Heinrich Kruspe

Sagenbuch der Stadt Erfurt


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wie sie sich mit den Auswandernden anderen Gauen mittheilten. Ähnlich klingende Sagen treten hier und dort auf und doch haften sie in reinster Ursprünglichkeit am heimischen Boden, ja die immerwährende Wiederkehr bekannter Stoffe ist ein charakteristisches Merkmal der Sage.

      Ein ungeahnt reiches Feld für Sagenforschung bietet unser Erfurt. Von stattlichen Hügeln schauten sonst majestätisch drei berühmte Münster auf ein Meer von Häusern herab und kündeten den Ruhm vergangener Zeiten. Zahlreiche Kirchen ragen aus dem Gewirr der Dächer, dazu eine sonst außerordentlich große Menge von Thürmen, die der Stadt zu dem Beinamen der „thurmreichen“ verhalfen. Noch gürten die doppelten Zwingmauern die Altstadt, sind auch gegenwärtig die letzten Spuren ihrer Thürme vom Zahn der Zeit beseitigt und nur in der äußeren Umwallung zeigen sie, wenn auch nicht in ihrer ursprünglichen Form und Zahl – es sollen ihrer in Summa 200 gewesen sein – die Macht vergangener Tage.

      Noch schwebt über uralten Steinbauten der Geist der Vorzeit und manch übermoostes Wappengebild redet von Heldenkraft und Rittersinn längst erloschener Geschlechter und von allen weiß die geschäftige Sage zu erzählen.

      Ihren Lieblingssitz hat sich die Sage auf dem Domberge erkoren. Um die majestätischen Thürme, von denen die Gloriosa wie der Pulsschlag der Zeit sich vernehmen läßt und selbst wie eine in Klänge umgewandelte Sage uns grüßt aus alter, ferner Zeit, um Chor und Schiff rauscht ihr Flügelschlag. – Um die düstern Hallen der Klöster webt sie den Duftschleier der Poesie und legt noch einen Goldschimmer wie letztes Abendroth um die Stätten, in denen einst zu Erfurts Ruhm und Glanz die Hochschule blühte.

      In mondbeglänzten Nächten flüstert sie den hochragenden Giebeln der ehemaligen Patricierhäuser Erinnerungen alter Pracht und Herrlichkeit zu, schaut von den uralten Steinbrücken zu den Gewässern hinab, in denen die Wassernixe ihr Wesen treibt, wallt zu den öden Plätzen, wo reiche Schätz verborgen liegen – von Zwergen und Mönchen bewacht – oder von weißen Frauen, die mit Schlüsseln klirren – umgangen werden und nur dem Glücklichen sich erschließen; der die Wunderblume fand. Hinaus aus dem dunklen Thore führt sie zum schaurigen Hochgericht und zu Kreuzen und Malzeichen, die, blutigen Mord zu sühnen, man in der Vorzeit errichtete. Dann lenkt sie die Schritte ihrer Begleiter zu stillen Thälern, versunkenen Klöstern und verheerten Dörfern, wo sie den geheimnisvollen Glockentönen, die aus tiefem Schooße der Erde oder aus verschütteten Brunnen sich vernehmen lassen, lauscht.

      Das Kulturgemälde unserer Stadt – im Rahmen der Sage gefaßt – würde gänzlich der Wahrheit entbehren, würden aus Liebe zur Heimath die düstern Schatten, welche unerhörter Aberglaube in den überraschend stark vertretenen Spuk-, Schatzgräberei-, Zauber- und Hexensagen auf das so freundliche Bild der Stadt wirft, ausgeschieden. Sie müssen hier zeigen, wie es mit der guten alten Zeit bestellt war.

       Ostern 1877.

       Der Verfasser

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