und mahnt ihn, die Heilungen aufzugeben. Spalt, der befürchtet, Thuns Wunderheilungen könnten die antikatholischen Vorurteile wieder bestärken, beruft sich in seinem Urteil auf eine Entscheidung der französischen königlichen Kommission des Jahres 1785, die das Prinzip der mesmerischen Heilungen damals verworfen hatte. In einem Brief an Spalt rechtfertigt sich Thun mit dem Hinweis, dass seine Fähigkeit ein physikalisches Phänomen sei und mit Religion nichts zu tun habe.
Die „Niederlage“ in Leipzig entmutigt den 60-jährigen Grafen nicht – jetzt wendet er sich an die Medizinische Fakultät der Universität Wien und bittet um eine wissenschaftliche Prüfung seiner Fähigkeit. Die Fakultät schickt ihm einen Fragebogen zu, den Thun auch ausfüllt. Seine heilende Kraft, so gibt er an, „sei eine Art elektrische Energie, die sich durch eine wandelnde Kombination der Naturkräfte äußere“. (Zitiert nach Cerman, Aufklärung oder Illuminismus.) Wie die Fakultät auf diese Ausführungen reagierte, ist nicht überliefert, das Schweigen der Quellen lässt vermuten, dass er seine Wunderheilungen auch in Wien allmählich eingestellt hat – der Spott in Leipzig hat ihn doch schwer getroffen. In der Folge widmet er sich ganz der Arbeit an seiner großen „Enzyklopädie“, einer „Sammlung alphabetisch niedergeschriebener Wahrheiten“ – das Manuskript dieses Kompendiums zum esoterischen Wissen der Zeit ist im Nachlass im Familienarchiv in Tetschen (Decin) erhalten und umfasst etwa 2.000 Seiten. Im Artikel Glaubens-Bekanntnuß der Enzyklopädie gibt der alternde Mystiker und Schwärmer zu, dass er Fehler begangen habe und sich von Freunden und Verwandten betrügen habe lassen. Er bedauere dies jedoch nicht, „da ihm all das Böse und das Gute die Geheimnisse des menschlichen Herzens offenbart hätten. Ohne all dies hätte er den Menschen nicht kennen gelernt.“ (Zitiert nach Cerman, Aufklärung oder Illuminismus.)
Franz Joseph Thun stirbt 1801 in Wien, ein Jahr nach seiner Frau Maria Wilhelmine.
1756–1819
DER NARREN-
DATTEL
JOHANN
LOCHNER
Jeder, der zum Narrendattel geht, Hat die Absicht, daß er Spaß versteht …
Aus dem Narrendattellied
Donnerstag, 4. März 1813. Europa steht im Zeichen des Kampfes gegen Napoleon. Russische Truppen ziehen in das von den Franzosen geräumte Berlin ein, Preußen steht knapp vor der Kriegserklärung an Frankreich. In der kaiserlichen Residenzstadt Wien hat man anderes im Blick: Die hochlöbliche Polizei-Oberdirektion sieht sich mit einer heiklen Beschwerde konfrontiert: Fürsterzbischof Sigismund Anton von Hohenwart zeigt erbost an, dass sich der Vorstadt-Gastwirt Johann Lochner „vulgo Narrendattel“ am Abend des Faschingdienstags erkühnt habe, in seinem Bierhaus in Lichtental ein „nach kirchlichem Gebrauch eingerichtetes Begräbniß des Faschings“ zu inszenieren, dabei habe er eine „lächerliche pöbelhafte Leichenpredigt“ gehalten. Die Polizei-Oberdirektion sieht den Tatbestand „Herabwürdigung der katholischen äußerlichen Religionsübungen“ erfüllt und lässt den „Narrendattel“ verhaften. Der Übeltäter ist kein Unbekannter, sondern stadtbekanntes Original: Johann Lochner, der Wirt vom Bierhaus „Zur heiligen Anna“ in der Badgasse in Lichtental (Nr. 130, heute Badgasse 29), berühmt für seine Grobheiten, die er den Gästen an den Kopf zu werfen pflegt.
Des Narrendattels „Leichenpredigt“ ist ihm ein Dorn im Auge: Sigismund Anton von Hohenwart.
Für die Predigtparodie wird eine Geldstrafe von 100 Gulden beantragt, die dem Armenfonds zufallen solle, eine Arreststrafe will man dem Hausinhaber und Wirt nicht antun; für die Zukunft werden ihm jedoch „alle unanständigen Scherze bei strenger Verantwortung, alle Beziehungen und Gespräche von Religion sowie die Produzierung kirchlicher Ceremonien“ streng untersagt, ansonsten drohe ihm der Verlust seines Gewerbes. Der Polizeibezirks-Direktion wird aufgetragen, dem zuvor bereits zweimal verwarnten Narrendattel „ununterbrochen“ ihre Aufmerksamkeit zu schenken, immerhin habe man die Gewinnsucht als „Triebfeder seiner pöbelhaften, oft anstößigen Scherze“ erkannt. Johann Lochner betreibt sein Wirtshaus „auf der Wiesen“, wie die Wiener das Lichtental auch nannten, zusammen mit seiner Frau Maria Anna seit dem Jahre 1800; die Bezeichnung „Zur heiligen Anna“ wird 1726 erstmals erwähnt, das Grundstück hat eine Gesamtfläche von 75 Wiener Quadratklaftern, also etwa 270 m2. Das Wirtshaus hat hier Tradition: Auf dem Besitz haftet seit 1699 eine Bierschank-Gerechtigkeit – im Lichtental nichts Außergewöhnliches: Etwa ein Fünftel aller Häuser sind Gaststätten. Das kleine Lokal umfasst ein Schank- und ein Extrazimmer, zehn Tische, drei Doppelbänke, 27 Sessel und ein Kanapee – für die feineren Gäste – bilden die ganze Einrichtung. Über einen kleinen Hof gelangt man zum Gastgarten, von Josef Richter in den Eipeldauerbriefen abschätzig als „Hühnersteign“ bezeichnet.
Ein grünes Käppchen in die Stirne gedrückt, pflegt Lochner seine Gäste mit den legendären Worten zu begrüßen: „Na, ist denn nirgends a Bradl z’haben als da bei mir?“ Jedes „Frauenzimmer“, das in sein Wirtshaus kommt, wird – auch in Begleitung eines Mannes – von ihm „punziert“, das heißt: Er gibt ihm einen Kuss. Lochners Erfolgsrezept sind seine „göttlichen“ Grobheiten, die er den Gästen an den Kopf wirft und über die sich diese „fast bucklicht“ lachen (Emil Karl Blümml und Gustav Gugitz, Altwienerisches).Als Josef Richter 1807 in den Eipeldauerbriefen über den pfiffigen Grobian aus der Vorstadt berichtet, wird Lochner endgültig zu einer Wiener Berühmtheit, das Geschäft blüht. Wie Richter, der mit dem Narrendattel persönlich bekannt ist und von ihm so manche Grobheit einstecken muss, später erzählt, hat der Eipeldauer-Artikel diesem „einige tausend Gulden tragn“.
Altwiener Vorstadt Lichtental: die Badgasse im Jahre 1901. Foto von August Stauda.
Anno 1811 widerfährt dem Wirt in Lichtental die Ehre, zum Helden eines Theaterstücks aufzusteigen. Joachim Perinet widmet ihm ein Lustspiel mit dem Titel Die Zusammenkunft beim Narrendattel, das am 13. Juli 1811 am Leopoldstädter Theater Premiere feiert und beim Publikum großen Anklang findet. Kritiker wie Adolf Bäuerle sprechen zwar von einem „läppischen, elenden Geistesproduct“, doch das kümmert die Zeitgenossen wenig – sogar in Graz, wo das Stück 1812 aufgeführt wird, kommen die Zuschauer in Scharen. Die Titelrolle des Narrendattel verkörpert in Wien Karl Schikaneder, der in Vorbereitung seiner Rolle beim wirklichen Narrendattel „Lektion nimmt“; Johann Lochner selbst verfolgt die Premiere aus einer Loge des Theaters; das Publikum applaudiert ihm am Ende der Vorstellung.
Der Erfolg verlangt wie damals üblich nach einer Parodie und diese wird prompt von einem unbekannten Autor geliefert: Am 18. August 1811 erlebt am Josefstädter Theater das Stück Die Wiedervereinigung beim Narrendattel seine Uraufführung, wieder ist der Zuspruch des Publikums groß, die Figur des Narrendattel wird von Tobias Kornhäusel verkörpert, dem es angeblich gelingt, Johann Lochner „in seiner ganze Eleganz von Grobheit“ darzustellen.
Der Wirt ist populärer denn je, sein Lokal bestens besucht, wie Josef Richter bestätigt: „Seit d’Leut sein Kopie aufn Theater haben kennen glernt, lauft alles ins Lichtenthal hinaus, um’s Original z’kennen, und da hat er sein Gartl täglich voll, und da denkt er sich also, und sagts seinen Gästen so gar ins Gsicht: ich bin ein Narr in mein Sack; ihr seyd aber die wahren Narrn, weil ihr so weit zu mir herauslauft, um Grobheiten z’hohln.“
Der Narrendattel Johann Lochner wird zu einer stehenden Figur, auf ihn bezieht sich Ferdinand Raimund in seinem 1822 verfassten Zauberspiel Die gefesselte Phantasie, wenn der grobe Harfenist Nachtigall im 1.Aufzug, 14.Auftritt, ein „zweiter Narrendattel“ genannt wird.
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