Barbara Sichtermann

Viel zu langsam viel erreicht


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sind in der Welt und werden ihre Arbeit tun. Die Gesellschaft muss mitmachen. Dabei geht es nicht nur darum, Diskriminierungen historisch zu begründen, sondern sie abzuschaffen und tragfähige Lebensformen für die Zukunft zu finden.

      Man darf davon ausgehen, dass der Großteil unserer Öffentlichkeit und ihrer dienstbaren Geister, die Presse, das Fernsehen, das Internet und alle sozialen und asozialen Medien, dazu auch bereit und mit diesem Auftrag unterwegs sind. Die Prioritäten, die gesetzt werden, müssen von Fall zu Fall diskutiert werden. Dieser Essay möchte herausarbeiten, warum es eben doch unumgänglich ist, die Auflehnung gegen Spielarten fortwirkender Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes fortzusetzen, auch wenn es mühselig ist und obsolet erscheint. Dass es für die jetzt lebenden Generationen nicht infrage kommen wird zu sagen: Wir haben es geschafft, es ist alles gut. Dafür ist das historische Paket an Chauvinismus, Unterdrückungs-, Widerstands- und auch Kompromissvarianten, das wir alle schultern, zu groß. Und dafür ist das Feld, in das die geschlechtsspezifische Repression hineinwirkt, zu unübersichtlich. Es ist eben viel mehr und auch etwas anderes als Gleichheit, was wir anstreben, wenn wir weibliche Freiheit meinen. Es ist ein Lebensraum frei von Herrschaft für beide Geschlechter, wobei sich die Frage einschleicht, was nicht nur Gleichheit, sondern auch, was Differenz in und außerhalb von politischen, juristischen und sozialen Bezügen als Kategorien ausrichten können.

      Die Verschiedenheit der Individuen soll sich entfalten können, diesen Grundsatz halten alle modernen Gesellschaften hoch. Aber wie sieht es mit der Verschiedenheit der Geschlechter aus? Sie zu diskutieren, ohne implizit den Herrschaftsanspruch des männlichen Geschlechtes und damit die patriarchalische Gehorsamskultur mit einfließen zu lassen, war immer ein schwieriges Unterfangen und ist es geblieben. Es geht damit nur zögerlich voran. Der feministische Diskurs heute scheut davor zurück, die anstrengende und verfängliche Debatte um die Verschiedenheit der Geschlechter bei Betonung des Gleichheitsprogramms im Sinne der Emanzipation weiterzuführen. Er weicht ihr aus, weil er fürchtet, dass alles, was argumentativ vom Pfad der Gleichheit abweicht, zu Rückschritten führt. Die Flucht in die verschiedenen Transgender-Diskussionen, die ein gedankliches Feld beackern, in dem die Existenz von Geschlechtern überhaupt infrage steht, ist ein Beispiel für diese tiefsitzende Furcht. Frau sollte aber das Risiko eingehen, über die Verschiedenheit der Geschlechter nachzudenken, und sich den Konsequenzen stellen. Zu denen muss nicht gehören, dass gleiche Rechte im Sinne von gleichen Chancen und Bedingungen verloren gehen. Im Gegenteil, da der Sinn der Zweigeschlechtlichkeit bei der Spezies Homo sapiens in der Verschiedenheit der beiden Geschlechter liegt, was ihre generativen Potenzen und womöglich noch einige andere Bereiche betrifft, könnte eine Berücksichtigung von Ungleichheit zu mehr Gleichheit führen. Es geht darum, Herrschaft aus den Geschlechterbeziehungen rauszuwerfen, nicht die Ungleichheit zu leugnen.

      Frauenpolitik und -publizistik beschränken sich, nachdem auf dem Feld der Bildung und der politischen Partizipation viel passiert ist, heute weitgehend darauf, in denjenigen Lebensbereichen Gleichheit umzusetzen beziehungsweise anzumahnen, die sich nach einer Ausbildung oder einem Universitätsstudium für Frauen öffnen – mit dem Ziel, die Bedingungen zu verbessern, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie betrifft, was Berufsaussichten und -ausübung angeht und vor allem Entlohnung, Gehalt, Honorar und schließlich Rente. Auf diesen Feldern hat sich unter dem Zeichen der Gleichheit ein publizistischer Grabenkampf entwickelt, in dem seit Jahrzehnten identische Argumente, Zustandsbeschreibungen und Zielvorstellungen dargelegt werden. Es sieht so aus, als könne frau als Politikerin und als Feministin machen, was sie wolle und müsse, sie käme keinen einzigen Schritt voran. Immer noch gibt es die gaps, die sich einfach nicht schließen wollen: einen Lohnabstand zwischen Männern und Frauen von (in Deutschland je nach der Art, wie man rechnet) 17 bis 27 Prozent, eine Bereitschaft, Zeit mit Kindern zu teilen, die bei Frauen das Hundertfache dessen ausmacht, was Männer aufbringen, einen eklatanten Mangel an weiblichen Führungskräften, dafür ein Verhältnis von neun zu eins, was die Verteilung von Frauen und Männern bei den Alleinerziehenden, den Teilzeitarbeitenden und Zuständigen für die Pflege alter Eltern betrifft, eine schreiende Unterrepräsentanz von Studentinnen in den sogenannten MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) sowie erschreckende Zahlen, was die Karrieren von Männern und Frauen nach dem Erreichen des Doktorgrades an den Universitäten betrifft: Männer werden Professoren, Frauen Mütter. Diese gaps lassen sich mutatis mutandis in allen gesellschaftlichen Bereichen, Parteien, Verbänden, Interessengruppen, Milieus, Stadt und Land, Branchen und Institutionen auffinden, sie sind angeblich in den anderen europäischen Ländern kleiner und klaffen nur in Deutschland auf beschämende und entmutigende Weise mit der Tendenz, sich nicht nur nicht zu schließen, sondern womöglich weiter zu öffnen. Hier haben wir eine Stockung in der Wirklichkeit und in der Debatte, die laut danach ruft, den Blick von den üblichen Parametern wie Einkommen, Zeiteinteilung und Planungssicherheit mal abzuwenden und in das unübersichtliche Gelände der im sozialen Leben fein verteilten ererbten Herrschaftsmechanismen zu richten. Frau wird dann entdecken:

      Es ist mehr als Gleichheit, was wir anstreben müssen, wenn der Prozess der Emanzipation weitergehen soll. Der historische Blick macht vieles verständlich, und er ist die erste Voraussetzung dafür, die aktuelle Situation zu verstehen. Sie kann dann viel leichter verändert werden. Man sollte die Bewegungen und Stimmen von Männern und Frauen als ästhetische Phänomene wahrnehmen und bewerten, während man zugleich die Anteile von Herrschaft, die noch darin stecken mögen, kritisch anschaut und praktisch entfernt. Man sollte die Ansprüche und Selbstbilder der Geschlechter immer wieder daraufhin befragen, was sie an Altlasten noch mit sich herumschleppen und ob und wo sich die individuellen von den geschlechtsspezifischen Merkmalen oder Zielvorstellungen trennen lassen. Man sollte eine Ungleichheitspolitik wie die Quotierung, also die Bevorzugung von Frauen bei der Stellenbesetzung, auf allen Hierarchieebenen in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen (bis zu einem erstrebten Anteil) forcieren. In Schulen wird beklagt, dass die Jungen zurückfallen, weil Mädchen im Zuge des kritisch-feministischen Dauerfeuers mehr Aufmerksamkeit bekämen. Aber liegt es wirklich daran? Könnte es nicht auch sein, dass Mädchen mehr Disziplin an den Tag legen, weil ihnen die Bereitschaft zu gehorchen nach der langen Unterdrückungsgeschichte des weiblichen Geschlechts noch in den Knochen steckt? Das kritische Besteck des Feminismus muss feiner werden, es kann nicht sein Bewenden damit haben, überall fünfzig Prozent zu fordern. In der konkreten Situation sind diese groben Verteilungsschlüssel oft wenig wert.

      Die Freiheitsimpulse in allen modernen Gesellschaften stärken das Individuum gegen Konformitätszwänge, die von Traditionen und Institutionen ausgehen, sie verlangen zunehmend Respekt vor dem Besonderen. Eine neue Herausforderung, vor der die Frauenbewegung steht, liegt darin, dem Geschlecht auf der großen Skala des individuellen Charakters sozusagen seinen Platz zuzuweisen. Es hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass gar nicht alle Frauen Mütter werden wollen. Und die Emanzipation war einen großen Schritt weiter, als die kinderlose Frau nicht mehr abgewertet, sondern ihre Entscheidung als eine individuelle akzeptiert wurde. Aber das war ein langer Kampf! Mädchen, die auf Bäume klettern, sind heutzutage Kinder, die ihre Lebensfreude zeigen, und keine aus der Art geschlagenen Evastöchter mehr. Streben sie aber später Führungspositionen an, werden sie immer noch gerne gedeckelt. Väter, die in Elternzeit gehen, ernten im Feuilleton Applaus, aber in den Betrieben macht man sie runter. Es sind also weniger die Männer, die es versäumen, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, als die Strukturen, in denen sie arbeiten, die ihnen das erschweren. Die Kategorie der Herrschaft kann sich vom Geschlecht lösen und unpersönlich werden, sie taugt dann auch dazu, Beschränkungen im Leben von Männern dingfest zu machen. Auf den Spuren solcher Betrachtungen, Bewertungen und kritischen Zugriffe richtet der Diskurs der Emanzipation heute viel mehr aus als nur das Plädoyer für Gleichheit. Im vorigen Jahrhundert war es wichtig, die Kategorie der Gleichheit in den Vordergrund zu stellen, weil das Geschlechterverhältnis vor allem durch die Brille der Verschiedenheit angeschaut wurde – auch in der Tradition der Frauenrechtlerinnen des Jahrhunderts zuvor. Inzwischen denken wir differenzierter. Und wir haben die Gleichheit so gut im Blick, dass wir nichts verlieren, wenn wir die Verschiedenheit zum Thema machen. Zumal es für beide Geschlechter inzwischen darum geht, Herrschaftsstrukturen zu erkennen und aufzulösen.

      Kapitel 2: Räume

      Dass