Kopf ruckte hoch. »Lass mich allein! Ich kämme mich lieber selbst, ehe du mit deinen ungeschickten Händen noch alles durcheinanderbringst.« Kaum war die Dienerin fort, bereute Grimhild auch schon ihre Worte. Es war nicht recht, ihre schlechte Laune an Irmgard auszulassen. Das Schuldbewusstsein machte sie noch wütender, sie trat nach einer Truhe. Au! Alles hatte sich heute gegen sie verschworen! Ihr Zeh schmerzte, der Saum ihres Gewandes blieb ständig irgendwo hängen, und der Kamm war nirgends aufzutreiben. Grimhild stieß einen Schrei der Frustration aus. Der Anblick ihrer Mutter, die ungehört hereingekommen war und sie mit einem wissenden Lächeln bedachte, steigerte ihren Zorn ins Unermessliche. »Was willst du?«, fauchte sie.
Oda nahm einen neutralen Gesichtsausdruck an und bemühte sich, nicht zu zeigen, wie sehr die leicht durchschaubaren Gefühle ihrer Tochter sie amüsierten. »Dir helfen, dich herzurichten«, erwiderte sie und ergriff den Kamm, der sich arglistig hinter einer Schale versteckt hatte.
Grimhild biss sich auf die Lippen und schwieg, weil ihr kein Grund einfiel, sich zu widersetzen. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ sie zu, dass ihre Mutter sich hinter sie stellte und die nassen Haare entwirrte.
»Ich sah Irmgard aus deinem Zimmer kommen«, sagte Oda. »Sie schien es eilig zu haben.«
»Ich nehme an, sie hat zu arbeiten«, schnappte Grimhild. Die Vögel vor dem Fenster gingen ihr auf die Nerven. Sie sollten endlich still sein und ihre gute Laune für sich behalten!
Oda kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass eine direkte Frage nach der Ursache ihrer schlechten Laune der falsche Weg war, ihr zu helfen. Sie würde sich nur verschließen wie ein trotziges Kind. An der Art, wie Grimhild den Rücken gerade hielt, erkannte die Königin, dass ihre Tochter die Hände zu Fäusten ballte, doch sie hütete sich wohlweislich, das Mitleid, das sie empfand, zu zeigen. »Das war ein schönes Fest gestern, findest du nicht?«, fragte sie stattdessen.
»Sie haben gesoffen wie die Schweine.«
»Ich hatte meinen Spaß. Mir gefällt es, wenn so viele kühne Recken in unserer Halle sitzen.«
»Er hat mich nicht einmal beachtet!«, platzte Grimhild heraus.
»Wer?« Wenn ihre Tochter sich verstellen konnte – Oda war Meisterin in diesem Spiel. Nicht umsonst hatte sie damals Aldrian, der eigentlich um ihre Schwester freien sollte, für sich gewonnen. Die Erinnerung daran schmerzte, aber es war ein süßer Schmerz, dem sie gern nachgab. Als er in jenem Jahr zur Burg ihres Vaters kam, besaß er noch keinen großen Namen, kein Skop sang Lieder von seinen Heldentaten. Doch sie hatte gewusst, was in ihm steckte. Sie wollte ihn. Und sie handelte, ehe er Gelegenheit bekam, die verhängnisvolle Werbung auszusprechen. Ein absichtlich zerbrochener Krug, dessen Scherben aufzusammeln er half, gab ihr die Möglichkeit, ihm nahe zu kommen. Mehr brauchte sie nicht. Wie er sie ansah, als er schließlich um sie freite, als fürchte er, sie könne ablehnen! Ihre Augen wurden feucht bei dem Gedanken. Sie hatte ihre Wahl nie bereut. Aldrian hatte Königsheil besessen und den Kampf außerhalb der Grenzen seines Reiches gehalten. Vor allem aber war er ein wundervoller Gemahl gewesen.
»Sigfrid.«
Oda brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, worüber sie gerade sprachen. »Tatsächlich? Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
Das war nun eine Spur zu dick aufgetragen. Grimhild sah sie argwöhnisch an und seufzte: »O Mutter! Du weißt genau, wovon ich spreche.«
»Mag sein. Ich sah ein albernes Mädchen, das vor einem fremden Recken herumkokettierte.«
Grimhild brach in Gelächter aus, und ihr mühsam aufrecht erhaltener Schutzwall stürzte zusammen.
Oda fiel nicht in das Lachen ein. »Und einen Krieger, der sich nicht für dieses Mädchen interessierte«, sagte sie ernst.
»Warum hat er mich nicht angesehen? Bin ich nicht schön? Jeder Mann dreht sich nach mir um. Warum er nicht?«
»Dafür kann es viele Gründe geben. Wahrscheinlich ist sein Herz schon vergeben. Schlag ihn dir aus dem Kopf, Kind! Es gibt genug Männer, die deiner würdig sind.«
»Ich will Sigfrid und keinen anderen!«, sagte Grimhild, und erst, als sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, dass es die Wahrheit war.
Oda antwortete nicht, sondern fuhr fort, ihr die Haare zu kämmen. Argumente waren hier verschwendet, das wusste sie. Wenn Grimhild sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte nur ragnarök sie daran hindern. Und war es denn so verwunderlich, dass ihre Tochter ihr nachschlug und dem Schicksal auf die Sprünge helfen wollte?
Grimhild ließ sich jetzt willig kämmen. Eine andere Frau. Ja, das war nur allzu wahrscheinlich. Sigfrid sah gut aus, war der Sohn eines reichen Königs und besaß ein gewinnendes Wesen. Sie würde aufpassen müssen, wenn sie erst seine Gemahlin war! Gedankenverloren spielte sie mit einer Strähne ihres Haares. Eine andere Frau. Sie erinnerte sich jetzt an seinen verschleierten Blick und die heimwehkranke Stimme während des Festes. Sie hatte angenommen, er vermisse seine Sippe, aber natürlich … Eine andere Frau. Es machte Sinn.
Thiota fiel ihr ein. Die Seherin konnte mehr als nur die Zukunft aus dem Vogelflug lesen und Runenstäbe werfen. Sicher hatte sie eine Lösung für ihren Kummer. Bestimmt wusste sie, was zu tun war! Grimhild lächelte, schloss die Augen und dachte an Sigfrid. Ja, sie wollte ihn! Und sie würde ihn bekommen!
Vergessen, verlieren
1.
Mit einem Fluch machte Grimhild sich Luft und trieb Fála an. Es war ihr nicht gelungen, vor dem Mittag unbemerkt zu entwischen. Sigfrid wollte am nächsten Morgen abreisen, ihr blieb also nicht mehr viel Zeit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Wenn sie den Mut dazu aufbrachte.
Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken an das, was sie zu tun beabsichtigte, aber noch weniger konnte sie es ertragen, Sigfrid fortreiten zu sehen. Bis zu diesem Sommer hatte sie zwar gelegentlich mit dem Gedanken an einen künftigen Gemahl kokettiert, aber das war ein Spiel gewesen, mehr nicht. Mit ihren sechzehn Jahren konnte sie es sich leisten, noch ein, zwei Sommer zu warten, ehe sie sich ernsthaft mit dieser Frage auseinandersetzte. Und dann war Sigfrid gekommen, und jetzt war alles anders. Zornig dachte sie an den Rat ihrer Mutter, sich mit einem anderen zu begnügen, und hieß den Zorn willkommen, denn er lenkte sie von ihrem schlechten Gewissen ab. Niemals würde sie jemandem erlauben, über ihr Leben zu verfügen, weder dem Schicksal noch ihrer Sippe! Es gab Wege für alles.
Mit einem Ruck zügelte Grimhild ihre Stute.
Wie hatte sie nur so in Gedanken sein können! Vor ihr befand sich jenes Gebüsch, dem sie die schlimmste Erfahrung ihres Lebens verdankte. Lähmung erfasste sie, wie jedes Mal, wenn sie sich der Stelle näherte, an der sie vor gut fünf Jahren ihren Vater gefunden hatte. Ein böser Zauber ging davon aus, die dunkle Aura einer Neidingstat. Grimhild unterdrückte die Übelkeit, die in ihr aufsteigen wollte, wandte den Kopf ab und trieb Fála mit einem Schenkeldruck weiter. Die Stute schnaubte, gehorchte aber. Grimhild ließ Fála kräftig ausholen, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und das Gebüsch zu bringen, und wurde erst ruhiger, als der Ort der Bluttat hinter einem Hügel verschwand.
Vor der Hütte der Seherin sprang sie von ihrem Pferd und zögerte, plötzlich unsicher. Tat sie wirklich das Richtige? Bisher hatte sie Thiota nur um harmlose Dinge gebeten, Fragen nach der Zukunft gestellt, nach ihrem künftigen Mann, nach Kindern, Mädchenfragen eben. Dies war etwas anderes. Zum ersten Mal wollte sie sich der Hilfe der Seherin bedienen, um in den Ablauf des Schicksals einzugreifen. Sie wünschte, Frija würde ihr ein Zeichen schicken, ob das Vorhaben ihre Gunst fand. Aber wann hatten die Götter sich je eindeutig geäußert? Nein, sie würde die schwierige Entscheidung allein treffen müssen. Ein Echo von Sigfrids Lachen hallte durch ihren Kopf, und es war ihr Körper, der die Entscheidung traf, nicht ihr Verstand. Grimhild holte Luft und trat ein.
Die Hütte war schmutzig, doch stärker noch als die fauligen Gerüche und der Anblick von Nachlässigkeit war der Eindruck von Macht. Etwas Ungreifbares beseelte den Raum, eine Spannung, das Echo gewaltiger