nachdem er an dem ihm zugewiesenen und extra für ihn gestalteten Arbeitsplatz an einem kleinen Pult seine Hausaufgaben erledigt hatte, sagte er seiner Mama Bescheid. „Fein, Günther! Wir trinken jetzt noch heiße Schokolade und dann kannst du spielen gehen!“ Wenn Günther dann erschien, sah er wiederum wie aus dem Ei gepellt aus. Er hatte offene Sandalen an, weiße lange Kniestrümpfe, eine kurze, braune Hose und ein schönes Nicki. Gegenüber seinem Schulgang war das Ganze jetzt schon etwas abgemildert, denn früh sah er noch schnuckeliger aus. Die Haare waren fein gescheitelt und mit irgendeiner Klebemasse in ihrer Lage ziemlich haltbar gemacht, so dass er selbst nach einer Schularbeit, wo man sich vor Verzweiflung am Kopf kratzt, noch genauso aussah wie früh, als er tadellos gepflegt ankam. Wenn ich ehrlich sein soll – das Ganze regte mich ziemlich auf. So picobello wie er hergerichtet war, benahm er sich auch – immer etwas besonders fein, arrogant und überheblich. „Was wollt ihr denn von mir, ihr kleinen Scheißer auf diesem Dorf? Ich werde euch noch zeigen, wer ich bin und vor allem, wie viel ich drauf habe, ihr kleinen Dilettanten!“ Günther war vielleicht eine Stirnbreite größer als ich, dafür etwas breiter und kräftiger. Er trug lange blondbraune Haare. Im Gesicht hatte er ziemlich viele Sommersprossen, welche besonders dicht um seine etwas zu groß geratene Nase, besonders an den Nasenwurzeln, auftraten. Mich störte auch, dass die Backenknochen etwas zu weit vorstanden. Das ging aber vielleicht noch, allerdings war seine Mundpartie eine echte Scheiße. Meine Mutter unterschied immer zwei Kategorien an Mundausführungen. Bei der einen sagte sie verächtlich: „Die oder der hat eine Überknöpflippe!“, bei anderen: „Die oder der hat eine Unterknöpflippe!“ Günther hatte auf alle Fälle eine Überknöpflippe, d. h. seine Oberlippe ragte beträchtlich über die untere hinaus. Man hatte den Eindruck, dass die Kinnlade ein klein wenig weiter nach vorne hätte geschoben werden müssen. Dem war aber eben nicht so und da sah es eben ziemlich dämlich aus, fand ich. Günther hatte ziemlich große und lange Schneidezähne, welche aber nicht, wie üblich, senkrecht nach unten gewachsen waren – nein, diese Hauer ragten etwas schräg nach vorn. Es ist deutlich erkennbar, dass ich den Günther, von Anfang an, nicht so recht leiden konnte. Schließlich war er aber der Einzige, der bei mir in der Nähe wohnte. In der Schule war ein ziemlicher Konkurrenzkampf um gute Zensuren zwischen uns, was ihn aber offensichtlich mehr belastete als mich.
Mir fällt jetzt schlagartig ein wunderschöner Witz ein, den mir mein großer Sohn Sven erzählte. Er betrifft die zwei Mundpartiekonstruktionen, welche meine Mutter offensichtlich immer sehr berührten. Mit Sicherheit ist es allerdings mehr ein Witz zum Zuhören und vor allem Zuschauen – ach was! Ich versuche es trotzdem einfach einmal! In einer Kneipe sitzen zwei junge Männer bei zwei Dingen – beim Rotwein und beim Kerzenschein. Der eine der beiden hat eine Oberknöpflippe, der andere das Gegenteil davon. Nachdem sie lange getrunken und erzählt hatten, sagte der mit der Oberknöpflippe zu dem anderen mit der Unterknöpflippe: „Lass uns nun den schönen Abend beenden. Wir sollten jetzt gehen. Blase doch bitte mal die Kerze aus!“ Der mit der Unterknöpflippe bläst auf die Kerzenflamme, aber leider geht sein warmer Luftstrahl nur vom Unterkiefer knapp am Oberkiefer vorbei senkrecht nach oben. Enttäuscht sagt er „Blase du doch einmal, bitte!“ Der mit der Oberknöpflippe bläst, aber leider geht der warme Luftstrahl nur von der Oberlippe am Unterkiefer vorbei senkrecht nach unten. Beide sind ziemlich enttäuscht, rufen den Kellner. „Herr Ober, bitte blasen Sie mal die Kerze aus!“
„Selbstverständlich, meine Herren!“ Der Ober bläst mit beiden Lippen, welche, schön anzuschauen, fein übereinander angeordnet sind. Dazu öffnet er leicht den Mund und der warme Luftstrahl, welcher waagerecht seine Lippen verlässt, bläst sofort das Kerzenlicht aus. Der mit der Oberknöpflippe und jener mit der Unterknöpflippe reagieren mit enormer Empörung. „Hast du diese blööööööde Gusche gesehen?“
Als Schlüsselkind, das ich war, ging ich mittags nach Hause, trat durch die Haustür in den Flur, schloss die Tür zur Küche auf und war daheim. Rasch legte ich meinen Ranzen auf das Sofa, schlüpfte in die Hauspantinen, wusch mir befehlsgemäß (laut Papa) die Hände und lief zu meinem Versorgungszentrum. Mutti hatte immer in der Sofaecke einen Topf drapiert, welcher in eine Decke eingewickelt und zur besseren Wärmehaltung in eine Menge von Sofakissen eingepackt war. Mitunter war Eintopf darin enthalten. Es kam aber auch vor, dass ich mehrere Töpfe auspacken musste und zwar dann, wenn es Kartoffeln mit Fleisch in der entsprechenden Sauce und irgendein Gemüse, zum Beispiel Spinat, zusätzlich gab. Nach dem Essen musste ich nicht aufwaschen – diese Order hatte ich nicht. Also spülte ich leidlich ab und ließ dann überall Wasser hinein, denn ich hatte mitbekommen, dass ein „Anbacken“ der Lebensmittel an den Topf sehr nachteilig war. Danach war ich dann frei für den Ausgang. Häufig kam es vor, dass Mutti im Gemeindeamt länger, d. h. sehr lange arbeiten musste. Dazu kam sie meist kurz nach Hause, um dann nach einer halben Stunde wieder zu verschwinden. Es war ein herrlicher Sommertag gewesen, sehr freundliches, laues Wetter. Mutti brachte mich 21 : 00 Uhr ins Bett. „Schlaf schön, mein guter Klausmann, ich muss noch zwei bis drei Stunden arbeiten.“
„Immer musst du länger arbeiten. Was macht ihr denn da so?“
„Wir müssen alle Viehbestände und später sämtliche Feldbelegungen pro Bauernwirtschaft zusammenstellen und alles dem Kreisamt übermitteln. Wir stellen also zusammen, wie viel Hühner, Hähne, Schafe, Schweine, Rinder, Pferde uns so weiter und so fort der entsprechende Bauer sein eigen nennt. Jetzt muss ich aber gehen. Schlaf schön, Klaus! Bis morgen früh! Die Fenster lasse ich angekippt, damit du frische Luft hast, bei dieser Wärme.“ Als braver Junge schlief ich natürlich rasch ein. Auf einmal hörte ich Stimmen, Schreien, Lachen, irgendein Gepolter und Gekreische, wurde munter. Ich ging in alle Zimmer. Niemand da! Draußen ging der Lärm weiter. Dieses Mal hörte ich bedrohlich tiefe Männerstimmen. Vor diesem lauten, krächzenden, teilweise bassartigem Geschrei hatte ich schon immer Respekt und Angst – genau diese beschlich mich jetzt. Ich wurde fahrig, nervös, hatte Manschetten. In äußerster Hast zog ich mir meine Turnschuhe an, öffnete das Erdgeschossfenster und mit dem linken Fuß von einer Fußbank abgestoßen, kam ich flott auf die Sohlbank und sprang hinaus. Haste was kannste rannte ich mit schnellen Schritten und keuchendem Atem zum Gemeindeamt, stellte mich auf die Sohlbank des Kellerfensters und konnte geradeso das Parterrefenster erreichen, damit ich an das Glas klopfen konnte. Das Fenster öffnete sich und heraus schaute – nicht meine Mutti oder die gutmütige Lisbeth, sondern der Bürgermeister. Ich erschrak und antwortete auf seine Frage „Zu wem willst du denn, kleiner Junge?“ mit zittriger Stimme: „Zu meiner Mutti – die muss doch hier drin sein.“ Der Bürgermeisterkopf verschwand und rasch erschien das aufgeregte und ängstliche Gesicht meiner Mama. „Oh Gott, Klausmann, ist was passiert?“
„Nein, ich habe aber Angst. Bei uns waren so böse, schreiende Männerstimmen.“ Mutti schloss das Fenster und kam durch den Haupteingang heraus. „Du musst keine Angst haben, Klausmann. Ich bring dich jetzt nach Hause und dann wird alles gut.“ Als wir losgingen, öffnete sich erneut das Hochparterrefenster und der Bürgermeisterkopf erschien erneut. „Du kommst aber wieder, Gretel. Spätestens 23 : 00 Uhr hören wir auf, denn da müssten wir die Listen geschafft haben. Nun habe ich endlich mal deinen Sohn kennengelernt. Bis gleich!“ Mutti brachte mich nach Hause und das Prozedere des ersten Zubettgehens von 21 : 00 Uhr wiederholte sich. Am nächsten Tag sagte Mutti zu mir: „Klausmann, bei deiner gestrigen Laufaktion im Schlafanzug zum Gemeindeamt hat dich eine große Corona gesehen. Die kamen alle vom Biertrinken bei Leistners und waren sehr erstaunt, dass Jungs in Kleinwaltersdorf im Schlafanzug durch die Gegend rennen. Hast du denn davon nichts gemerkt?“
„Klar habe ich die gehört. Die wollten mir Angst machen und haben gesagt, sie kämen vom Mummum und ich sollte nur sehen, dass ich schnell wegkomme, sonst würde der mich abfangen und in den tiefen, dunklen Wald mitnehmen. Da bin ich natürlich noch schneller gerannt.“ Mama umarmte mich. „Ach, du lieber, kleiner Klaus – du tust mir so leid.“ Vierzig Jahre später, als wir wieder mal in unserer Erinnerungsrunde mit Tante Friedel zusammensaßen, schüttelte Mutti nur den Kopf. „Wie konnte ich damals nur so gefühllos sein. Ich habe den Klaus wieder nach Haus gebracht, dann ins Bett und bin wiederum ins Gemeindeamt gegangen. Aus heutiger Sicht finde ist das ganz einfach herzlos gegenüber dem damals kleinen, zurückhaltenden Jungen. Das würde ich nie wieder tun und bereue es!“
Als ich wieder einmal meine Mutti nach der Schule im Gemeindeamt besuchte, wurde