sich nach und nach zum größten und wichtigsten Handelszentrum der südlichen Region des ‚Alto-Perú‘, wie die ursprüngliche Audienz Charcas und etwa das heutige Bolivien im letzten Jahrhundert der spanischen Herrschaft genannt wurden, während sie sich auch von Lima politisch und wirtschaftlich immer mehr entfernte.
Seit den Anfängen des 17. Jahrhunderts begannen jedoch die unter dem gnadenlosen spanischen Kolonialjoch leidenden Indios und Cholos hier und dort zu rebellieren und sich gegen die unmenschliche Behandlung sowie die saftigen Steuern und Tribute, die ihnen auferlegt worden waren, aufzulehnen. Die Aufstände waren zunächst überwiegend örtlich begrenzt und konnten deshalb auch mühelos von den herrschenden Militärkräften brachial niedergeschlagen und geahndet werden. Meist wurden die Anstifter gefangen genommen und kurzerhand geköpft oder gehängt. Lediglich größere Rebellionen, wie die des Mestizen Juan Santos Atahualpa von 1742 bis 1756 sowie jene des Indios Condorcanqui, der sich Tupac Amaru II nannte (1780–1782), hielten die Spanier während ihrer Dauer in Atem. Aber es waren regional und auch zeitlich begrenzte Scharmützel, welche die Spanier meist schadlos überstanden.
Es ist verbrieft, dass der erste Ausruf zur Unabhängigkeit von Spanien am 25. Mai 1809 in La Plata, dem heutigen Sucre, erfolgte. Man hatte zwar geglaubt, dass dies wegen der damaligen Invasion Spaniens durch die napoleonischen Kräfte und die Absetzung des verhassten Königs Fernando VII gelingen könnte, aber dies erwies sich als naiv, denn die spanischen Kräfte im Lande reagierten sofort, erstickten diese Revolte im Keim und setzten das von den Aufständischen ernannte Regierungstriumvirat fest. Am 16. Juli 1810 wurde Pedro Domingo Murillo samt weiteren seiner Kameraden am Hauptplatz dieser Stadt, die heute seinen Namen trägt, am Galgen hingerichtet. Seine letzten Worte erwiesen sich als Prophezeiung: ‚Die Fackel, die ich entzündet hinterlasse, kann niemand erlöschen.‘
In der Tat, angeregt durch diese Beispiele, folgten ähnliche Manifestationen überall in Lateinamerika: am 10. August 1809 in Quito, Ecuador; am 25. Mai 1810 in Buenos Aires, gefolgt von Kolumbien, Mexico und Chile. Im Jahr 1811 in Uruguay sowie in El Salvador in Mittelamerika. Aber es sollten noch viele Jahre vergehen, ungezählte Schlachten geschlagen werden mit Tausenden von Opfern, bis die Spanier endlich ihren wertvollsten Schatz aufgaben.
Die eigentliche Befreiung Lateinamerikas von der spanischen Gewaltherrschaft konnte aber erst mit der Geburt des Sohnes eines wohlhabenden spanischen Obersts in Caracas, Venezuela, am 24. Juli 1783 seinen Lauf nehmen. Der jugendliche Simón Bolivar genoss eine außerordentlich gute Erziehung und beendete seinen Militärdienst mit dem Rang eines Fähnrichs. Während seiner ersten Spanienreise begegnete er in Madrid seiner zukünftigen Ehefrau María Teresa, mit der er nach Caracas zurückkehrte, wo sie aber bereits nach achtmonatiger Ehe verstarb. Wiederum reiste er nach Europa, erst Spanien, dann Paris, wo er durch einen seiner früheren Lehrer, Simón Rodriguez, auf die Losungsworte der Französischen Revolution – ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ – aufmerksam und zugleich Zeuge der Krönung Napoleons zum Kaiser der Franzosen wurde. Dort, auf dem Sacre-Coeur, leistete er seinen Schwur, sich und sein ganzes Leben für die Befreiung des Kontinents vom spanischen Joch zu widmen und nicht zu ruhen, bis dieses Ziel erfüllt sei.
So, das war’s dann für heute. Das nächste Mal erzähle ich mehr über den Verlauf der Freiheitsbestrebungen und des Unabhängigkeitskrieges.“
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Clarissa empfängt den strahlenden Oliver mit einem Kuss und er überreicht ihr stolz sein erstes Monatszeugnis, das ihm in der Schule ausgehändigt wurde. Schon seit zwei Monaten geht er eifrig zum Unterricht und arbeitet auch fleißig mit seinen Eltern zu Hause, um das fehlende Pensum nachzuholen. Gut, dass Mitschüler Alfred Kahn auch in der Casa Azul wohnt. Von ihm kann sich Oliver die Hefte ausleihen. Betroffen schaut die ehemalige Grundschullehrerin aus Oldenmoor auf das Zeugnis des Sohnes: lauter Dreier, Vierer und sogar Fünfer! Wie kann das angehen? Zu Hause ist sie doch mit seinen Leistungen durchaus zufrieden. Heiko, der heute ausnahmsweise zum Mittagessen in der Casa Azul erscheint, umarmt seinen Jungen begeistert und belächelt die Enttäuschung seiner Frau.
„Wie kannst du dich nur über dieses Zeugnis freuen? Ich hatte doch wirklich ein besseres Ergebnis erwartet!“, sagt sie entrüstet.
„Liebe Prinzessin“, kontert Heiko belustigt, „du weißt doch längst, dass hier die Uhren anders herum ticken, nicht wahr? Dies trifft ebenfalls auf die Schulnoten zu. Im Gegensatz zu unserem Benotungssystem geht es hier von 1 – das ist die schlechteste Note – bis 5 – sehr gut – und du kannst deshalb unserem wackeren Oliver zu seinem ersten Durchschnitt von 3,6 – also tendenziell eher gut als befriedigend – durchaus gratulieren, oder?“ Eine erleichterte Clarissa schließt nun den Jungen in die Arme. Um ihre Verwirrung zu vertuschen, versteckt sie ihr Gesicht an seiner Schulter.
Oliver scherzt vergnügt: „Aber Mami, wie konntest du nur glauben, dass ich in der Schule so schlecht bin?“
Oliver hat sich sehr rasch im Schulunterricht eingefügt. Mit seinen Klassenkameraden hat er bald Freundschaften geschlossen, so auch mit Mitbewohner Alfred, aber vor allem mit Werner Weinheber. Bei Rektor Bamberger erhalten sie spanischen Unterricht: In Rechtschreibung, beim Lesen, in Grammatik und beim Diktatschreiben hat Oliver durchweg eine 4; ebenso gut benotet ihn Kantor Bremer in Musik und Chorsingen. Beim Rechnen gibt ihm Dr. Ascher eine sehr gute 4,5. Religion und Sport dagegen interessieren den Jungen nicht so sehr, deshalb hat er jeweils eine 3 bekommen. Die jeweilige 5 in Zeichnen, Basteln und Betragen haben wohl seinen Durchschnitt angehoben. Klassenlehrer Bremer hat am Zeugnisrand bemerkt: „Der Schüler ist etwas verspielt und lässt sich gelegentlich vom Unterricht ablenken.“
Auch die kleine Lissy geht gern in den Kindergarten, dort hat sie bereits mit der gleichaltrigen Marion Freundschaft geschlossen – zufälligerweise Werner Weinhebers Schwester. Rasch vergehen die restlichen Monate des Schuljahres 1940: Am 25. Oktober bringt ein strahlender Oliver sein Versetzungszeugnis mit einer glatten 4 als Durchschnittsnote nach Hause. In der Casa Azul gibt es zu diesem Anlass eine kleine Kakao- und Kuchenfeier. Auch Alfred ist mit einem guten Ergebnis versetzt worden. „Onkel“ Josef und „Tante“ Frauke sind ebenfalls zugegen und es herrscht große Begeisterung, als Josef den beiden Buben verkündet, dass sie als Prämie für ihre guten Leistungen die Sommerferien auf der Hacienda Guayrapata verbringen dürfen. Auch Thea Kahn und Moses Kovacs dürfen sich freuen, denn sie sind ebenfalls eingeladen, ihre Ferien auf der Hacienda zu verbringen.
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„Liebe Mitbewohner, heute will ich euch den Rest von Boliviens Geschichte erzählen.“ Heiko macht sich bereit.
„Beim letzten Mal erwähnte ich Simón Bolivars Bedeutung für die Befreiung und Unabhängigkeit Lateinamerikas von Spanien. In der Tat war sein ganzes Lebenswerk dieser Aufgabe gewidmet. Zunächst gelang es ihm und seinen Mitstreitern, sein Geburtsland, Venezuela, im April 1810 für unabhängig zu erklären. Kurzerhand nahmen sie alle spanischen Funktionäre gefangen und schickten sie auf einem Schiff zurück nach Hause.
Spanien reagierte mit einer Seeblockade der venezolanischen Küste, wurde aber durch eine starke Flotte der Engländer, die sich ja im Krieg mit Napoleon befanden, in Schach gehalten. Dennoch gelang es den Aufständischen zunächst nicht, die royalistisch gesinnten Kräfte im eigenen Lande zu bezwingen. Es bedurfte noch zahlreicher blutiger Schlachten und schließlich eines allgemeinen Volksaufstandes, um das Land endgültig von den Spaniern zu befreien. Diese Rebellion kam immer mehr ins Rollen, gerade wegen der Grausamkeit, mit der die Spanier sie mit allen Kräften verhindern wollten. Als Anerkennung für seine Verdienste verlieh man dem inzwischen zum Oberst aufgestiegenen Bolivar im Jahre 1813 den Ehrentitel ‚El Libertador‘, der Befreier.
Leider erfuhren die weiteren Befreiungsbemühungen Bolivars immer wieder herbe Rückschläge durch endlose Querelen und Rivalitäten zwischen den Anhängern verschiedener Interessengruppen, so dass Venezuela erst nach der entscheidenden Schlacht von Carabobo im Jahr 1821 endgültig zur befreiten Nation wurde. Mit den inzwischen ebenfalls befreiten Colombia, Panamá, Ecuador und Venezuela gründete Bolivar seinen großen Traum: das vereinigte ‚Gran Colombia‘, eine Utopie, die leider schon wenig später an den unterschiedlichen und egoistischen Interessen der einzelnen Länder scheiterte.
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