Zornesader trat hervor und war so prall wie nie zuvor. Außerdem keuchten sie wie wahnsinnig! Hugo klammerte sich am Stuhl fest und versuchte den Fuß im Stiefel zu bewegen, damit er locker wurde. Herbert schrie: „Gretel, meeeehhhehr!“ – und stöhnte wie verrückt. Schlagartig löste sich der Stiefel (wahrscheinlich durch die inneren Bewegungen von Hugo) und mit angstvollem, lautem Geschrei stürzten Herbert und Gretel auf ihren Rücken. Ehrlich gesagt – ich war sehr erschrocken. Man hörte nur noch, wie beide jammerten. Besorgt hörte ich, wie Vater ächzte und lamentierte. „Mein Hintern! Oh, tut das weh. Das ist ja fürchterlich!“ Ich stürmte zu den beiden hin. Mutti stand schon wieder, war etwas irritiert und schüttelte sich, war aber wieder gut drauf. „Hugo, geschafft! Das kannst du nicht noch einmal mit uns machen! Um Himmels willen! Herbert’l, was hast du denn?“ Ich versuchte, Vater aufzuhelfen, hatte aber zu wenig Kraft. Er schaffte es mit der rechten Hand an die Türklinke zu kommen und zog sich hoch. Dabei stöhnte er mächtig gewaltig. Mir wurde regelrecht angst. „Vati, wo tut es dir denn weh?“
„Ach, ich bin hier oberhalb vom Hintern auf den Rücken gefallen und das schmerzt enorm.“ Er zeigte mit dem Handrücken oberhalb vom Popo und Hugo rief: „Herbert du bist auf dein Becken geflogen. Das kann lange dauern, bis der Schmerz vergeht, weil das dort meist geprellt ist!“
„Du machst mir ja mächtig Hoffnung, Hugo. Wegen dir …“ Weiter kam er nicht, denn es klingelte. Mutti ließ die Gäste herein, die alle auf einen Schlag gekommen waren – Herr Jesus und Frau, Hartmann, Hagen und seine Frau Gerdi, Ursula, Schäfer, Bernd und seine Frau Leni – großes Begrüßungsszenario! Etliche riefen: „Was ist denn los, Hugo? Wieso hast du nur noch einen Stiefel an? So was aber auch!“ Nachdem Mutti alle abgeschmatzt und begrüßt hatte, erklärte sie: „Wir haben gerade, Herbert und ich, mit Gewalt Hugos rechten Schmutzstiefel heruntergezerrt. Beim plötzlichen Lösen sind wir zwei auf den Rücken gestürzt und Herbert hat sich wahrscheinlich das Becken geprellt. Das war vielleicht eine Kraftaktion! Na eben! Wer hilft denn nun dem grünen Oberförster bei der Aktion Linker Stiefel runter, ohne auf den Rücken zu fallen?“ Alle Gäste schauten belustigt, begriffen irgendwie, dass hier eine ziemlich peinliche Situation, geradeso, bewältigt wurde und Hilfe für den Rest der Aktion vonnöten war. Die sonst nur sinnloses Zeug redende Leni, benahm sich plötzlich und erfreulicherweise recht praktisch. „Bernd und Hagen, ihr kräftigen Kerle, nehmt euch mal Hugos linken Stiefel vor, damit endlich einmal Ruhe wird und unsere Feier beginnen kann!“ Die beiden ließen sich nicht zweimal bitten, feixten kurz, bückten sich und zogen gemeinsam. Mit einem kräftigen Ruck war das Ganze geschafft. Bei dem Stimmengewirr und Begrüßungsdurcheinander wurde ich übersehen und dachte nach. Mit mir sind es damit elf Personen. Ich schaute bei dem Durcheinander einmal in die Stube, da ich wegen der Anzahl der Stühle Bedenken hatte. Das Sofa auf der Längsseite und die Liege auf der anderen lösten aber das Problem. Na gut, dachte ich. Ist ja nicht mein Problem. So dürfte es schon gehen. Dann kamen alle in die Stube und plötzlich wollten mich alle gleichzeitig begrüßen, wahrscheinlich, weil sie mich in dem Begrüßungstrubel einfach übersehen hatten. Das war ich aber schon gewöhnt. Nachdem sich das Begrüßungsgeplapper im Taubenschlag etwas gelegt hatte, gab es nur ein Thema. „Nun erzählt mal, was mit dem Hugo und seinen Stiefeln los war und warum dir dein Hinterviertel weh tut, Herbert.“ Mit immer noch leicht schmerzverzerrtem Gesicht erzählte mein Vater, Mutti ergänzte und Hugo saß unangenehm berührt da. Man sah es deutlich daran, wie er die Mundwinkel nach unten zog und leicht stöhnte. Offensichtlich war es ihm fürchterlich unangenehm, so im Mittelpunkt zu stehen und dazu noch mit solchen schlechten Nachrichten über ihn selbst. Alle lachten und machten so ihre Späße auf Kosten derer, die irgendwie leicht angeschlagen und geschädigt waren, so wie das halt in solchen Situation üblich ist. „Herbert, da wirst du nicht mehr mit deiner ILO auf Arbeit fahren können. Überleg dir mal, wenn die Erschütterungen von der Straße über dein Motorrad bei deinem Becken landen, Auweia! Die Liebe mit deiner Gretel im Bett ist nun endgültig vorbei. Bei solchen Beckenschäden muss man vorsichtig sein bei jeder Bewegung des Unterleibes.“ Sofort schaltete sich seine Frau Gerdi ein. „Schäme dich, Hagen, du sollst nicht immer so frech sein!“ Trotzdem schob er noch nach (und bekam dafür nun aber einen ernsthaften Ellbogencheck in die Rippen). „Das mit der nicht mehr möglichen körperlichen Liebe kann ein Leben lang dauern, sehr traurig für euch, Gretel und Herbert!“ Schäfer, Bernd beschäftigte sich mehr mit dem Förster. „Sage mal, du Waldarbeiter, musst du denn immer solche riesenlangen Stiefel anhaben, die den armen Herbert ins Verderben bringen, nicht ausziehbar sind, wie sich hier wieder einmal gezeigt hat, und überall Schmutz und Dreck hinterlassen!“ Jetzt war Herr Opel aber richtig beleidigt. Nicht nur die Mundwinkel blieben unten, auch die Oberlippe ging schmerzhaft auf eine Seite. Er war tief in seinem Inneren getroffen und beleidigt. „Bernd, du hast überhaupt keine Ahnung! Man merkt deutlich, dass du nur ein Bürohengst bist und von der Natur überhaupt keine Ahnung hast! Im Wald müssen wir nun mal geschützt sein gegen Steine, Geröll, sogar Schlangen und andre Unbill, die da auf uns zukommen kann!“ Plötzlich wurde er knallrot, verlor die Beherrschung und schrie: „Du bist so ein richtiges Büroarschloch! Ich werde jetzt die Gesellschaft verlassen, da ich hier nicht hingehöre!“, stand auf und wollte die Stube verlassen. Vater sprang erschrocken auf, legte eine Hand mit schmerzverzerrtem Gesicht auf sein Becken. „Hugo, das kannst du uns nicht antun, nachdem wir dir so fein die Stiefel ausgezogen haben und ich dabei fast im Krankenhaus gelandet wäre!“ Alle lachten und freuten sich königlich. Auch all die anderen redeten auf Hugo ein. „Sei doch nicht so beleidigt, sei ein Mann, wir wollen doch jetzt mit dir königlich speisen, Förster. Du kannst doch nicht schmollen wie ein kleines Kind!“ Man sah deutlich – Hugo war beeindruckt. Und, man muss es ja auch einmal so sehen, was sollte er denn zuhause? Keiner erwartete ihn, zu essen gab es auch nichts, also gab er von sich: „Ihr seid aber manchmal ganz schöne Biester und habt kein Verständnis dafür, wie schwer es ein Mensch hat, der von früh bis spät, bei Regen, Wind und Sturm im Freien ist“ und setzt sich wieder hin. Alle schmunzelten spöttisch und schadenfroh. „Ach, du armer Großwildjäger. Wie schwer du es doch in deiner Natur hast. Musst stundenlang auf dem Anstand sitzen. Das ist schlimmer als richtig schwer im Steinbruch zu arbeiten. Nun setze dich endlich hin und gib Ruhe, damit die Gretel ihr Supermenü auftragen kann. Hier, iss ein paar Hauspflaumen aus Schäfers Garten.“ Auf dem Tisch stand eine große Schüssel mit schönen dunkelblauen Pflaumen. Ich hatte auch schon häufig gekostet – einfach ein Genuss. Am meisten aber aß der Schäfer, Bernd selbst, obwohl er sie für alle anderen mitgebracht hatte, bis er plötzlich mit der erneut zugreifenden Hand zurückzuckte. „Schmecken wunderbar, aber jetzt ist Schluss! Die viele Blausäure bekommt meinem Corpus gar nicht gut!“ Dabei schaute er mich an. Offensichtlich hatte er diese Bemerkung für mich gemacht. Jetzt meldete sich aber noch einmal der Hartmann, Hagen. „Jetzt habe ich den Eindruck, dass das Thema mit dem Stiefelausziehen vom Hugo und dem Hinstürzen von Gretel und Herbert und der Beckenschädigung abgeschlossen ist. Damit das Thema nun einmal richtig ausgereift wird, müssten wir darauf einen richtigen Schnaps trinken. Herbert, ihr habt doch gemäß der neuen Regelung einen Schachtschnaps, den ihr einmal im Monat bekommt. Ich meine den Kumpeltod. Das wäre doch etwas, um den ganzen Ärger und Schmerz runterzuspülen.“
„Keine Frage, das ist ein guter Gedanke, du alte Säuferseele, Hagen“, bestätigte Vati und holte schnurstracks eine Halbliterflasche, welche mit (ich dachte, es wäre Wasser, denn so sah es aus) dem erwähnten Kumpeltod gefüllt war. Mutti holte ein paar kleine Schnapsgläser und Vater füllte fleißig ein. Frau Jesus fragte interessiert: „Herbert, wieso heißt denn das Kumpeltod?“
„Einfach deshalb, weil dieser Schnaps für die Bergleute, d. h. Kumpels unter Tage, als Anerkennung und Entschädigung für ihre schwere Arbeit gedacht ist. Wir im Büro bekommen aber auch etwas davon ab.“
„Auf euer Wohl – vor allem, dass die Schmerzen im Becken bei Herbert vorbeigehen und er bald wieder lachen und auch das wieder erledigen kann, von dem wir vorhin gesprochen haben, nicht wahr, liebste Gretel?“ Jetzt schimpfte aber Mutti: „Schluss mit den frivolen Andeutungen – zum Wohl!“ Alle tranken und verzogen durchweg das Gesicht, vor allem die Frauen, die das halbvolle Glas wieder hinstellten und sich schüttelten. „Ihr habt schon recht – das ist wahrhaft ein Kumpeltod!“ Nun ging es endlich ans Essen. Alle Frauen halfen Mutti beim Auftragen. Ich saß neben Mutti, etwas auf die Ecke gedrängt und durfte natürlich mittun.