Klaus Huhn

Kennedy und die Mauerbrigaden


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sei er von dem Plädoyer irgendwie überrascht, obwohl er es doch kennen musste. Vielleicht war es dem Umstand zuzuschreiben, dass er ein ähnliches Delikt noch nie verhandelt hatte. Seine erste Bemerkung ließ ahnen, dass er vor allem dem Hinweis auf die Wiederholung der Tat Gewicht beimaß. Dennoch fragte er: »Sie haben schon mal…?«

      Ich nickte, ließ, da mich meine Anwältin sanft in den Rücken stieß, ein vernehmliches »Ja, Herr Vorsitzender« folgen.

      Er schien noch nicht zufrieden.

      »Auch da ging es um die Mauer?« Nach einer kurzen Pause fragte er fast amüsiert: »Leugnen Sie etwa, dass sie errichtet wurde?«

      Ich hatte mich im Griff: »Das weiß alle Welt. Es ging darum, wer sie warum errichtete!«

      Der Vorsitzende schien für einen Augenblick irritiert: »Wer sie bauen ließ ist hinlänglich bekannt: Ulbricht! Wir haben – damit das klar ist – nicht zu untersuchen, was ihn dazu bewog diese Order zu geben, sondern nur zu klären, ob der Vorwurf der Staatsanwaltschaft gegen sie hinlänglich begründet ist. Alles andere im Hinblick auf die Mauer ist – auch juristisch – von kompetenteren Instanzen längst befunden worden. Ich werde also auch nicht zulassen, dass die Kammer die Warum-Frage etwa noch einmal erörtert.«

      Er sah nun nicht mehr freundlich drein. Möglicherweise hatte er von mir ein Wort der Zustimmung oder gar eine Art Geständnis erwartet.

      Ich antwortete, bemüht, Gelassenheit zu bekunden: »Ich stimme Ihnen in jeder Hinsicht zu, erlaube mir aber dennoch die Frage, wie sich Volksverhetzung nachweisen lässt, ohne dass zuvor geklärt wird, welcher Tatbestand überhaupt verhetzt worden ist? Selbst ein simpler Ladendiebstahl muss doch von der Anklage nachgewiesen werden, weil sonst die Gefahr bestünde – rein theoretisch –, dass sich der Beschuldigte darauf beruft, das angeblich Gestohlene sei ihm geschenkt worden!«

      Der Richter fuhr hoch und klopfte mit der Rechten auf den Aktenstapel: »Wollen Sie mich etwa belehren?«

      Die Anwältin knuffte mir diesmal energischer in den Rücken. Ich beteuerte eilig, dass ich bedaure, offensichtlich missverstanden worden zu sein.

      Der Vorsitzende reagierte verblüffend: »Nach Ihrer Ansicht also nicht Ulbricht. Und wer dann? Das frage ich nur so, denn ich hatte schon erwähnt, dass diese Frage höheren Orts durch Urteile bereits geklärt wurde.«

      »Mir bliebe da nur die Möglichkeit dem Gericht – so Sie es gestatten – einige Zeilen aus meinem Buch vorzulesen.«

      Er blickte zur Staatsanwältin, hob die Schultern und sagte: »Ich betrachte das nicht als Teil der Beweisaufnahme. Haben sie mich verstanden?« Und an mich gewandt: »Vielleicht sollte ich für sie noch hinzufügen, dass derlei in einem Rechtsstaat durchaus üblich ist.«

      Ich langte nach meinen vorbereiteten Auszügen: »Die Welt behauptet, es geschah, um alle, die die DDR verlassen wollten daran zu hindern, sie zu verlassen. Und alle Welt behauptet, alle wollten die DDR verlassen.

      Zum Glück liegen Zahlen vor. Lange bevor die DDR gegründet wurde, nämlich im Jahr 1946 lebten 18.629.000 Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone. Als die Mauer errichtet wurde, waren es 17.079.000, also 1.550.000 weniger.

      Aufschlussreich dazu ein ›Tagesschau‹-Bericht vom 3. Oktober 2009: ›Alle zehn Minuten ein Ostdeutscher weniger. Jahr für Jahr ziehen immer noch Tausende von Ost nach West. Wenn die Abwanderung weitergeht, leben in Bayern bald mehr Menschen als in den fünf neuen Bundesländern zusammen. Gegen den Trend entwickeln sich aber einige ostdeutsche Städte zu Wachstumszentren mit großer Anziehungskraft.

      Jeden Tag zieht es 140 Ostdeutsche in die alten Bundesländer. Allein Sachsen-Anhalt verliert auf diese Weise täglich 32 Bürger. Zwar leiden auch westdeutsche Länder wie Rheinland-Pfalz und das Saarland unter Abwanderung, doch ziehen auch 19 Jahre nach der Wiedervereinigung mit 136.000 Menschen die meisten von Ost nach West und nur 85.000 in die umgekehrte Richtung. Demografische Bedingungen, die sich negativ auf den wirtschaftlichen Aufholprozess Ostdeutschlands auswirken können.

      Schon zwischen 1949 und dem Mauerbau 1961 sank die Einwohnerzahl der DDR kontinuierlich. Mangel an Demokratie und Freiheit, aber auch das ständig zunehmende West-Ost-Wohlstandsgefälle waren die wichtigsten Motive der Massenabwanderung. Die Wirtschaft der DDR geriet durch die anhaltende Flucht von meist hoch qualifizierten Arbeitskräften zunehmend in Schwierigkeiten. Die Bundesrepublik profitierte dagegen erheblich von der Zuwanderung.

      Diese Entwicklung setzte sich auch nach dem Mauerbau fort. Zwischen 1945 und der Wiedervereinigung 1990 zog es insgesamt rund 4,6 Millionen Menschen von Ost nach West. Mit der deutschen Einheit folgten im Jahr 1990 weitere 395.000. Seither ist die Wohnbevölkerung in den neuen Bundesländern von 14,5 Millionen auf 13 Millionen im Jahr 2008 zurückgegangen.‹

      Doch zurück zur Mauer und ins Jahr vor ihrer Errichtung, also ins Jahr 1960. Chrustschow hatte die Welt wissen lassen, dass er – nachdem die Westmächte bereits 1954 faktisch ihren Friedensvertrag mit der BRD geschlossen hatten, wenn er auch aus völkerrechtlichen Gründen nicht so bezeichnet worden war – nach vielen vergeblichen Anläufen, gemeinsam mit den Westmächten eine Lösung des Deutschlandproblems zu finden, entschlossen sei. Es ging ihm um einen Friedensvertrag mit der DDR, der auch die anomale Situation um Berlin klären sollte. Denn: Westberlin gehörte nicht zur DDR und nicht zur BRD. Das ist von beiden Seiten auch nie behauptet worden. Man tat aber gern so – vor allem in den Medien –, als wäre es eine Art ›Filiale‹ der BRD.

      Ein weiterer Grund für Chrustschows Absichten dürfte gewesen sein, dass die Bundesregierung die von der DDR anerkannte Oder-Neiße-Grenze zu Polen als für ›Deutschland‹ nicht akzeptabel erklärt hatte. Ein Friedensvertrag zwischen der UdSSR und der DDR hätte auch dieses Thema völkerrechtlich beendet, was Bonn um jeden Preis verhindern wollte.

      So war die Situation 1960 und niemand kann das bestreiten. Um zu einer Lösung zu gelangen, hatten sich US-Präsident Eisenhower und Chrustschow für den Mai in Paris verabredet. Alle Welt hoffte, dass sich die inzwischen aufgeheizte Weltlage, die zudem durch die atomare Aufrüstung beider Seiten eskaliert war, durch diese Begegnung entspannen würde. Und das Thema Berlin stand auf der für Paris gemeinsam vereinbarten Tagesordnung, das belegen Dokumente.

      Auf beiden Seiten packte man bereits die Koffer für die Reise an die Seine, als die USA am 30. April in der Türkei ein Spionageflugzeug starten ließ, das tief in sowjetisches Luftgebiet eindrang und zwar nicht um Luftbilder von den Maifeiern zu knipsen…«

      »Derlei Späße können sie weglassen«, winkte der Vorsitzende ab.

      Ich las dennoch ungerührt weiter, auch weil ich den Eindruck gewonnen hatte, dass er sich des damaligen Geschehens nicht erinnerte, es ihn aber interessierte: »Am 1. Mai wurde Chrustschow früh um fünf Uhr aus dem Bett geholt und informiert, was sich am russischen Himmel tat. Chrustschow riet zu Zurückhaltung und fuhr zum Roten Platz, um die traditionelle Parade abzunehmen. Dort flüsterte ihm Luftabwehr-Chef Birjusow zu, dass die Maschine abgeschossen werden musste, als sie Plessezk überflog und damit die Startrampen der Interkontinentalraketen SS 6. Der US-Pilot Powers habe sich mit dem Fallschirm gerettet, aber das Treffen in Paris war abgestürzt. Zwar ließ Chrustschow Eisenhower wissen, dass sich die verfahrene Situation durch eine unmissverständliche Entschuldigung klären ließe, aber Eisenhower mochte sich nicht entschuldigen.«

      »Ich fürchte Sie haben mich missverstanden«, sagte der Richter und seine Stimme klang nun unfreundlich: »Was konnte nun auch noch Powers mit der Mauer zu tun haben?«

      Ich legte meinen Text zur Seite und nahm einen neuen Anlauf: »Niemand leugnet doch, dass sein Flug das Gespräch verhinderte, auf dem möglicherweise auch die Berlin-Frage hätte geklärt werden können. Als John F. Kennedy Eisenhower im Januar 1961 ins Weiße Haus gefolgt war, nahm Chrustschow einen neuen Anlauf und vereinbarte mit ihm ein Treffen in Wien. Dort redeten die beiden dann bekanntlich auch über Berlin…«

      »…aber darüber werden hier nicht reden, weil das – der Herr Vorsitzende hat es ihnen doch bereits gesagt – die Anklage nicht berührt!« fiel mir die Rothaarige ins Wort und der Vorsitzende bekundete ihr durch eine deutliche Geste seine Zustimmung. Das ermunterte die Staatsanwältin,