Was aber, wenn Weltwirtschaftskrise? Wie schlüge diese nach Deutschland herein? Hier denken sie nicht weiter.
Die Schieder-Gruppe, mit 1,17 Mrd DM Umsatz stärkstes Möbelkapital Europas, baut in Polen aus. Bislang 95 Prozent der dortigen Produktion in den Westen exportiert. Terms of trade: Holz kostet 50 Prozent im Vergleich zu hier, Arbeit weniger als 10 Prozent (220 DM pro Monat, Überstunden am Wochenende mit Handkuss, Krankenquote die Hälfte im Vergleich zur BRD). In Polen nun zwei neue Polstermöbelwerke fürs »untere Preissegment«, in Ostberlin eines fürs mittlere. Ein Ausdehnungshemmnis: die Bundesrepublik lässt polnische Auszubildende nicht ins Land.
4. Oktober 1990
Erhaschte Bruchstücke zweier Sendungen, von einer jener unzähligen »Talkshows« (welch ein Sprachbastard!) und einer Sendung aus Weimar, wo Jugendliche aus Erlangen und solche aus der DDR ihre Meinung sagen durften. Erstere gemütlich-langweilig. Die DDR-Jungen eine Überraschung: genau blickend, unberauscht.
»In den Schoß gefallen« ist den (uns) Deutschen diese Einheit. »Geschichte« passiv, tangential zur aktiven Geschichte: am Rande der Perestrojka.
Was versagt hatte: die Zentralverwaltung durch eine Staatspartei, die entsprechende Produktionsverhältnisse mit einem strukturhomologen politischen und ideologischen Überbau versah. Wenn eine Partei diktiert, dehnt sich der Staat überall dorthin aus, wo sie zugange ist, und holt auch die Diktierende in sich hinein. Die Parteiverhältnisse werden staatsförmig. Es ist ein absolutistischer Staat, der rekrutiert und kooptiert, gesichert durch universelle Kontrolle (informationelle Durchdringung, Disposition über Chancen und Sanktionen, Repression). Nicht feudal, aber absolutistisch: der moderne Fürst. Aufgeklärt, informiert durch Marx, Engels und Lenin: So hat mir das schon vor einem Menschenalter der Architekt Weise erklärt, einer der Erbauer der Stalinallee. Deren Symmetrie demonstriert eine absolute Generalvernunft. In ästhetischer Form drückt sie die reale Subsumtion der Gesellschaft unter den Staat aus.
Das Ersticken von Initiative antisozialistisch. Der Staat hochwidersprüchlich: unmittelbare Bedingung von Sozialismus und antisozialistische Tatsache in einem. Letztere hat den Sozialismus bestimmt.
Man müsste im öffentlichen Diskurs das interessierte Amalgam aus Kapital und dezentraler Handlungsstruktur auseinanderlegen. Zumal die Imperien des transnationalen Kapitals Transversalstaaten sind, die Profitkriterien als Korrekturinstanz gegen bloßen Administrationismus haben.
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Verfassungsgerichtsurteil: Spontan sagte ich mir, »es gibt noch Richter«. Bei zweitem Überlegen: das Urteil auch ein Schachzug gegen die SPD. Diese hatte ja vor allem die Ausschaltung der Linkskonkurrenz PDS betrieben, um widerstrebende Linke zu zwingen, wieder einmal das kleinere Übel SPD zu wählen. Nun werden die Stimmen sich aufsplittern, und die linken Teile werden sich nicht wie Teile einer Linken verhalten können. Dennoch das Urteil gut für die Linke, zumal der Sieg der Konservativen ohnehin gesichert erscheint. Wenigstens Aspekte von Übergang, Experiment und Neuerungschance werden gegeben sein.
Vom DDR-Staat schreibt Fromme in der heutigen FAZ, dass er »den Zugang zum Innern des Menschen nicht fand«. Reißmüller, unzufrieden damit, dass Bundespräsident von Weizsäcker der Jugendrevolte von 1968 »ein demokratisches Verdienst« zugesprochen hat: »Auf den roten Fahnen der Marschierer von damals stand nicht Demokratie, sondern Gewalt, Rohheit, Zerstörung.« Sehen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in spätbourgeoisen Augen so aus?
Der Vizepräsident der Bundesbank (Schlesinger): Die konjunkturellen Voraussetzungen der BRD für die »Vereinigung« »könnten kaum besser sein«.
Die FAZ, in der noch immer Konzerne in ganzseitigen Anzeigen Deutschland (be)grüßen, verbraucht unendlich viel Platz für Stimmungsberichte. Eine große nationale Sektparty hält an. Nichts spiegelt sich in solchen Medien von der Skepsis vieler. Bei Butter-Beck murmelte die Verkäuferin am 2.10.: »ein Trauertag«.
Im ZDF die erste Sitzung des um Volkskammerabgeordnete erweiterten Bundestags. Dass Ullmann und Gysi ihre Jungfernreden hielten, wurde erwähnt, aber kein Wort davon gesendet, nur die beiden Kahlköpfe wurden gezeigt. Im Ost-Fernsehen dagegen kriegte jeder ein paar Sekunden. Man hat die dortigen Redakteure noch nicht ausgewechselt.
5. Oktober 1990
Der US-Dollar auf historischem Tiefstand, nachdem die Fed verlauten ließ, man wolle keine neuen Zinssteigerungen. Um dennoch, in Konkurrenz mit dem deutschen Kapitalbedarf, Geld ins Land zu kriegen, muss man das eigene für die Ausländer verbilligen: billiger Dollar als Ersatz für teures Geld.
Barbier weitet in der FAZ hierfür den Begriff des Teilens aus: Nachdem alle Politiker davon gesprochen haben, im neuen Deutschland müssten die Reicheren mit den Ärmeren (d.h. denen aus der DDR) teilen, die Regierung der Reichen aber entsprechende Steuererhöhungen (vor den Wahlen) ausschließt, erklärt die FAZ nun die Finanzierung über den Kapitalmarkt »mit ihrer rationierenden Wirkung« zu einer Form des Teilens, weil diese Kreditaufnahmen die Zinsen hochtreiben. Natürlich schweigt das vom Nehmen, blendet die Zinsnehmer aus.
In der BRD nahm die Arbeitslosigkeit im September um 85 000 ab (auf 1,73 Mio), in der DDR nahm sie um 83 500 zu und stieg auf 450 000. Das sieht nach einem Nullsummenspiel aus: was die DDR verliert, gewinnt die BRD. Das täuscht aber. In der DDR nahmen die Kurzarbeiter um 271 700 auf 1,8 Mio zu, und das Neusprech wurde um den paradoxen Euphemismus »Nullarbeit« bereichert. Mindestens 20 Prozent der »Kurzarbeiter« sind auf »Nullarbeit« gesetzt, also »Nullkurzarbeiter« oder kaschierte Arbeitslose, was deren Zahl fast verdoppelt. Seit dem Vorjahr hat die Zahl der Arbeitsplätze in der BRD um 700 000 zugenommen.
Zum Auftakt der deutschen Einheit alle Generäle der NVA entlassen, ebenso alle Regionaldirektoren der »Treuhand«, die man durch westdeutsche Unternehmer bzw. deren Manager ersetzt.
Vietnam lehnt sich an China an.
6. Oktober 1990
Ligatschow nannte die Rechts-links-Unterscheidung im gegenwärtigen politischen Spektrum der SU »primitiv«. Hauptgegner der KPdSU seien »national-separatistische und revisionistische (?) Kräfte«, die einen »bourgeoisen Entwicklungsweg« bei Auflösung der Sowjetunion wollten. L. schreibt an seinen Erinnerungen.
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Klaus Bochmann erzählt, sein Ältester (Martin, 14), der nie etwas für die FdJ übriggehabt hat, sei am Tag der Einheit im Blauhemd zur Schule gegangen. Seine Clique hatte das so verabredet.
Brief von Kathrin A., jener Pädagogikstudentin aus Leipzig, die in Philosophie (oder war es »Gesellschaftswissenschaft«?) eine Abschlussarbeit über meine Schriften machen sollte. Auch dieses Projekt einer nachholenden Rezeption ist nun abgebrochen.
Obwohl in Zeitnot, schreibe ich ihr postwendend: Dein Brief hat mich bewegt, mehr, als Du annehmen magst. Seine Trauer steckte mich an, denn die Erfahrungen, die wir mit der neuen Einheit auf unseren Tätigkeitsgebieten inzwischen machen konnten, stimmen nicht froh. Aus der Ex-DDR spüren wir einen enormen Opportunitätsdruck, der es noch schwerer macht, kritische Positionen aufrechtzuerhalten. Dazu bedrückt es, ohnmächtiger Zeuge zu sein, wie unsere Herrschenden generalstabsmäßig die Machtpositionen besetzen, als wäre da ein Krieg verloren worden, und wie sie außerhalb aller Demokratie einen Kreuzzug des Kapitalismus gegen alle ihm nicht unmittelbar subsumierten Eigentumsformen durchführen (ich denke vor allem an Genossenschaften). Vieles, was jetzt passiert, ist mir zuwider. Zumal, was Du aus der Hochschullandschaft schilderst. Fred Jameson, ein amerikanischer Marxist (ja, das gibt es), den ich heute traf, verglich die Art, wie der BRD-Staat mit der DDR umspringt, mit der Besetzung der Südstaaten durch den Norden nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Offenbar hat man auch damals zielgerichtet jegliche politische Eigenständigkeit zerstört. – Und doch fiel mir beim dritten Überlegen auf, dass mir viel wohler sein könnte, wenn Du und Deine Generation nicht mit Nostalgie reagierten. Nachweinen können wir dem, was als bessere Möglichkeit für einen viel zu kurzen historischen Moment aufschien, nicht aber dem alten Regime. Und weil dieses in Wahrheit schon