seine Mutter besorgt.
„Geh doch hin und frag ihn“, antwortet Clarissa, denn auch sie ist verunsichert.
„Señor, por favor, la casa blanca?“, fragt Oliver den Chauffeur.
„En 10 minutos, más o menos.“
Immer wieder dieses „más o menos“, sinniert Clarissa amüsiert. Man hört es hier ständig. Es bedeutet so viel wie „mehr oder weniger“ aber eher „Nichts genaues weiß man nicht“, wie wir bei uns sagen würden.
Kurz darauf verlangsamt der Kleinbus die Fahrt und überquert sehr behutsam die ächzende Holzbrücke über einem darunter munter strömenden Fluss. Nachdem sie an der anderen Talseite noch etwa 500 Meter gefahren sind, kommt das Fahrzeug zum Stehen. Der Chauffeur blickt in den Rückspiegel und meldet zur Erlösung Clarissas und der Kinder: „Puente Villa, Señora, la casa blanca.“
Erleichtert und mit steifen Gliedern steigen die drei aus. Feuchte Hitze schwebt ihnen wie ein Hauch entgegen. Agil klettert der Indiojüngling auf das Dach des Colectivos und reicht Clarissa das Gepäck herunter. Clarissa bedankt sich beim Fahrer, drückt ihm 5 Bolivianos in die Hand und gibt schließlich auch dem „chico“ 2 Bolivianos.
Mit einem strahlenden Lächeln kommt ihnen Hans Adler, ein strahlender, robust und jugendlich wirkender Vierziger, entgegen. „Bienvenidos, willkommen in unserem schönen Yungas, junge Frau, und auch ihr seid willkommen, liebe Kinder.“ Er begleitet sie zur weiß getünchten, im Schatten liegenden kleinen Hütte, wo sie von einem bereits etwas älter wirkenden Indio ebenfalls freundlich begrüßt werden. „Mariano ist zwar erst fünfunddreißig Jahre alt“, erläutert Herr Adler und antwortet damit auf die in Clarissas Miene liegende stumme Frage, „jedoch ist er wegen der tückischen Terciana, eine hier grassierende, besonders schwere Abart der Malaria, die bei ihm regelmäßig alle drei Tage starke Fieberanfälle auslöst, derart auffällig gealtert. Zudem sind seine Pupillenränder gelb anstatt, wie üblich, weiß gefärbt.“
Ziemlich erschüttert von dieser Aussage sieht sich Clarissa im Miniladen um: Offene Säcke mit getrockneten Cocablättern, gelben Erbsen, Saubohnen, Reis und Nudeln stehen am Boden; Sardinenkonserven, Getränkeflaschen und Zigaretten füllen die Regale. Neben dem Eingang fallen ihr die dort lagernden grünen Bananenstauden auf.
Marianos Frau öffnet Bier- und Coca-Cola-Flaschen und serviert Clarissa und den Kindern die lauwarmen Getränke in emaillierten Blechbechern. Für die Kinder gibt es Kekse dazu.
„Tja, liebe Frau Keller“, sagt Hans Adler, nachdem sie getrunken haben, „wir müssen uns wohl oder übel noch so lange gedulden, bis Ihr Mann und der Patrón mit seiner Frau ebenfalls hier eintreffen.“ Dann geht er mit ihnen an die Tür der Hütte und deutet auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Dort drüben stehen unsere treuen Mulas, die uns nachher zur Hacienda bringen werden.“
In freudiger Erwartung blickt Oliver auf die zehn in einer Reihe angeleinten Maultiere, die mit regelmäßigem Stampfen der Hufe und rundum schlagendem Schweif wiederholt versuchen, lästige Fliegen und Mücken loszuwerden, die sie umschwärmen. Skeptisch beäugen dagegen Clarissa und die kleine Lissy diese Tiere. Die Ankündigung Herrn Adlers will ihnen gar nicht so recht gefallen.
Einige Stunden sind inzwischen vergangen. Zahlreiche bis oberhalb des Gitterrandes mit Waren beladene und mit einheimischen Fahrgästen besetzte Camiones sind bereits an der Casa Blanca vorbeigefahren, ohne jedoch die erwarteten Nachkommenden abzusetzen. Als Clarissa diesen hiesigen, offenbar allgemein üblichen Reisemodus beobachtet, ist sie im Nachhinein sehr froh, wenigstens bis hierher mit dem Colectivo gefahren zu sein.
Hans Adler hält einen der Lastwagen an und erkundigt sich beim Fahrer, ob er irgendetwas von den drei Gringos bemerkt oder sie gar gesehen habe. Dieser bejaht, er habe besagte Ausländer, zwei Männer und eine Frau, bei der Abfahrt aus La Paz gesehen, als sie mit einem Kollegen verhandelten. Er wisse aber, dass dieser noch nicht seine gesamte Ladung beisammen hatte und deswegen wohl erst später kommen werde.
Und tatsächlich vergeht die Zeit, ohne dass sich etwas tut. Die Sonne neigt sich bald bis zu den Berggipfeln herab. „Ich werde auf die anderen warten“, entscheidet Herr Adler plötzlich. „Aber Sie sollten unbedingt mit den Kindern noch vor Sonnenuntergang von hier weg, weil sehr bald die Malariamosquitos ausschwärmen werden.“ Er führt sie zu zwei der Mulis und verstaut einen Teil ihres Gepäcks in den Seitenfächern der „alforjas“, das sind auf beiden Sattelseiten herunterhän-gende Satteltaschen. „Haben Sie keine Angst, Chiquita und Bonita kennen ihren Weg nach Hause. Machen Sie sich also keine Sorgen, sie werden Sie sicher hinaufbringen.“
Nachdem er die Haltegurte der Sättel an beiden Maultieren fest angezogen hat, hilft Hans Adler zunächst Clarissa in den breiten Sattel auf Chiquitas Rücken und setzt dann die eingeschüchterte Lissy davor. Oliver stellt sich auf einen Stein und kann von da aus selbst in Bonitas Sattel steigen. Hans Adler passt die Steigbügelriemen der Beinlänge der Reitenden an und reicht ihnen die Zügel. Dann bindet er die Tiere los, gibt ihnen einen leichten Klaps auf die Kruppen, und unter seinem lauten ‚Vamos, vamos!‘-Ruf setzen sich die Mulis gemächlich entlang der Autostraße in Bewegung. Den drei Reitern ist zunächst, gelinde gesagt, sehr sonderbar zumute. Nach einer Kurve verschwinden hinter ihnen die Casa Blanca und der mitten auf der Straße stehende und ihnen hinterherwinkende Hans Adler.
Zunächst führt sie ihr Weg in gemächlichem Gang entlang der Autostraße, bis auf einmal hinter einer scharfen Rechtskurve beide Tiere abrupt vor einer kleinen Holzbrücke stehen bleiben. Die vorangehende Chiquita richtet die langen Ohren spitz nach vorn, stutzt, verlässt kurzerhand die Straße und watet, sehr zum Schrecken ihrer beiden Amazonen, vorsichtig durch das sprudelnde Wasser des kleinen Flusses. Lissy quittiert das Unternehmen mit einem gellenden Schrei. Beherzter als die Vorreiterinnen drückt Oliver seiner Bonita die Hacken in die Flanken, so wie Herr Adler ihn instruiert hat. Auf seinen „Vamos!“-Ruf folgt Bonita brav seiner Anordnung. Diese Begebenheit hat vor allem bei der Weiblichkeit wahrliches Herzklopfen ausgelöst!
Nach Durchqueren des Flusses gelangen beide Maultiere zurück auf die Landstraße und traben einige Hundert Meter weiter, bis sie plötzlich scharf nach rechts abbiegen, um ruckartig einem steilen, engen Pfad schrittweise den Berg empor zu folgen. Der Trampelweg der Mulis schlängelt sich am Berghang entlang und führt an manchen Stellen für eine kurze Wegstrecke über ebene Pfade, doch dann folgen wieder steile Anstiege. Gelegentlich bleiben die Tiere kurz stehen, um am Wegrand saftiges Gras abzubeißen. Schließlich setzen sie, genüsslich kauend, ihren Weg fort.
Schon bald beginnen sich die für die Reitbewegungen völlig untrainierten Sitzflächen schmerzhaft zu melden. „Mami, Mami, ich will runter!“, klagt als Erste die genervte Lissy.
Clarissa zieht an den Zügeln, woraufhin Chiquita artig stehen bleibt. „Oliver, bitte, hilf ihr doch!“
Auf den Ruf seiner Mutter steigt Oliver von Bonita ab und hilft der Schwester aus dem Sattel. Lissy und Oliver gehen nun für einige Minuten langsam den Mauleseln hinterher. Dann wechseln sie immer wieder zwischen Gehen und Reiten, denn das Bergangehen treibt ihnen bald den Schweiß aus den Poren, aber auch der schmerzende Popo meldet sich abermals, als sie wieder im Sattel sitzen.
Die Sonne versteckt sich schon bald hinter den Bergen und macht einer kurzen Dämmerung Platz. Wunderschöne, tiefrot gefärbte Schleierwolken sind am Himmel zu sehen, und wenig später changieren sie in eine graublaue Färbung. Den dreien wird es zunehmend unheimlich und sie bleiben nun trotz aller Beschwerlichkeiten doch lieber im Sattel. Plötzlich ist es dunkle Nacht. Unbeirrt setzen die Mulis mit sicherem Gang ihre Route fort. Wie schlafwandlerisch folgen sie dem Weg selbst in dieser fast totalen Finsternis, die nur seicht durch die große Anzahl Sterne am Firmament erhellt wird. Nach dem unendlich anmutenden, zweieinhalbstündigen Ritt bleiben Chiquita und Bonita unerwartet vor der Tranquera, einer aus drei quer ausgerichteten Baumstämmen bestehenden Pforte, abrupt stehen.
Aus der Dunkelheit kommend, nähert