Wolfgang Fritz Haug

Jahrhundertwende


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      Merab. – Der Philosoph – Bürger des unbekannten Landes. Hier lebe er wie ein Spion. Möglichst wenig auffallen. – Das kam mir vor, wie die Beschreibung eines Theologen von Nietzsches »unbekanntem Gotte«. Während des Abschiedsessens summte Merab vor sich hin. Er isolierte sich, wie mir schien, in einer Aura des Selbstgefallens. Man hatte uns, »die zwei Foucaults«, nebeneinander platziert.

      Dragans kurzes Lächeln in den Mundwinkeln. Er stellt sich dar als einen, der es nicht nötig hat. Rief mir ein Taxi, rührte indes keinen Finger, als ich mich mit den Gepäckstücken mühte. Etwas von einem Puma, gelassen, mit einer Art von Gleichgültigkeit, die etwas Verächtliches hat. Fred Jameson erschien nicht zum Abschied.

      Bin mir selbst im Wege, aneckend-versöhnlich, als wären die Widerhaken falsch angebracht. Schwierigkeit, eine Sprache gegen den Diskurs zu finden. Wieder das Gefühl des Außenseiters.

      Dass ich am Wahrheitsbegriff festhalte, kommentierte Jameson mit »bullshit«; er wurde böse, als ich Foucaults Entdeckung der Geschichtlichkeit des Sexualitätsbegriffs rühmte, die er eine Erfindung (im Sinne von Fiktion) genannt haben wollte. Die Psychoanalyse-Anhänger hatten anscheinend das Gefühl, es werde am Ast gesägt, den sie als Sitzplatz schätzen. Dabei hatte ich nur gesagt, sie müssten auf ihr »natürliches« Maß schrumpfen, d.h. auf die Situation und den Prozess therapeutischer Analyse.

      Ideologie – das sind die andern! Darauf achten, wo ich dieses Muster gleichfalls bediene.

      Auch »Wissenschaft« wurde fallengelassen. Alles Kunst? Schlimmer: alles Material für Diskurse.

      Fred hat als neuestes Paradigma Reichelts Kapitallogik entdeckt. Susan Buck-Morss verschwimmend. Wo sie eingreift, ist sie mir zugänglicher, so dass ich immer wieder in der Diskussion ihren Gedanken weiterführte, was allerdings nicht erwidert wurde. Mit Grausen sehe ich einiges für mich voraus.

      18. Oktober 1990 (2), unterwegs

      Günter Matthes schreibt im Tagesspiegel den erstaunlich einsichtigen Satz: »Dass Marx und Lenin das Scheitern ihrer Ideologie überleben, wissen wir.« Es geht um Denkmäler.

      *

      Proton ein »vibrierendes Bündel aus drei Quarks, 2 up und ein down Quark«. Inzwischen glaubt man, 6 Quarks zu kennen: Charm, Strange, Top, Bottom, Up, Down. (Comic strip-Sprache). Diese sollen mit den sogenannten Leptonen die gesamte Materie aufbauen. Das Wort Quark soll Gell-Mann aus Joyce, Finnegan’s Wake, übernommen haben (»Drei Quarks für Muster Mark.«).

      *

      Mörikes Maler Nolten. –Es beginnt mit einer Bildbeschreibung, von der man allmählich verstehen wird, dass sie die fatale Verschlingung der Neigungen vorwegnimmt, die der Roman entfalten wird: Auf offener See in einem Kahn ein derber Satyr mit einem schönen Knaben, den er soeben einer verliebten Nymphe gewaltsam überliefert … Man »vergisst das Ungeheuer über der Schönheit des menschlichen Teils«. – Verknotung: obgleich der Satyr »der Nymphe durch den Raub und die Herbeischaffung des herrlichen Lieblings einen Dienst erweisen wollte, so straft ihn jetzt die heftigste Liebe zu ihr mit unverhoffter Eifersucht«. – Satyr: Seine »muskulöse Figur steht […] seitwärts […] überragt die übrigen. Eine stumme Leidenschaft spricht aus seinen Zügen«. – Ambivalenz: Er möchte sich […] abkehren, allein er zwingt sich zu ruhiger Betrachtung, er sucht einen bittern Genuss darin.« – Ambivalenz des Knaben: Er »beugt sich angstvoll zurück und streckt, doch unwillkürlich, einen Arm entgegen« – fast entflieht ihm »das leichte, nur noch über die Schultern geschlungene Tuch«. – Nymphe: Sie sucht »mit erhobenen Armen den reizenden Gegenstand ihrer Wünsche zu empfangen«.

      Ineinander verschachtelte Ambivalenzen: der junge Nolten gegenüber Elsbeth; Quidproquo: der Freund und die Fremde zwischen ihm und seiner Braut.

      Bisher: »strebte mit Heftigkeit an mich zu reißen, was mir notwendige Bedingung meines Glücks schien«; – Buße: »bitter«; – Verzicht: »ich habe nun der Welt, habe der Liebe entsagt«; – Sublimation: Liebe »wird ein unvergänglicher Besitz meines Inneren bleiben«, »darf mir nicht mehr angehören, als mir die Wolke angehört, deren Anblick mir eine alte Sehnsucht immer neu erzeugt«; – Philosophie: Große Verluste bringen dem Menschen die höhere Aufgabe seines Wesens nahe […] zu seinem Frieden; – Ästhetische Rekompensation (11): arm-Verlust = reich: »Nichts bleibt mir übrig als die Kunst, aber ganz erfahre ich […] ihren heiligen Wert […] Befreit von der Herzensnot jeder ängstlichen Leidenschaft […] Fast glaub’ ich wieder der Knabe zu sein, der auf des Vaters oberem Boden vor jenem Bilde gekniet«.

      Der aufdringliche Knabe, der Modell gestanden hatte: »ein Anteros!«, lautet Noltens anzüglicher Kommentar, einer, der wiederliebt, bei dem man auf Gegenliebe stößt. Der alte Maler Tillsen, in dessen Haus der Bildhauer Raimund einen Raum als Atelier nutzen darf, beschreibt den Jungen so: »Wirklich ein delikates Füllen, schmutzig, jedoch zum Küssen die Gestalt« (2. Buch, 25). Als Raimund seine Verlobte herumgekriegt hat, ihm Modell zu sitzen, wird der Knabe, »Muster« für »einen Amor aus Ton«, entlassen. »Jetzt liegt ihm die aufdringliche Kröte, die sich gar gut gestanden, tagtäglich auf dem Hals, und dass der Junge nicht schon im Hemdchen unters Haus kommt, ist alles.« Hat sogar der »Braut« mit einem Stock aufgelauert.

      Larkens: »leidenschaftlich« zu Nolten, dem »Geliebten« (17); dessen Mentor. Pflegt das »gebrochene Liebesverhältnis« Nolten/Agnes, um sich »an der eingebildeten Liebe eines so reinen Wesens« zu freuen. Dazu muss er der Unreine sein mit Sex-Vergangenheit. Selbstmord-Perspektive, Abreise. Er ist gegen den ideologischen Fundamentalismus (er soll Hypochonder wegen früherer Sexualausschweifungen sein, 16): »Wirst insgeheim gegängelt von einem imaginären spiritus familiaris, der in deines Vaters Rumpelkammer spukt.« (12)

      Nolten: keine »Diätetik des Enthusiasmus« (14); Kunst kompensiert: »Versuch zu ersetzen, was uns die Wirklichkeit versagt«.

      Unerwartet bei Mörike dem Ausdruck Fernsehen begegnet, der eine divinatorische Kraft meint. Höchst sonderbar, was das für die Rezeption bewirkt, wenn ein Ausdruck so stark und fremd eingeholt wird. Ein »Fernsehen nach Zeit und Raum«, »Vorgesicht«, »zweites Gesicht«.

      19. Oktober 1990

      Frank Heidenreich schickte mir Rainer Lands im Sonntag erschienenen Artikel über meine »Wahrnehmungs-Versuche«. Franks Kommentar zu Land trifft den Punkt: »Er zieht nicht nur gegen eine bestimmte historische Realität des Sozialismus, der sich vom (kapitalistischen) Weltmarktzusammenhang abkoppelte, zu Felde, sondern auch gegen das Vor-Denken einer alternativen ökonomischen Logik«. Land portraitiert mich als Anhänger eines Systembegriffs von »Sozialismus«, obgleich ich mich dagegen in mehreren der Texte ausspreche.

      20. Oktober 1990

      Ernst Günter Vetter verkündet im Wirtschaftsleitartikel der heutigen FAZ, »dass die politische Kraft der Imperien in der Geschichte auf deren ökonomischer Leistungsfähigkeit beruhte. Sie zerfielen, wenn ihre Wirtschaft erlahmte. Die Auflösung der russischen Weltmacht ist das aktuellste Beispiel für diese These.« So begünstigt diese Zeit einen bürgerlichen Ökonomismus. Freilich zieht das die Frage nach sich, ob in Gestalt der Wirtschaftskraft der BRD, die sich kraft Einverleibung der DDR und Hegemonisierung Mittel- und Osteuropas derzeit potenziert, sich am Ende »eine Basis für eine neue Macht imperialen Ausmaßes« bildet. Denn ohne Zweifel wird die BRD »zu einem ökonomischen Kraftzentrum in Europa«. Er denkt wohl (wie ich): zum stärksten und folglich hegemonialen Zentrum. Er lässt François Furet sagen: »die wirtschaftliche Logik, die heute die Machtverhältnisse bestimmt, ist kaum beruhigender als die militärische«. Um die andern Westeuropäer zu beruhigen, wechselt er das Terrain von der Ökonomie als Basis für imperialistische Politik zur Stimmungslage der Leute: »Die Deutschen träumen von Wohlstand – nicht von der Größe.«

      22. Oktober 1990

      Enrique