Wolfgang Fritz Haug

Jahrhundertwende


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Marxismus« und der »Simplifizierung, Vulgarisierung und Dogmatisierung der Theorie in Form des ›Marxismus-Leninismus‹ durch die Politbürokratie« usw. Das kommt mir simplifiziert, ja vulgarisiert vor. Im folgenden Thesenpapier erklärt Alexandra Wagner: »Kapitalverwertung muss nicht notwendig mit Hochrüstung, Raubbau an der Natur und menschlicher Arbeitskraft verbunden sein.« Aber das lässt sich höchstens von einem der Musterländchen im reichen Zentrum so behaupten. Im Weltmaßstab des Kapitalismus ist es unerlaubt verharmlosend. Zwischen bürgerlicher und ziviler Gesellschaft vermag sie nicht zu unterscheiden. »Eine linke Fundamentalkritik am Kapitalismus hat Berechtigung, wenn sie nicht mit einer pauschalen Verurteilung der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzer und mit der Forderung nach deren schlichter Zerschlagung und Errichtung einer ›Antigesellschaft‹ verbunden ist.« Lob der, wie es tautologisch heißt, »dem Profitprinzip zugrundeliegenden Gewinnorientierung«, Kritik indes an einem »Zustand, in dem die Entscheidung darüber, was, wo und wie produziert wird, von den egoistischen Interessen der ökonomisch Mächtigen gefällt wird«. Aber wie will sie egoistisches von nichtegoistischem Profitstreben unterscheiden? Neue Variante von raffendem vs. schaffendem Kapital?

      4. November 1990

      In Rumänien Unruhen gegen eben jene marktwirtschaftliche Preispolitik, die Jelzin jetzt für Russland vorhat.

      5. November 1990

      Nun haben sich Gorbatschows Wirtschaftsberater öffentlich die Hände in Unschuld gewaschen: Petrakow, Schatalin u.a. sagen in einem Brief an die Komsomoslkaja Prawda eine Inflationsspirale und den wirtschaftlichen Kollaps voraus. Wenden sich gegen Gorbatschows Plan, desavouieren aber auch ihre eignen Vorstellungen von gestern, die in Gestalt des 500-Tagesplans vor fünf Tagen in Russland in Kraft gesetzt worden sind. Eine politische Organisation hat derweil zur Gewalt gegen Gorbatschow aufgerufen.

      7. November 1990

      Dass Kohl seinen Vergleich von Gorbatschow mit Goebbels – war es 1987? – heute öffentlich »töricht« nennt, spricht für ihn. Vermutlich kann nur ein Konservativer die Beziehungen mit der SU (oder was sich aus ihr entwickelt) produktiv gestalten.

      9. November 1990

      Besuch von Thomas Metscher. Hans-Jörg Sandkühler, erzählte er, lehne es neuerdings ab, seine Position »materialistisch« zu nennen, und bezeichne sich als »internen Realisten«.

      10. November 1990

      Auch an der Bremer Uni, im Streitgespräch mit Franke von der SPD, hat Gysi den Saal für sich gewonnen.

      11. November 1990

      Gorbatschow zum Jahrestag des Mauerfalls in Bonn von Menschenmengen desto stürmischer gefeiert, als ihnen bewusst ist, wie verzweifelt seine Stellung in der SU wird. Das Glück der Konstellation ist ganz auf die Seite der »Deutschen« (ihrer Herrschenden) übergewechselt: Nationalökonomie und Weltkonjunktur stimmen (momentan) zusammen wie überhaupt Ökonomie und Politik, dazu die Stimmung der Beherrschten mit den Gestimmtheiten der Herrschenden. In der SU geht zur Zeit alles daneben. Nichts kommt rechtzeitig.

      Im Film von Max Ophüls über den deutschen Umbruch, einer jede Totalisierung blockierenden Aneinanderreihung von Interview-Stücken mit persiflierenden Einblendungen aus Spielfilmen und Musicals, beeindruckte mich Kurt Masur, den kein Starschauspieler hätte besser darstellen können. Er wies die oberflächlichen Fragen und insinuierenden Bemerkungen dessen, der halt seine Story haben wollte, zurück. Er sprach von einer veritablen »Zerstörung der Seelen« der ehemaligen DDRBürger, die jetzt zu beobachten sei.

      Beim Aufräumen auf die August-Nummer von »Sowjetunion heute« gestoßen, wo Gorbatschow als Sieger des 28. Parteikongresses geschildert wird. Aus wachsender Entfernung ändert sich auch mein eignes Bild von jenem Sieg. Was da als »konservatives« Aufbegehren erschien, war wohl bereits ein Echo (ein Weitergeben) der massenhaften Unzufriedenheit mit dem Gang der Dinge. Die Erfahrung der Parteivertreter, nichts Überzeugendes mehr sagen zu können, also der im Einzelnen sich ausdrückende Hegemonieverlust, hatte eine Grenze erreicht, wo sie nicht weiterwussten. Aber Gorbatschow weiß ja auch nicht weiter. Er findet noch rund 20 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung, heißt es, und hätte keine Chance mehr, zum Präsidenten gewählt zu werden.

      *

      Theorie des Stalinismus. – Heft 3/90 (September) der »Gesellschaftswissenschaften« (Moskau) enthält einen Artikel von Grigori Wodolasow über »Das Wesen und die Wurzeln des Stalinismus«. Seine Denkweise mutet zunächst objektivistisch an, unter Gesetzen und sich in Oberflächenerscheinungen ausdrückenden Geschichtsdeterminanten tut er es nicht. Von objektivistischem Standpunkt entsteht der Terrorismus als Subjektivismus. Was nicht gleichsam von selbst kommt, soll demnach mit Gewalt erzwungen werden. Dennoch nicht uninteressant. Wodolasow will zeigen, dass Marx und Lenin die besten begrifflichen Waffen gegen den Stalinismus bieten, falls man in der Lage ist, ihr Denken weiterzuentwickeln zum Begreifen der »sozialen Welt eines anderen Typs«, in der wir heute leben. Auch den Term »Abweichung« lehnt er daher als unangemessen ab. Die drei Merkmale des Stalinismus: die Individuen als »Rädchen« des Mechanismus, die Partei als Kader-Orden und die These von der Zuspitzung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus, die Gewalt unausweichlich machte: »Das ist ein prinzipiell anderes Projekt.« Wodolasow artikuliert dieses Projekt als »links« und ordnet ihm eine soziale Basis in Gestalt der unkultivierten Subproletarier zu und einen interessierten Akteur in Gestalt der diktatorischen Bürokratie. Als System sei der Stalinismus »Diktatur der Bürokratie«, mit einer »antihumanistischen, voluntaristischen Ideologie einer bürokratischen Elite, welche die Gewalt […] verabsolutiert« und die Menschen und das Land wie einen Lehm auffasst, woraus man mit Willen & Disziplin alles formen kann (206).

      Wodolasow will zeigen, dass der Stalinismus sich wie eine Krebswucherung immanent gebildet und allmählich und bewusstlos entwickelt habe. Zu den Vorbedingungen gehört, dass alle Rivalen Stalins in den 20er Jahren »ein wenig auf dem ›linken Bein‹ hinkten – sie maßen eine zu große Bedeutung der menschlichen Initiative und Aktivität in der Geschichte bei.« Solcher Linksradikalismus der Führenden gründete in der »Psychologie eines bedeutenden Teils der revolutionären Massen«. W. unterscheidet im Volk der Oktoberrevolution zwei Flügel, einen »revolutionär-realistischen«, demokratischen und einen linksrevolutionär-kasernenkommunistischen, der zur Basis des Stalinismus werden sollte. Dieser zweite Flügel stützte sich auf die am meisten Unterdrückten und Verelendeten, deren »halbasiatische Kulturlosigkeit« Lenin charakterisiert habe (LW 33, 448). Scholochows Nagulnow (aus Neuland unterm Pflug) und Platonows Safronow (aus der Baugrube) seien literarische Repräsentanten dieses Typs. Die verblüffenden Erfolge, »im Oktober und im Bürgerkrieg, als sie nach allen bekannten Gesetzen des Kräfteverhältnisses nicht siegen konnten, aber siegten, festigten in ihnen den Glauben an ihre Allmacht« (211). (W. unterlässt es, auf Lenins hierzu stimmende Charakterisierung des Marxismus als »allmächtig« einzugehen.)

      Wo immer möglich, arbeitete Lenin auf Grundlage von Freiwilligkeit und Überzeugung. Aber das war der langsame Weg. Stalin repräsentierte den schnellen Weg. Und er hatte zunächst und immer wieder Erfolge. Wodolasow vergleicht sie mit Leistungen, die durch Doping erzielt werden, worauf ein langer Katzenjammer folgt. Jedenfalls wurde der Stalinismus, der den Begriff der »Volksfeinde« für seine realen oder imaginären Kritiker einführte, zum konzentrierten Volksfeind. Mit Marx (MEW 8, 199) charakterisiert W. die bonapartistischen Züge der Kulakenverfolgung. Bürokratie sei »zur adäquaten sozialen Basis des Stalinismus« geworden, heißt es, den Begriff der Klassenbasis verkürzend, wie es vielleicht ja wirklich der Fall war. Die Theorie wird nun zu einer »sorgfältig durchdachten reaktionären Doktrin«. Interessant die Annahme, »dass der Hauptinhalt des Kampfes und der Repressalien der 30er Jahre (den vielleicht die Teilnehmer selbst nicht ganz erfassten) in der Konfrontation des ›bürokratischen‹ und des ›volkstümlichen‹ Stalinismus bestand.« Den letzteren überwinde man dadurch, dass die Menschen in demokratischen Praxisformen ihre Kraft erführen, wodurch es möglich werde, die