Grundlage das Kabinett Papen-Schleicher am 30. Januar 1933 zur politischen Macht gekommen war« (Reinhold Brender, der sich vermutlich verschreibt beim Zitieren aus Ulrich Heinemanns Buch über den Grafen von der Schulenburg). So wünschen sie sich rückblickend die Geschichte, frei nach dem Motto alles für das Volk, nichts durch das Volk, dem Motto, das von der Schulenburg bereits am 1. Februar 1932 in die NSDAP eintreten ließ.
Hans D. Barbier beruhigt im FAZ-Leitartikel die wegen der hochschnellenden Staatsverschuldung beunruhigten Bürger. »Der Zins ist sozusagen die Brücke zur Zukunft. Wenn morgen mit Sicherheit der Weltuntergang zu erwarten wäre, dann brächen alle Zinssätze auf Null zusammen.« Hübsche Modellannahme. Vielleicht umgekehrt: die Zinsen sprängen hoch, da niemand mehr Geld herleihen, sondern es verjubeln würde.
Die SPD scheint die bevorstehenden Wahlen schon verloren zu haben. Kohl hatte das Glück, dass die DDR-Mehrheit auf »Wiedervereinigung« drängte und die internationale politische Konstellation deren Verwirklichung erlaubte. Er tat das Seine, den Zusammenbruch der DDR zu beschleunigen, und ist jetzt im Wort, die große Suppe auslöffelbar zu machen. Verständlich, dass die Leute an ihm festhalten. Ohne dieses »historische« – das heißt paradoxerweise: ohne großes Zutun in den Schoß gefallene – Geschenk hätte er vermutlich die Wahl an Lafontaine verloren. Diesem blieb jetzt nur die Rolle des Warners, dessen, der trotz Vorbehalten nicht dagegen sein konnte.
Die Vorwürfe an die PDS werden immer feiner. Jetzt beschwert man sich, dass sie bei ihrer Vermögensaufstellung die Grundstückspreise vom Ende letzten Jahres zugrunde gelegt habe, statt die jüngste Bodenspekulation zu berücksichtigen.
Die westeuropäische Integration hat nicht nur Mittel- und Osteuropa in ihr Kraftfeld gerissen und zunächst jede eigenständige Wirtschaftspolitik desartikuliert, sondern sie hat auch wieder andere abgekoppelt. So Neuseeland, das sich als Land ohne Zukunft fühlen soll, seit sein Lammfleisch an den Zollschranken der EG hängenbleibt. Hoffnungslosigkeit hat sich breitgemacht, und viele denken an Auswanderung. In ebendieses Land hat Yuri seine ganzen Hoffnungen investiert.
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Von APN erhielt ich das Dokument »Hauptrichtungen zur Stabilisierung der Volkswirtschaft und des Übergangs zur Marktwirtschaft«. Marktwirtschaft ohne den Zusatz »sozialistisch«, nicht einmal mehr »sozial«. Dementsprechend »Entstaatlichung und Privatisierung des Eigentums«, Ausschluss also anderer Formen von Entstaatlichung? Der Kompromisscharakter kommt in einem der aufweichenden Zusätze zum Ausdruck: »Unter der Privatisierung ist dabei nicht unbedingt ein Übergang zum Privateigentum, sondern ein allgemeiner Prozess des Wechsels des Eigentümers durch Übergabe oder Verkauf des Staatseigentums […] an Kollektive, Kooperativen, Aktiengesellschaften, ausländische Firmen und Privatpersonen zu verstehen.« Faul! Und noch immer ein »staatliches Kontraktsystem« als Korsett der Wirtschaft. Auch soll »ein Verzeichnis der Tätigkeitsarten bestätigt werden, die verboten oder ein Staatsmonopol oder nur nach dem Erhalt einer staatlichen Lizenz zulässig sind«.
Für die dritte Phase ist die Bildung des Wohnungsmarktes vorgesehen. »Sie wird gestatten, eine besonders wichtige Ware in den Umsatz einzuschalten, die dazu angetan ist, einen beträchtlichen Teil der kaufkräftigen Nachfrage der Bevölkerung zu absorbieren und derart zum Gleichgewicht auf dem Verbrauchermarkt und zur Stimulierung der Arbeitsaktivität beizutragen.«
Merkwürdig, dass in der vierten Phase, in der es darum gehen soll, »den Marktmechanismus auf vollen Touren laufen zu lassen«, noch immer die Schattenwirtschaft »verstärkt« bekämpft werden soll. Der Abschnitt zur Bodenreform klammert die Eigentumsfrage aus, spricht von »einer Wirtschaft mit mehreren ökonomischen Formationen im Agrarbereich«. Am Schluss ist dann von einer »sozial orientierten Marktwirtschaft« die Rede. Keinerlei realutopisches Potenzial. Die weiße Flagge ist gehisst.
1. November 1990
André Gursky rief an aus Darmstadt: Er staunt über liberale Eigen-Sinnigkeit und kritische Haltung bei den gastgebenden Professoren (Schumann und Böhme). In Halle dagegen walten Kommissare einer Gleichschaltung, die sich als Reeducation à la 1945 geriert. Ich rate André, sich mit Helmut Dubiel und dem Institut für Sozialforschung ins Benehmen zu setzen und den Anschluss an die Diskussion über zivilgesellschaftliche Demokratie zu suchen.
2. November 1990
In der Sowjetunion herrscht die Logik des Zerfalls. Russland tritt de facto aus; zugleich desintegriert es sich selbst. In Moldawien haben die Gagausen ein Parlament gewählt, geschützt vor der Bevölkerungsmehrheit durch Sowjettruppen. Gorbatschow hat Studenten im Kreml empfangen und vier Stunden mit ihnen diskutiert. Bald werde die neue Ordnung auftauchen. Ich, der ich zur Zeit für ein Seminar über die Spätantike lese, entdecke überall Parallelen. Auf »Vernunft« nicht zu bauen, solange die »mechanischen« Bewegungen die Sache auseinandertreiben. Man muss also sehen, wie diese »Mechanik« der Verhältnisse sich entwickelt und welche Eindrücke sie morgen auf die Bevölkerungen machen wird. Gestern hat die russische Republik Jelzins 500-Tage-Plan des Übergangs zu Marktwirtschaft und der Privatisierung in Kraft gesetzt.
In Deutschland spricht sich Thomas Ebermann in einer Wahlbroschüre der »Linken Liste/PDS« für Wahlboykott aus. Er arbeite »am Aufbau einer linksradikalen Kristallisationsbewegung«, und »über die Volksmassen sollte man sich nie Illusionen machen«. Die »Linke Liste/PDS« »verkörpert eigentlich all das, weswegen ich die Grünen verlassen habe«. Jan Feddersen, der das Gespräch geführt hat, sagt merkwürdigerweise von Antje Vollmer und ihrer Richtung, dass sie »sich heute als Protagonisten einer alternativen Weltpolizeikultur verstehen – gegen die Kritiker einer Verparlamentarisierung. – Die Broschüre, die »Streitschrift« heißt, wirkt schwach auf uns, und das Motto auf der Rückseite demotivierend: »Alle wollen regieren. Wir nicht.«
3. November 1990
Nachdem Gorbatschow aus Spanien dankend 40 Mio Zigaretten als Gastgeschenk mitnahm, hat die sowjetische Regierung das Tausendfache in der BRD bestellt, um im bevorstehenden Winter, der schrecklich zu werden verspricht, eine explosive Reibungsfläche weniger zu haben. Das ist in etwa der Verbrauch eines Monats.
Mit Frigga nach Ostberlin zu einer Konferenz »Krise des Sozialismus«, zu der die Stiftung Gesellschaftsanalyse, Nachfolgerin der alten Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, eingeladen hatte. Im Haus am Köllnischen Park, das als Mitveranstalter fungierte, wusste man nichts von der Tagung. So nutzten wir den plötzlich freigewordenen Samstag für einen ausgiebigen Spaziergang durchs immer noch seltsam fremde Ostberlin, das Anflüge einer schönen Stadt hat, immer wieder denkend, dass wir das jetzige Stadtbild vielleicht zum letzten Mal sähen.
Die Thesenpapiere übrigens ziemlich unausgegoren. Bei manchen lugen die alten zurechtgeschneiderten Legitimationsweisheiten hervor, zum Beispiel in der Rede von »jenen Ländern, die nach 1917 die Gestaltung des Sozialismus zu ihrem Ziel erhoben«. Nicht nur sind »Länder« mystifizierte Akteure, nicht nur also sind die bitteren Kämpfe und Wirren verschwiegen, aus denen die Bolschewiki als diktatorische und schließlich selber diktatorisch beherrschte Kraft hervorging, sondern der großenteils von der Sowjetarmee im Gefolge des Zweiten Weltkriegs unter sowjetische Hegemonie gebrachte und nach sowjetischem Modell regierte Ostblock kriegt eine allzu harmonische Entstehungsgeschichte angedichtet. ML wird in Anführungszeichen weitergeführt, ist also keineswegs geräumt, hängt jedoch im Unentschiedenen. Diese Autoren haben die Revolution in der SED gewiss nicht gemacht. In einem anderen Papier (von Gisela Lindenau und Herbert Schwenk) vergilbte Floskeln wie die vom »Wesensinhalt linker Politik« – so spricht bei uns kein Mensch, das klingt wie eine schlechte Übersetzung aus dem Sowjetischen. An der Macht der Fakten orientiert, heißt es von der bürgerlichen Gesellschaft, sie habe »sich angesichts des Scheiterns des ›realen Sozialismus‹ als die einzig moderne und offene Gesellschaft erwiesen«. Schwammig wird als epochale Notwendigkeit behauptet: »Die Förderung des Zusammenwirkens verschiedener Gesellschaften im Sinne einer ›Revolution‹, einer Entfaltung der positiven Elemente jeder Gesellschaft in der Welt im Interesse des Fortschritts der Menschheit.« Dagegen fuchtelt unser Freund Wladislaw H. in seinem Thesenpapier mit neuen Begriffen, was nicht ohne Interesse ist. Wie Kraut & Rüben