Jan Eik

Heimkehr


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hatte ich so was nach zwei Stunden auf dem Tisch!» Er wusste, dass er mit dieser Bemerkung Schiecks Zorn erregte.

      «Ja, ja, ihr hattet ein sagenhaftes Auto und studierte Techniker, und alles war überhaupt viel besser!», keifte der Fotograf ärgerlich und gleichwohl bemüht, nicht alle dicht um sie Gedrängten über ihren Gesprächsgegenstand aufzuklären. Dennoch konnte er sich nicht zurückhalten, leise und scharf hinzuzufügen: «Und alle waren bei der SS!»

      «Die meisten», entgegnete Kappe ruhig. Er hatte genug davon, dass dieser Oberpimpf ihn ewig anstänkerte. Im Grunde war es gleichgültig, wann die Fotos vorlagen. Ein paar Stunden mehr oder weniger machten in dem Fall kaum etwas aus. Und ob die Frau sich damit identifizieren ließ, stand in den Sternen.

      «Bringst du mir das mit dem Filmentwickeln bei?» Das war Holtefret, dem Schieck in der Hoffnung auf einen potenziellen jungen Genossen und damit auf einen Verbündeten gegen Kappe gleich das Du angeboten hatte.

      Udo Schieck tat sich wichtig, lehnte aber nicht ab. «Kommt alles auf die Qualität der Chemikalien und die richtige Temperatur an», klärte er den künftigen Lehrling auf. «Da braucht man viel Fingerspitzengefühl.»

      Eddie Holtefret nickte zufrieden. Als Junge hatte er eine Agfa-Box sein Eigen genannt und damit manchen, wie er jedenfalls fand, schönen Schnappschuss gemacht. Aber es dauerte, bis man die Bilder endlich in der Hand hielt, und es kostete. Wenn dieser Udo ihm das Entwickeln und das Vergrößern beibrachte, konnte er damit vor Roswitha glänzen, und sie brauchte nicht länger nach einem zuverlässigen Fotografen zu suchen. Vielleicht hatte die Mordkommission, abgesehen vom Leichengeruch, doch ihr Gutes.

      In der Linienstraße verschwanden die beiden Fotokünstler in der ehemaligen Damentoilette, die Schieck sich als Dunkelkammer gesichert hatte und zu der nur er einen Schlüssel besaß.

      Kappe wusch sich in der Herrentoilette die Hände und kehrte an sein Schreibmöbel zurück. Alles schien unverändert, nur der Stuhl fehlte. Wortlos, doch voller Ingrimm griff Kappe Schiecks Hocker und ließ sich darauf nieder. In einer Stunde war Feierabend. Er war noch nicht mal dazu gekommen, seine mittägliche Scheibe Brot zu essen. Dass ihm der Magen knurrte, darauf achtete er schon gar nicht mehr. Er trank einen Schluck von Klaras lauer Kaffeeplörre und verzog angewidert das Gesicht. Mein Gott, was man sich alles freiwillig antat!

      Während er sich bemühte, das Brot möglichst langsam und sorgfältig zu kauen, sichtete er seine Notizen über die aufgefundene Leiche, die inzwischen hoffentlich bei den Gerichtsmedizinern gelandet war. Vielleicht fanden die etwas Brauchbares heraus. Seine eigenen Erkenntnisse lohnten kaum das Aufschreiben:

      Nach anonym eingegangenem Anruf beim Polizeirevier in Buch Auffinden einer unbekannten weiblichen Leiche unbekannter Herkunft und unbekannten Alters. Todeszeitpunkt und -ursache ungewiss. Verwertbare Spuren: bisher keine.

      Jemand hatte ihm ein Blatt auf den Schreibtisch gelegt, eine Pressenotiz, die der Polizeipräsident herauszugeben gedachte: Rückgang der Morde in Berlin.

      Die Zahl war im August 1946 erstaunlicherweise tatsächlich auf 11 gegenüber 24 im Juni und 14 im Juli gesunken. Sogar die Selbstmorde hatten sich von 175 auf 133 vermindert, und nur 99 Verkehrstote standen 177 aus dem Juni gegenüber.

      Woran das wohl lag? Im Gegensatz zu seinem Präsidenten gab Kappe sich da keiner Illusion hin. Elf Morde in einem Monat waren wahrlich noch immer genug, und täglich mehr als drei Tote auf den Straßen reichten bei dem bescheidenen Verkehrsaufkommen allemal. Für einen Augenblick dachte er an den Potsdamer Platz, wie er ihn einst gekannt hatte. War das länger als ein Menschenleben her? Würde nicht ein weiteres Menschenleben vergehen, bis der Verkehr dort wieder so rege floss wie einst?

      Ohne anzuklopfen, betrat jemand den Raum. Irritiert blickte Kappe auf, er vermochte das Gesicht des Mannes jedoch in dem schlechten Licht nicht genau zu erkennen. Ein großer und in besseren Zeiten sicherlich kräftiger junger Mann jedenfalls, gekleidet in der bunten Tracht der Zeit: umgefärbte Uniformteile und darüber eine Art Joppe mit kariertem Muster, aus einer Decke vermutlich. Der Mann sagte: «Guten Tag! Bin ich hier richtig bei Kriminalinspektor Kappe?»

      Kappe schoss das Blut zum Herzen. Für einen Augenblick glaubte er, ohnmächtig von Schiecks Hocker zu sinken. Die Stimme! Unter Tausenden hätte er sie erkannt. Und den Mann natürlich auch. Kappe stützte sich auf die Tischplatte und stand auf. «Hartmut!», entfuhr es ihm dumpf, und er schämte sich der Tränen nicht, die ihm nun in den Augen standen. Unbeholfen trat er auf seinen ältesten Sohn zu und umarmte ihn. Das war seit mindestens zehn, zwölf Jahren nicht mehr vorgekommen. Aber die Rührung durfte einen wohl übermannen, wenn der Kronprinz der Familie so plötzlich und unerwartet und noch dazu ohne erkennbare äußerliche Schäden vor einem stand.

      Hartmut, einen halben Kopf größer als sein Vater, klopfte ihm mit der Handfläche auf den Rücken. «Ist ja schon gut», sagte er. «Ich bin wieder da.»

      «Warst du schon zu Hause bei Mama?»

      Hartmut schüttelte den Kopf. «Bin ja gerade erst angekommen», sagte er.

      Kappe zog seinen Sohn näher zur Fensterluke und betrachtete ihn eingehend. Der Junge sah nicht einmal schlecht aus. «Wie hast du mich denn so schnell gefunden?»

      Hartmut lachte. «Wo das Polizeipräsidium ist, habe ich mühelos erfahren …»

      «Aber ich hätte ja auch …» Kappe ließ den Satz unvollendet.

      Hartmut verstand dennoch. «Da hättest du dich aber sehr ändern müssen», sagte er. «Was sollten sie denn sonst mit so ’nem alten Mordkommissar wie dir anfangen?»

      Kappe blieb ernst. «Hast du ’ne Ahnung! Hier sind schon ganz andere Leute verlorengegangen.»

      «Na ja, das große Aufräumen ist wohl nötig», befand Hartmut leichthin. «Man hört ja, dass überall noch die Braunen drinstecken und ihre Köpfe recken.»

      Kappe fragte nicht, wo der Sohn das gehört hatte, wenn er doch eben erst in Berlin eingetroffen war. Und was hieß «die Braunen»? War Hartmut nicht selber als begeisterter HJ-ler zu den Fliegern eingerückt? Hatte er als sein Vater nicht oft genug mit dem Jungen über die politischen und strategischen Fehler des größten Führers aller Zeiten gestritten, und hatte Hartmut ihn nicht seiner gefährlichen Ansichten wegen verwarnt?

      Nun ja, die Zeiten hatten sich geändert, und Hartmut auch. Die Russen vollbrachten ja wahre Wunder der Umerziehung, wie Schieck oder der Polizeipräsident Markgraf bewiesen. Oder der Generalfeldmarschall Paulus, den sie im Februar vor dem Nürnberger Tribunal präsentiert hatten.

      «Hast du schon eine Unterkunft?», erkundigte sich Kappe. Mit leichtem Schrecken dachte er daran, was für neue Probleme auf sie zukamen.

      Hartmut jedoch winkte ab. «Mach dir keine Sorgen! Dafür ist gesorgt.»

      Kappe konnte es noch immer kaum glauben. Immer wieder schüttelte er den Kopf. «Mein Gott, was wird deine Mutter sagen!»

      «Ich hoffe, es geht ihr einigermaßen gut.»

      «Na, du wirst sie ja nachher sehen. Das gibt ja ein richtiges Familienfest, wenn wir beide nach Hause kommen!»

      «Karl-Heinz ist bei euch?»

      Kappe nickte bedrückt. «Dein kleiner Bruder macht uns Sorgen», sagte er. «Aber damit will ich dich jetzt nicht behelligen. Wir haben ja noch den ganzen Nachhauseweg und den Abend miteinander.»

      «Aber sonst kommt ihr zurecht?»

      «Was bleibt uns anderes übrig? Verhungert sind wir jedenfalls noch nicht. Und irgendwas werden wir heute Abend auch zu deinem Empfang auf den Tisch bringen!»

      «Ich fürchte, daraus wird nichts. Heute Abend hab ich leider etwas anderes vor. Grüß Mama erst mal von mir! Wir sehen uns am Wochenende.»

      Was war das nun wieder? Befremdet blickte Kappe seinen Ältesten an. Was gab es Wichtigeres für den als die Familie? Dann begriff er. «Du triffst dich mit einer Frau», sagte er verständnisvoll. «Da muss Mama erst mal zurückstehen. Sie wird es nur nicht einsehen.»

      Hartmuts