Manfred Eisner

Cantata Bolivia


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stellt Herr Kahn kurz darauf fest. „Könnten Sie uns vielleicht in einigen Vorträgen die Geschichte des Landes etwas näherbringen?“

      „Oh, ja, Heiko, tue das bitte!“, fällt Clarissa mit Begeisterung ein. „Dafür bist du wie geschaffen, mein Lieber!“ Heiko überlegt ein wenig, dann stimmt er zu: „Also gut, ich bin einverstanden. Wenn Sie alle dies möchten, bin ich gern dazu bereit. Aber geben Sie mir ein wenig Zeit, um mich darauf vorzubereiten, in Ordnung?“

      Wenig später sitzt Heiko, nachdem er seine Arbeit in der Bäckerei vollendet hat, einige Nachmittage in der Biblioteca Municipal und schreibt eifrig Wissenswertes aus diversen Geschichtsbüchern ab, die er entliehen hat. Besonders beeindrucken ihn die hanebüchenen Berichte des Dominikanermönchs Bartolomeo de las Casas über das Massaker, das die spanischen Conquistadores unter der Inka-Urbevölkerung bei und nach der Eroberung ihres Reiches verübten, dem Territorium, auf dem die heutigen Länder Kolumbien, Ecuador, Perú und Bolivien liegen.

      Ein paar Wochen später ist Heiko dann bereit, mit seiner Vortragsreihe zu beginnen. Aufmerksam verfolgen seine Zuhörer, zu denen sich auch Frauke und gelegentlich Josef gesellen, sofern dieser gerade in La Paz und nicht auf der Hacienda weilt, seine Ausführungen. Um seine Zuhörer nicht mit zu vielen Details zu überfordern, beschränkt er sich auf das Wesentliche.

      „Nun, für unser Verständnis fing hier wohl alles im Jahre 1492 mit der zufälligen Entdeckung Amerikas durch Cristóbal Colón an. Ich nenne ihn bewusst bei seinem spanischen Namen, damit euch die hiesigen Ausdrücke geläufiger werden. Übrigens, ihr habt vermutlich bereits seine beeindruckende Statue aus weißem Marmor am Prado bewundern können. Es war eine Spende der hiesigen italienischen Kolonie.“

      Erwartungsvoll blickt Heiko in die Runde seiner Zuhörer und erntet Zustimmung durch allgemeines Kopfnicken.

      „Es ist bekannt, dass Colón im Auftrag der spanischen Krone mit seinen drei kleinen Karavellen – Santa Maria, Pinta und Niña – eigentlich auf der Suche nach einem direkten und kürzeren Seeweg nach Indien war. Da kam ihm doch unerwartet der amerikanische Kontinent sozusagen in die Quere. Weil er anfänglich dachte, er sei tatsächlich in Indien angelandet, nannte Colón die Eingeborenen Indios, und seine damalige Fehleinschätzung hat bis heute Bestand. Jedenfalls kniete er auf jener Insel, die er ‚La Española‘ taufte (und die sich heute die Dominikanische Republik und Haiti teilen), nieder und nahm damit ebenfalls den riesigen Kontinent im Namen seiner katholischen Majestäten von Castilla, Isabel und Fernando II, in Besitz.

      Aber es ist nicht so, dass hier, auf diesem Erdteil, alles mit dem Eintreffen der Spanier begann, nein, durchaus nicht. Es existierte auf dem amerikanischen Kontinent schon seit vielen Jahrhunderten die sogenannte Präkolumbianische Ära. Während die Europäer sich noch im dunkelsten Mittelalter befanden, waren es die Inkas, unter deren Herrschaft bereits die umfangreiche Zivilisation Südamerikas in den für uns bedeutsamen, hiesigen Gebieten der Anden entstand. Deren gesamtes Reichs-Territorium, das sogenannte Tahuantinsuyo, umfasste vier Suyos oder Teilgebiete im Norden, Osten, Süden und Westen. Die unsere, die südliche Region, nannte sich Collasuyo.

      Der bedeutendste Gebieter oder Inka war nicht unbedingt ein erstgeborener Nachkomme des vorherigen Herrschers, sondern wurde wegen seiner besonderen Eigenschaften als Regent gewählt. Nach seiner Wahl hielt er sich stets fernab von seinen Untertanen. Alles, was mit ihm in Berührung kam, betrachtete man als heilig. Getragen wurde er in einer Sänfte, denn eine Bodenberührung hätte, bedingt durch seine Heiligkeit, unweigerliche Katastrophen auf der Erde verursacht. Neben dem Inka gab es noch einen ihm beigeordneten Landesverweser, der sich um die üblichen Regierungsgeschäfte zu kümmern hatte.

      Gemäß der Legende wurde das Imperium durch den ersten Inka, Manco Cápac, ein vom Sonnengott Inti Entsandter, begründet. Er entstieg dem Lago Titicaca in Begleitung seiner Ehefrau, Mama Ocllo, und gründete die Reichshauptstadt Cuzco, heute in Perú. Ungefähr ein Dutzend Inkas regierten schließlich nacheinander das Imperium bis zur Ankunft der spanischen Conquistadores Francisco Pizarro und Diego de Almagro im Jahre 1532. Der Krieger Atahualpa hatte seinen Bruder Huascar durch einen militärischen Coup aus dem Amt verdrängt und sich selbst als Inka inthronisiert. Später ließ er den Bruder sogar ermorden.

      Die von Atahualpa ausgesandten Späher überwachten die 168 mit Pizarro in Tumbes angelandeten Soldaten, von denen 37 beritten waren, bei ihrem Vormarsch. Sie berichteten ihrem Herrscher, dass es sich wohl um weiße Götter handelte, die in Eisen gekleidet seien, auf wilden Monstern ritten und sehr laute, feuerspuckende Stäbe mit sich führten. Der Inka hielt dies für ein gutes Omen und sandte ihnen Emissäre entgegen, um die Götter zu sich einzuladen. Diese falschen Götter waren aber zunächst von Reichtum und Kultur der Ureinwohner stark beeindruckt, ebenso wie von deren offensichtlich zahlreichen Streitkräften, über die ihr Herrscher verfügte. Allerdings war die primitive Bewaffnung der Inka-Armee mit Schleudern, Speeren und Piken derer der Spanier stark unterlegen. Diese zählten zudem auf die psychologische Wirkung, die ihre wild wiehernden und sich aufbäumenden Pferde sowie das ohrenbetäubende Krachen der Musketen unter den verschüchterten Indios verursachen würde.

      Nach einer ersten Begegnung der Emissäre, bei der beiderseitig Geschenke ausgetauscht wurden, luden die Spanier den arglosen Inka Atahualpa zu einer Feier ein. Seine Präsente, darunter zwei wertvolle, große und massive Goldbecher, hatten die Gier der Eroberer nach noch mehr Reichtum geweckt. Man nahm den Inka gefangen und sperrte ihn kurzerhand in einem großen, dunklen Raum ein. Als ein Pfarrer ihm Bibel und Kruzifix hinhielt, nahm Atahualpa wortlos zunächst das eine, dann das andere in die Hand, schüttelte beides, hielt die Gegenstände an sein Ohr, und als er nichts wahrnahm, warf er sie despektierlich zu Boden. Seine ahnungslosen Gesten – in den Augen der Conquistadores ein unverzeihlicher Frevel – brachten ihre Wut zum Lodern und man wollte ihn auf der Stelle töten. Aber Pizarro gebot seinen Leuten Einhalt. Ein eilig einberufenes Inquisitionsgericht verurteilte den Monarchen wegen Brudermordes, Häresie, Beleidigung und Schändung von Heiligtümern der katholischen Kirche, wegen Irrglaubens und noch weiterer abstruser Beschuldigungen zum Tode auf dem Scheiterhaufen.

      Über einen Dolmetscher, der sowohl etwas von der geläufigen Inka-Sprache – bis heute sind sich die Gelehrten nicht einig geworden, ob diese nun Aymara oder aber Quechua war – verstand als auch schlechtes Castilianisch sprach, bot Atahualpa den Eroberern als Lösegaben für sein Leben, seinen Gefängnisraum mit Gold bis zu jener Höhe zu füllen, die er auf Zehenspitzen erreichen konnte. Man schätzt den heutigen Gegenwert des angebotenen Lösegeldes auf etwa 600 Millionen US-Dollar.

      Die Spanier gingen zunächst zum Schein auf das Angebot ein. Aus dem ganzen Tahuantinsuyo machten sich Abertausende von Trägern auf den Weg, die alle zusammengetragenen Goldgegenstände nach Cajamarca, dem Ort, an dem der Inka gefangen gehalten wurde, bringen sollten. Ein Feind Atahualpas verbreitete die Lüge, dass der Inka die ihm gewährte Frist für eine Rebellion gegen die Spanier nutzen wolle. Als ihm dies zu Ohren kam, ordnete Pizarro an, die Todesstrafe sofort zu vollstrecken. Da der Inka wegen der körperlichen Unversehrtheit seines Leichnams – gemäß seines Glaubens, die Bedingung für sein auf dem Tode folgendes, ewiges Leben – schließlich einwilligte, sich taufen zu lassen, wurde am 26. Juli 1533 die Todesstrafe anstatt auf dem Scheiterhaufen durch Strangulation mittels Knebel vollstreckt. Als den Trägern des Goldschatzes die Nachricht vom Tod ihres Inkas überbracht wurde, änderten sie schlagartig ihre Route. Wohin sie den sagenhaften Goldschatz verbrachten und wie und wo sie ihn versteckten, ist bis heute ein großes Geheimnis.

      Unzählige Expeditionen aus allen Ländern der Erde suchen noch heute diesen immensen Goldschatz, der den geheimnisträchtigen Namen ‚El Dorado‘ trägt.

      Ich glaube, fürs Erste dürften die geschilderten Grausamkeiten genügen, nicht wahr?“, versucht Heiko seine Zuhörerschaft aufzumuntern. „Hoffentlich könnt ihr dennoch in der heutigen Nacht ohne schlimme Träume gut schlafen. Das nächste Mal mehr von der Eroberung des Landes und der Plünderung der Indios durch die spanischen Conquistadores. Ich wünsche euch allen eine gute Nacht!“

      Für seinen ersten Teil des geschichtlichen Vortrages erntet Heiko einen wohlverdienten Applaus.

       * * *

      Während die Familie Keller sowie die übrigen Immigranten