immer weiter. Ich laufe rund um den ehrwürdigen Stephansdom. Ich sehe all die schönen Fräuleins. Elegant die eine, koketter Schritt und ein Hut mit Chic, andere wieder bewundernswert sittsam in strahlender Reinheit. Ich liebe sie alle, die jungen Fräuleins von Wien. Ich fliege über den Graben, weiter zum Michaelerplatz. Ja, ich möchte jetzt ein Gedicht schreiben, ein Poem über diesen wunderbaren Augenblick, über die perlende Schönheit dieser Stadt, ihre Würde und Erhabenheit, über ihr brodelndes Leben, ihre Eleganz und Eloquenz. Ich möchte ein Gedicht schreiben über den jungen Soldaten, der zum Abschied seine Braut küsst und zum Lebewohl noch aus dem Fenster des abdampfenden Zuges winkt. Warum soll ich mich nicht zu den poetischen Gefühlen bekennen, die dieser Tag in mir weckt?
Da stehe ich vor der Hofburg und ein tiefes Schaudern erfasst mich. Die Residenz des Kaisers, unseres greisen Monarchen, des Vaters der vielen Völker der Donaumonarchie.
„Es lebe der Kaiser! Es lebe Österreich-Ungarn!“, rufe ich weithin hörbar.
Ich weiß gar nicht, was ich tue, es geschieht einfach mit mir, ich lasse mich mitreißen im Strom. Und ein vielfacher Ruf schallt mir entgegen.
„Es lebe der Kaiser! Vivat dem Kaiser! Vivat!“
Ein Oberleutnant geht an mir vorbei, ich stelle meine Koffer ab und salutiere. Was für ein schneidiger Mann, was für ein Held im Rock des Kaisers! Mit dem rechten Zeigefinger streicht er über seinen Oberlippenbart, mit der linken Hand winkt er mir kurz und gönnerhaft zu und stiefelt stramm an mir vorbei.
Erst in den Abendstunden komme ich zu meiner Vermieterin. Ist es mir zu verdenken, dass ich bis spät in die Nacht viele Seiten in mein Tagebuch über die Eindrücke dieses ungeheuerlichen Tages schreibe?
BUDWEIS, SEPTEMBER 1945
Meine Sohlen brennen. Ich kann kaum noch gehen, aber bis nach Hause sind es rund sechs Kilometer. Fast zwei Stunden Fußmarsch, voll bepackt wie wir sind. Aber Karel hat noch eine Erledigung zu machen. Karel hat gute Beine. Obwohl er zwei Jahre älter ist als ich, marschiert er wie ein Jugendlicher. Wenn es seine Geschäfte betrifft, kennt er keine Müdigkeit.
Das Bauernhaus sieht von außen nicht schäbiger aus als alle anderen. Seit Jahren gibt es in ganz Böhmen für das einfache Volk kein Verputzmaterial, keine Dachziegel und kaum einmal Fensterglas. Dabei hätte gerade das Dach dieses Hauses eine Reparatur dringend nötig. Bei starkem Regen können die Bauernkinder ihre Füße in Tropfeimern baden.
„So, jetzt noch der Geizkragen“, schnauft Karel.
Wenn der kommende Winter wird wie der letzte, wird Böhmen ausgestorben sein. Man schätzt, dass alleine in Budweis zweihundert Menschen verhungert sind. Wer weiß, wie viele es in der ganzen Monarchie waren? Zum Glück bin ich noch nicht zu alt und gebrechlich für Hamstermärsche, und zum Glück habe ich Karel. Wir kennen uns aus dem Lager. Zwei Jahre lang war er Sträflingskoch, später durfte er sogar das Magazin verwalten. Ohne ihn wäre es noch schlimmer gewesen, denn Karel versteht sich auf die Organisation. Er kann immer und überall etwas Essbares besorgen. In den fünf Jahren seiner Haft haben wir meist brauchbare Verpflegung gehabt. Und heute ist er der „Hamster-König“ Südböhmens. Und wenn er mich alle paar Wochen auf seine Wanderungen mitnimmt, stehen mir einige Festtage mit vollem Magen ins Haus. Dafür marschiere ich gern dreißig Kilometer an einem Tag.
„Ist er geiziger als die anderen?“, frage ich.
Karel ringt sich ein Lächeln ab.
„Alle böhmischen Bauern sind geizig. Schwer, mit ihnen Geschäfte zu machen.“
„Wem sagst du das? Der Winter kommt bestimmt und die Ernte war schlecht.“
„Ach, Valentin, hör mir auf mit dem Winter. Wir besorgen uns allerlei Delikatessen und du jammerst mir die Ohren voll. Was glaubst du, wie wir schlemmen werden!“
Karel ist Optimist. Das war er immer schon. Vielleicht ist er deswegen ein so guter Geschäftsmann. Ein paar Worte von ihm und seine Geschäftsfreunde glauben an das Gute im Menschen und die Gunst des Schicksals. So fällt es leicht, einen lohnenden Handel abzuschließen.
Meine Schultern schmerzen, der Rücken ist krumm, aber für all die Speisen im Rucksack ignoriere ich meine kleinmütigen Beschwerden liebend gern. Eine Speckseite, Eselswurst, Schmalz, zwei Brotlaibe, eingemachte Gurken, alles, was das Herz begehrt. Und ich bekomme einen guten Anteil davon. Plötzlich fühle ich mich stark wie ein Pferd. Die sechs Kilometer werde ich spielend schaffen.
Bevor wir den Hof betreten, spähen wir umsichtig in die Gegend, aber weit und breit ist kein Gendarm zu sehen. Ein Fenster wird geöffnet und eine Frau lugt heraus.
„Guten Tag, Bäuerin. Schönes Wetter heute, nicht wahr? Trefflich für einen kleinen Spaziergang.“
Karel winkt ihr zu, aber sie mustert uns mit regloser Miene. Zwei Kinder laufen uns entgegen, umkreisen uns und bestürmen Karel mit tausend Fragen. Dann kommt der Bauer aus der Scheune. Er klopft sich Staub aus der Kleidung und stapft auf uns zu. Zur Begrüßung reicht er erst Karel, dann mir die Hand. Obwohl er ebenso unnahbar wie seine Frau blickt, weiß ich genau, wie sehr er Karel erwartet hat. Aber zum Geschäft gehört es, die Ungeduld nicht zu zeigen. Zwei verhutzelte alte Frauen humpeln aus dem Haus und versuchen die Kinder zu bändigen. Der Bauer, er ist um die fünfzig und wahrscheinlich der Großvater oder Großonkel der Kinder, blickt vorsichtig zur Straße hinüber.
„Gehen wir in die Stube“, weist er uns an.
Artig folgen ihm alle, eine kleine Prozession. Karel legt los, er bringt vorab den neuesten Tratsch, zum Teil Neuigkeiten aus der Stadt, zum Teil Geschichten, die wir auf unserer heutigen Tour aufgeschnappt haben. Die Bauersleute sind wortkarg und scheinbar abweisend, aber ich kann ihre gespannte Neugier beinahe fühlen. Eine der alten Frauen, offenbar eine Magd im Ausgedinge, kredenzt Most. Wir trinken hurtig, ein Tag auf den Beinen macht durstig. Karel spielt sein Spielchen. Unsere Rucksäcke stehen neben dem Tisch und Karel macht keinerlei Anstalten, seine Waren auszupacken. Er redet und redet. Bis schließlich die Bäuerin den Bann bricht, sie kann es nicht länger aushalten.
„Hast du die Seife dabei?“
Karel macht eine bedeutungsvolle Pause, trinkt einen Schluck Most und langt nach seinem Rucksack. Wortlos greift er hinein und holt ein kleines, in Zeitungspapier geschlagenes Päckchen hervor.
„Ob es wirklich französischer Lavendel ist, kann ich nicht sagen, aber sie duftet köstlich.“
Ein Funkeln liegt in ihren Augen. Lavendelseife! Was für eine Rarität. Wo der Teufelskerl die Seife aufgetrieben hat, ist mir ein Rätsel. Aber als Geschäftsmann tauge ich einfach nichts, ich bin nur der Packesel. Die Bäuerin packt die Seife aus und atmet den Duft mit sichtlichem Wohlbehagen ein. Die Kinder und die alten Frauen starren sie mit großen Augen an.
„Und für dich“, wendet sich Karel an den Bauern, „habe ich auch etwas dabei.“
Der Bauer blickt unbeteiligt auf den Most im Glas. Karel holt einen Tabaksbeutel hervor, von dem wir mittags ein klein wenig abgezweigt haben, um nach den Mittagsbroten eine Pfeife zu schmauchen. Guter Tabak, vielleicht der beste, den ich in den letzten Jahren geraucht habe.
Der Bauer wiegt den Beutel in der Hand, öffnet ihn, schnuppert und reibt ein bisschen Tabak zwischen den Fingern. Einige Augenblicke starren der Bauer und Karel einander wortlos an. Ich kann keinerlei Regung im verwitterten Gesicht des Mannes sehen. Er nickt seiner Frau zu.
„Bring den Schnaps.“
Wenig später kann ich meine Kehle mit einem guten Tropfen Obstbrand wärmen. Ein Labsal. Aber der Bauer hält seinen Besitz in der Hand, nichts geht verloren oder wird verschleudert, denn nachdem wir getrunken haben, stöpselt er die Flasche demonstrativ zu und stellt sie auf die Fensterbank.
Geduldig sitze ich in der Stube und verfolge die schwierigen Verhandlungen. Da wird um jeden Meter Nähgarn, jeden Löffel Schmalz, jeden Tropfen Milch, jede Bohne gefeilscht, dass mir das Hirn sausen möchte. Schließlich einigen sie sich, wir packen unsere Rucksäcke, verabschieden