Dame auf der Straße begegnete, zu der er als Knabe ebenso bewundernd wie vergeblich aufgeschaut hatte: Roswitha Blonowski, einst im selben Hinterhaus ansässig wie Eddies Familie und der Stern aller schlaflosen Jungenträume. Das Hinterhaus stand nicht mehr, doch Roswitha hatte nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Rötlich getöntes Haar, gut angemalt und schick wie eh und je.
«Roswitha!», rief er, und sie blieb stehen, nachdem sie dem Uniformierten zuvor in einem scheuen Bogen auszuweichen versucht hatte.
Sie staunte. «Mensch, biste nich der kleene Adolf?»
Schwang da so etwas wie Bewunderung mit in ihrer rauchigen Stimme?
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. «Mein lieber Scholli, du hast dir aber rausjemacht!»
Eddie griente zufrieden und wagte es, seinen Arm um ihre Taille zu legen. «Da freue ich mich aber, dich zu treffen.»
«Na, und ick erst … Aber musstest de denn ausjerechnet bei de Polente jehn?»
Das klang schon weniger begeistert. Als Eddie ihr in einer Stampe in der Münzstraße bei einem Glas Dünnbier den Grund für seine augenblickliche Berufswahl erläuterte, zeigte sie sich einsichtig. «Man weeß ja heutzutare jar nich, wozu so wat jut sein könnte … Und unter Wasser», sie schüttelte sich, «det is nu wahrlich keen schöner Dot.»
Der nette Abend endete im Bett. Roswithas Kemenate lag in der nahen Wadzeckstraße, von der es nur ein Katzensprung zur Kaserne war – ein Sprung, den Eddie von da an des Öfteren tat, obwohl ihm bald bewusst wurde, weshalb ihn Roswitha nicht jederzeit empfangen konnte.
«Sieh mal, mein Süßa, von irjendwat muss der Mensch schließlich leben. Du von dein Stuhlbeen und die Uniform – ick von meine Kunden. Deswejen lieb ick dir doch nich wenijer …»
Das Stuhlbein war der hölzerne Polizeiknüppel, mit dem Roswitha gerne mal herumfuchtelte. Sie ging auf den Strich, wie sie es schon getan hatte, als ihr der dreizehnjährige Eddie verliebt hinterhergeguckt hatte. Am Georgenkirchplatz war sie nicht die Einzige gewesen. Und jetzt war sie es noch weniger. Aber keine reichte an sie heran, fand Eddie.
Der Dienst und die Kaserne samt Gemeinschaftsverpflegung dagegen stanken ihm bald. Alle naselang karrte man die Bereitschaft zu Razzien gegen die Schwarzhändler, die ja nichts anderes taten, als sich mühselig am Leben zu halten. Ein paarmal begegneten Eddie unter den Festgenommenen Bekannte, und ihm blieb nichts anderes übrig, als den dämlichen Papp-Tschako tiefer ins Gesicht zu ziehen, um mit seinem Blondschopf nicht sofort erkannt zu werden. Auf die Dauer war das nichts für einen intelligenten Menschen wie ihn.
Das Ende kam schneller und nicht weniger heftig als draußen in Klingenberg. In den antiken Bauten der Kleinen Alexanderstraße befanden sich auch die Diensträume des Kommandeurs der Schutzpolizei. Nachdem die Russen den ersten Kommandeur, einen Sozialdemokraten namens Karl Heinrich, hatten verschwinden lassen, nahm jetzt ein gewisser Wagner die Stellung ein. Und der fand eines schönen Märztages, es sei an der Zeit, der auf dem Kasernenhof herrschenden Schlamperei ein Ende zu bereiten. Man nutzte Teile des Geländes der Einfachheit halber als Lagerplatz für die Fundmunition aus der Umgebung, während auf dem restlichen Freiraum der Dienstsport absolviert wurde. An diesem Tag also galt es, die Munition für den Abtransport zusammenzuräumen.
Unter den Polizeiangehörigen befand sich kaum einer, der nicht über ausreichende Kenntnisse im Umgang mit Granaten, Panzerfäusten und ähnlich soldatischem Mordwerkzeug verfügte. Aber wie immer und überall gab es einen altklugen Schlauberger, der mit seinen Kenntnissen und seinem vorgeblichen Können prahlen und die Funktionsweise einer Eierhandgranate vorführen wollte. Das gelang ihm gründlich. Nachdem er das Ding – versehentlich oder nicht – entsichert hatte, warf er es in Panik in die ringsum gelagerte Munition, was eine wesentlich heftigere Explosion hervorrief, als Eddie sie in der Spree miterlebt hatte. Aus allen Richtungen flogen ihnen die Brocken um die Ohren. Das zweihundert Jahre alte Kasernengebäude, das mehr als einen Krieg überstanden hatte, stürzte ein und erschlug einen Fußgänger.
Den Umzug der Bereitschaft in das Marstallgebäude am Schloßplatz machte Eddie, von einem Splitter am Unterarm leicht verwundet, nicht mit. Standhaft weigerte er sich, fortan in der hässlichen Uniform Dienst zu tun, die ihm ein derart lebensgefährliches Erlebnis beschert hatte. Wenn überhaupt, dann kam für ihn nur die Kriminalpolizei in Frage, bei der es zwar nicht weniger bedrohlich zuging, mit der aber wenigstens der Hauch des Abenteuers verbunden war.
Als Halbwüchsiger hatte Eddie mit roten Ohren die Hefte von Frank Allan und John Kling gelesen. Außerdem steckte natürlich Roswitha hinter seinem mit dem Explosionsschock begründeten Entschluss. «Wenn schon bei der Plempe, dann Kripo», fand sie. Einen bei der Firma konnte man immer gebrauchen, und die Nachbarn würden endlich aufhören, sich über den dauernden Polizeibesuch im Hause das Maul zu zerreißen. Dass Eddie zu ihr in die fensterlose Kemenate zog, schloss sie kategorisch aus. Eddies Tante in Tempelhof reagierte auf die bloße Andeutung der Existenz einer weiblichen Person in seinem Leben mit der prompten Androhung der sofortigen Exmittierung. Eddie zog es vor, Roswitha nicht mehr zu erwähnen. Die nächsten zwei Monate verbrachte er sowieso auf einem Lehrgang für berufsunkundige Kriminalanwärter an der Polizeischule in Oberschöneweide, wo man ihm die Grundlagen kriminalpolizeilicher Arbeit beizubringen versuchte.
So stand es also um Adolf Eddie Holtefret, der für immer noch 255 Reichsmark im Monat zur Kripo gewechselt war. Nun fand er sich plötzlich bei einem Einsatz der Mordkommission wieder, in der ein brummiger alter Herr namens Kappe den Ton angab. Ein unangenehm naseweiser junger Mensch suchte dem das Kommando streitig zu machen, bis Kappe ihn anfuhr: «Sie sind hier der Fotograf, Schieck! Tun Sie gefälligst Ihre Pflicht!»
Das tat Schieck sichtlich widerstrebend und dabei unaufhörlich über die schlechten Lichtverhältnisse zwischen den halbwüchsigen Kiefern räsonierend.
Dass man dem eine echte Leica anvertraut hatte, bewunderte Eddie. Er wusste, was die Kamera auf dem schwarzen Markt wert war. Dabei fiel ihm Roswithas beiläufige Frage nach einem zuverlässigen Fotografen ein. Wofür sie den brauchte, hatte sie nicht näher erläutert, nur etwas von alten Negativen angedeutet. Jedenfalls schien ihm der besserwisserische Kollege Schieck keine zweckmäßige Wahl, was immer Roswitha im Schilde führen mochte. Sie weihte ihn nur gelegentlich in ihre Pläne ein und sagte für gewöhnlich: «Bei deinem Beruf ist es besser, du weißt nicht zu viel!» Also fragte er nicht, vermied es aber im Gegenzug, Einzelheiten aus dem Betrugsdezernat zu erzählen, nach denen sie sich erkundigte.
Dass er nun bei der Mordkommission gelandet war und gleich am ersten Tag einer übelriechenden Frauenleiche begegnen würde, hatten weder er noch Roswitha am gestrigen Abend geahnt. Angesichts des atemberaubenden Gestanks bereute Eddie seine eifrige Zustimmung zu der morgendlichen Versetzung. Ihm fiel nichts anderes ein, als sich eine Zigarette anzuzünden und sich damit Kappes ersten scharfen Rüffel einzuhandeln: «Wir befinden uns hier an einem Tatort, Verehrtester, zumindest an einem Auffindungsort! Da kommt es auf die kleinste vorhandene Spur an. Ihre Kippe kann das ganze Tatortprofil verderben!»
Eddie drückte erschrocken den Glimmstängel aus und verbrannte sich die Finger.
Schieck sah ihn von unten her schief an und sagte hämisch: «Vielleicht will er ja als Frauenmörder entlarvt werden …»
Eddie bückte sich nach dem Streichholz. Kappe knurrte etwas Unverständliches und beugte sich noch einmal über die Leiche. So dicht, dass Eddie beim bloßen Anblick übel wurde. Die Frau glich eher einem grausigen Kleiderbündel als einem Menschen.
«Machen Sie noch ein paar Aufnahmen von der Halspartie!», forderte Kappe den Fotografen auf. «Sie gucken sich das auch mal an, Holtefret! Sieht ganz nach Würgemalen aus.»
Eddie hatte in seinem Leben etliche tote Soldaten gesehen. Zum Glück zumeist aus der Ferne. Auch im Gefangenenlager hatte es Tote gegeben. Der Dolmetsch Eddie gehörte nicht zum Begräbniskommando. Jetzt aber zwang ihn die Pflicht oder vielmehr dieser abgebrühte alte Knochen Kappe dazu, neben dem Schützenloch in die Hocke zu gehen und auf die schwärzlich verfärbten Hautpartien zu blicken, die einmal der Hals einer möglicherweise hübschen jungen Frau gewesen waren. Er versuchte, die Luft anzuhalten, säuerlich stieg es ihm in die Kehle. «So sieht