitis. Dreißig Jahre nach der Verwüstung ist die Natur wieder zurück und der Vulkan ruht; aber das kann sich auch sehr schnell wieder ändern. Mit dem St.Helens im Rücken, der bei der Explosion von seinen knapp dreitausend Metern vierhundert verlor, verlassen wir das Naturschutzgebiet und fahren auf der „25“ über den Elk Pass in Richtung Columbia River, bis zu dem die Curly Creek Road und der Wind River Highway die Lücke zu Carson schließen sollten. Den Weg, den sich dieser Highway sucht, berührte keine einzige Siedlung, kurvt die Anhöhen im Wald hinauf, durchzieht einsame Täler und lässt erkennen, dass es solche Straßen in Europa kaum noch gibt. Kurz vor Carson versinkt die angenehme Fahrt aber plötzlich in schwerem Regen, sodass wir auf dem einfachen Bear Creek Campground abbrechen und hoffen, dass morgen wieder besseres Wetter zurückkommt.

      Wunsch erfüllt oder nur Zufall? Auf alle Fälle scheint fünfzehn Stunden später wieder die Sonne, und somit rollen wir auch frohgelaunt über die lange Brücke (0,75$ Maut) nach Hood River auf die andere Seite des Columbia Flusses, um unser Programm mit dem „Columbia Szenic Drive“, Portland und einigen Autobahnkilometern Richtung Süden fortzusetzen. Ein kurzes Zwischenziel an der den mächtigen Columbia begleitenden „84“ ist die Fish Hatchery im kleinen Ort Cascade Hocks, in deren Aufzuchtbecken sich Tausende von Forellen tummeln. Und auf dem Weg dahin entdecken wir einen kleinen einheimischen Markt, auf dem Obst und fangfrische Lachse dominieren. Einer davon, der kleinste, reist auch bei uns im Gefrierfach mit, als wir die Fahrt auf dem alten Highway zum Bonneville Staudamm fortsetzen. Eigentlich ist auch er – pro Pfund einen Dollar – für unseren Bedarf noch zu groß, doch seine Brüder waren alles Riesen, und „ohne“ wegzufahren, das ging bei diesem Angebot auch nicht. Für den alten, historischen Columbia River Highway – knappe 22 Meilen