Barbara Sichtermann

Viel zu langsam viel erreicht


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werden könnten, dass ein Rollback nicht ausgeschlossen und dass die Jugend blind sei gegenüber der Notwendigkeit, die Errungenschaften zu verteidigen, um sie zu sichern. Und so wird es womöglich weitergehen.

      Wie kommt das? Warum ist nicht mal irgendwann wirklich alles gut? Warum erscheint der Zeitpunkt, an dem frau sich zurücklehnen kann und sagen: Die Arbeit ist getan, so fern? Warum können wir – in absehbarer Zeit – als Frauen nicht wirklich spontan drauflosleben, wissend, dass die Gleichberechtigung nun kein Thema mehr sein muss? Bleibt am Ende die vollendete Emanzipation ein Wunschtraum, weil sie, so wie sie jetzt gedacht wird, gar nicht umsetzbar, weil sie eine Illusion ist? Oder reicht es, wenn frau sich eingesteht, dass sie mit quasi unendlichen Zeiteinheiten zu rechnen hat? Vielleicht aber setzen wir auch nur die falschen Prioritäten … Eine solche Einsicht: Es kann ewig dauern, bis die Freiheit der Frauen verwirklicht ist, und eine solche Furcht: Es geht vielleicht einfach nicht mehr weiter oder sogar zurück, die Einsicht und die Furcht müssen Gründe haben, welche sich benennen lassen. Das versucht der folgende Essay.

      Kapitel 1: Kategorien

      Die Art, wie sich die Menschen bewegen, wie sie gehen, sitzen, etwas suchen oder umhertragen, etwas mitteilen oder sich anhören, ist immer unterschiedlich: zum einen individuell, denn jeder, jede hat einen persönlichen Ausdruck. Aber auch geschlechtsbezogen, denn Männer und Frauen bewegen sich nicht gleich; schon von Weitem lässt sich auf der Straße erkennen, ob es ein Mann ist oder eine Frau, die sich nähert oder weggeht. So ist es auch mit Stimmen, die man hört, ohne die Sprechenden oder Rufenden zu sehen. Man weiß sofort: Es ist eine Frau, die ruft, oder: Es ist ein Mann. Die Irrtumswahrscheinlichkeit ist nicht groß, aber sie ist vorhanden. Es gibt Männer mit weicher Gestik und Frauen mit kantiger, es gibt Männer mit hoher Stimmlage und Frauen mit tiefer, und so kann man sich täuschen. Aber bezogen auf die große Zahl sind die Unterschiede deutlich und klar. Schließlich gibt es die Meinung, dass Männer sich mehr und mit größerer Kraft und Freude bewegen als Frauen, und es gibt die Beobachtung, dass männliche Stimmen weiter tragen und eine größere Entschiedenheit ausdrücken als weibliche. Das wären dann mit Werturteilen befrachtete Verallgemeinerungen, die zu Fragen führen, woher das alles kommt.

      Die Antworten, die wir haben, sind umstritten. Manche führen die Neigung der Frauen, auf ihrem Sitz in der Straßenbahn die Beine überzuschlagen, und die der Männer, mit gespreizten Knien dazusitzen, auf den unterschiedlichen Bau der Gelenke bei den Geschlechtern zurück. Man kann aber auch argumentieren, dass Frauen dazu erzogen werden, wenig Platz zu einzunehmen, und deshalb die Beine überschlagen und dass Männer dazu ermutigt werden, viel Platz zu beanspruchen, und deshalb gern breitbeinig dasitzen. Bei den Stimmen sagt der Hinweis auf die unterschiedliche Anatomie des Kehlkopfes bei den Geschlechtern schon vieles – aber nicht alles. Der Ausdruck einer Stimme ist von vornherein dadurch gefärbt, welche Resonanz der sprechende, rufende oder singende Mensch erwartet. Und die kann, je nach dem, wie eine Gesellschaft die Geschlechterfrage beantwortet, ebenfalls sehr unterschiedlich sein. Angeborene Eigenschaften und epochentypische Erziehung, natürliche Anlagen und kulturelle Gepflogenheiten, genetische Ausstattung und gesellschaftliche Erwartungen – das ist immer alles zugleich da, eines durchdringt das andere, widerspricht ihm oder ergänzt es, bestätigt oder verändert es. Heraus kommt eine Art Kompromiss oder Mittelwert, weshalb es nichts bringt, das eine gegen das andere auszuspielen. Auch ist die Natur kulturell beeinflussbar und sozusagen dehnbar und die Kultur von der Natur abhängig, beeindruckbar und bildbar, was uns lehrt, beide Faktoren weniger in Opposition als in Relation zu sehen. Ein Mädchen, das auf Bäume klettert, kann ein Zeichen dafür sein, dass der weibliche Bewegungsdrang dem der Jungen naturgemäß in nichts nachsteht. Das kletternde Mädchen kann aber auch eine Ausnahme sein, es kann für den Bruch eines Tabus stehen oder für die Begründung einer neuen Tradition. Es kommt immer auf den Kontext an. Und zu dem gehören die natürlichen Voraussetzungen und kulturellen Standards der Vergangenheit ebenso wie die lebendigen Kompromisse der Gegenwart und die verschiedenen für die Zukunft erstrebten Veränderungen. Es ist also nicht so einfach, das Geschlechterverhältnis in der jeweiligen konkreten Situation zu verstehen und dann auch noch zu verändern.

      Die beiden Kategorien, die unseren Gedankengang bisher strukturiert haben, heißen Gleichheit und Verschiedenheit (oder Differenz). Sind nicht die Bedürfnisse, Baumwipfel zu erklettern, bei beiden Geschlechtern gleich, nur die Bedingungen, die Mädchen und Jungs jeweils vorfinden, wenn sie klettern wollen, unterschiedlich? Oder sind auch die Bedürfnisse unterschiedlich? Sind sie bereits geschlechtsbezogen unterschiedlich oder nur individuell? Wünschen nicht beide Geschlechter, mit ihren Stimmen durchzudringen, wobei aber die Frequenzen, auf denen ihre Ausrufe schwingen, dem einen Geschlecht mehr, dem anderen weniger Kraft verleihen? Oder liegt der Unterschied im Gehör, das beide finden, nur an sozialen Parametern? Die Antworten auf diese Fragen sind oft schwer zu geben, manchmal kommt man überhaupt nicht dahinter, manchmal nur näherungsweise. Das Sich-Festbeißen an den Begründungszusammenhängen von Gleichheit und Verschiedenheit ist misslich, das Darüber-Hinweggehen erst recht. Was also tun? Es bleibt nicht viel mehr übrig als die konkrete Analyse der konkreten Situation samt ihrem geschichtlichen Hintergrund. Gehen wir also freiweg rein ins gedankliche Gelände.

      Eine weitere Kategorie, die wir jetzt brauchen, um voranzukommen, ist die Kategorie der Herrschaft. Sie hat das Verhältnis der Geschlechter die gesamte menschliche Geschichte hindurch strukturiert, wobei die Männer das beherrschende Geschlecht waren und die Frauen das beherrschte. Epochen des Matriarchats, in denen es umgekehrt war, sind entweder mit den primitiven Gemeinschaften, in denen sie prägend waren, untergegangen oder bloße Legenden. Sie sollen uns hier nicht weiter kümmern. Wir beziehen uns auf die ausdifferenzierten Gesellschaften der Moderne und ihre Vorgeschichte bis hin zur Antike, und hier finden wir überall die hierarchische Struktur im Zusammenleben der Geschlechter. Es waren (und sind) patriarchalische Gesellschaften, in denen der Mann entschied und die Frau ihm unterstand und von ihm abhängig war. Die Söhne wurden auf den Status des Oberhauptes der Familie vorbereitet, in allen Schichten, von ihren Vätern ebenso wie von ihren Müttern. Und die Töchter erzog man für ein Leben in Abhängigkeit von Vätern und Ehemännern. Nun könnte man den Schluss ziehen, dass angesichts einer so durchgängigen Geschichte der Herrschaft von Männern über Frauen während vieler Tausender von Jahren die Bereitschaft beider Geschlechter, es mit dieser patriarchalen Struktur gut sein zu lassen, als erwiesen gelte und man die Debatte schließen dürfe.

      Dagegen spricht, dass das Geschlechterverhältnis als ein Herrschaftsverhältnis in der Vergangenheit und erst recht in der Gegenwart nie stabil war und ist und dass die Freiheitsgrade, die das unterworfene Geschlecht beansprucht hat, sich in Zahl und Bedeutung stets geändert und seit zweihundert Jahren kontinuierlich erhöht haben. Wir sind heute so weit, dass wir sagen können: Das Herrschaftsverhältnis soll als solches abgeschafft und nicht etwa umgekehrt werden. Die Männer haben ihre beherrschende Rolle ausgespielt, die Frauen wollen eine solche Rolle keineswegs erben, beide Geschlechter sollen als gleichwertig und gleichberechtigt anerkannt werden. So der Konsens in weiten Teilen der westlichen Gesellschaften. Der kleinere Teil dort und der größere im Rest der Welt, der unbelehrbar scheint und an den obsoleten Verhältnissen festhält, schießt quer, scheint aber – im Westen – auf dem Rückzug.

      Es gestaltet sich nun der Prozess der Verabschiedung des überlebten Herrschaftsmodells ausgesprochen mühselig. Der Frauenbewegung, also der Avantgarde weiblicher Rebellion gegen den Herrschaftsanspruch der Männer und die entsprechend schiefe Machtverteilung in der Gesellschaft, wird immer wieder vorgehalten, sie habe sich verausgabt und keine neuen Ideen auf Lager. Die Situation der Frauen selbst hat sich zwar seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts deutlich in Richtung Gleichheit verbessert, vor allem, was Ausbildungs- und Berufschancen betrifft, aber noch nicht wirklich umfassend erneuert. Die Fortwirkung alter Rollenmuster, besonders unter Frauen, die Mütter geworden sind, scheint ausgesprochen zäh. Ein Stocken der Freiheitsbewegung der Frauen, ja eine Gefahr der Rückentwicklung wird befürchtet. Das ist die Ausgangslage, an die wir unsere Fragen und Erwägungen für Antworten knüpfen wollen.

      Wenn es stimmt, dass Traditionen und Gewohnheiten sich genetisch einschreiben in die Konstitution der Individuen – wo sie allerdings jederzeit wieder mit anderen Informationen überschrieben werden können –, wenn es stimmt, dass die alten Verhältnisse