Petra Gabriel

Kaltfront


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am Fraenkelufer aufhielten. Dass drei Schüsse gefallen seien und es womöglich einen Toten gebe. Der KkvD, der Kriminalkommissar vom Dauerdienst, hatte sofort alle Kollegen zusammengetrommelt, die auf die Schnelle erreichbar gewesen waren, inklusive des Pressesprechers. Denn das versprach eine Aktion zu werden, für die sich die Presse interessierte. Den Dauerdienst gab es seit 1954, und er hatte sich in den ersten beiden Jahren bereits bewährt.

      Kriminalkommissar Otto Kappe und sein Kollege Jürgen Rückert, zuständig für die Schüsse und den Toten, waren direkt vom Schreibtisch herbeigeeilt. Sie hatten die bisher relativ ruhige Nachtschicht genutzt, um allerlei Papierkram zu erledigen. In den letzten Jahren hatte die Flut der Formulare und der von oben angeordneten Berichte explosionsartig zugenommen. Kappe und Rückert waren unter den Ersten gewesen, die von dem Hinweis erfahren hatten, und sofort zusammen mit Kollegen von den Inspektionen B I (Betrug) sowie B II (Schwindel, Falschspiel, Glücksspiel und Rauschgift) ausgerückt. Diese würden sich mit den Fälschern befassen und waren ebenfalls nächtens bei der Arbeit gewesen, weil sie mit Hochdruck gegen je einen leitenden Beamten der Berliner Finanzverwaltung und des Landesausgleichsamtes ermittelten. Der Vorwurf: Untreue, Betrug und Bestechlichkeit. Die beiden feinen Herren sollten persönlichen Bekannten sogenannte Aufbaudarlehen zugeschanzt haben. Aber nun hatte der Moabiter Haftrichter einen der beiden tatsächlich wieder laufenlassen. Die Kollegen waren auf 180 und nicht gewillt, diese Entscheidung auf sich beruhen zu lassen. Sie ackerten fast rund um die Uhr.

      Für die Abteilungen der Mordkommission in der Friesenstraße machte die Tatsache, dass die Fälscher neben allen anderen Dienstausweisen auch die roten der Kriminalpolizei kopierten, die Angelegenheit zur Ehrensache. Derzeit verwendeten sie zwar meist die Kriminaldienstmarken, die es seit 1953 wieder gab, aber das machte die Angelegenheit auch nicht besser. Welcher Normalbürger vermutete schon eine Fälschung, wenn ihm jemand einen roten Dienstausweis unter die Nase hielt? Und Normalbürger bildeten trotz der alarmierenden Kriminalstatistiken immer noch die Mehrheit in den Westsektoren Berlins.

      Otto Kappe kroch die Kälte in alle Glieder, er spürte seine Nasenspitze schon nicht mehr, die erzwungene Ruhe trug ihren Teil dazu bei. Sie mussten sich still verhalten, um nicht in letzter Sekunde noch unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hoffentlich kam das vereinbarte Zeichen bald, und sie konnten gemeinsam mit den Kollegen von der Schutzpolizei das Haus stürmen und das Fälschernest ausheben. Doch noch war es nicht so weit. Erst mussten sich alle postiert haben, um jeden möglichen Fluchtweg abzuriegeln.

      So harrte Kriminalkommissar Otto Kappe wartend in dem eisigen Frost aus, klapperte mit den Zähnen und verfluchte den plötzlichen Kälteeinbruch. Bis zu minus 30 Grad waren angekündigt. Für ihn fühlte es sich jetzt schon an wie minus 50. Um sich abzulenken, dachte er darüber nach, was sie mittlerweile über die Fälscherwerkstatt wussten. Neben «Schmuggelkönig» Henry Liebermann gehörten mindestens noch drei weitere Personen der Fälscherbande an: der 39-jährige Graphiker Hans Brecht, der 53-jährige Buchdrucker Johannes Neyd und ein Unbekannter, der Pole sein sollte.

      Liebermann hatten sie geschnappt. Aber die Freude war nur kurz gewesen, denn er hatte geschwiegen wie ein Grab und war kurz darauf aus dem Untersuchungsgefängnis Moabit ausgebrochen. Angeblich lebte er jetzt im Sowjetsektor. Das deutete darauf hin, dass der Staatssicherheitsdienst aus der Zone, kurz SSD, die Finger im Spiel hatte. Deshalb kamen sie wahrscheinlich auch nicht an Liebermann heran. Und obwohl die Fahndung auf Hochtouren lief, schafften es die anderen Fälscher, die Arbeit am Laufen zu halten. Die waren frech wie Bolle. Otto Kappe verstand allerdings noch immer nicht, was den SSD dazu bewogen haben könnte, die Fälscherwerkstatt ausgerechnet in einem Haus in einem der drei Westsektoren einzurichten, wo es in der Zone doch viel sicherer gewesen wäre. Vielleicht war es ihnen einfach zu riskant, die gefälschten Papiere in den Westen zu schmuggeln. Der anonyme Hinweis zum Versteck der Bande hatte jedenfalls glaubwürdig geklungen.

      «Die Kollegen sind an ihrem Platz, die Haustür ist offen. Können wir?», flüsterte Jürgen Rückert. Seine Stimme klang zusätzlich gedämpft durch den Wollschal, den er sich bis unter die Augen gezogen hatte.

      Otto Kappe vertraute Rückert. Sie kannten einander jetzt schon eine ganze Weile, genauer, seit Rückert nach dem Krieg bei der Mordkommission aufgetaucht war. Otto Kappe erinnerte sich noch gut an ihre erste Begegnung – und an seine Verblüffung: Rückert hatte mangels einer eigenen Unterkunft im Westen in der vorangegangenen Nacht auf dem Schreibtisch genächtigt. «Gestatten, Jürgen Rückert», hatte er gesagt und gegrinst. Dann war er vom Schreibtisch geklettert und hatte sich die zerknitterten Klamotten zurechtgezupft. Rückert hatte aus der Zone rübergemacht. «Der Liebe wegen – und weil ich mit den Kommunisten nichts am Hut habe. Ich bin in der SPD und wollte die Zwangsvereinigung mit der KPD nicht mitmachen. Meine Verlobte wohnt in Siemensstadt, aber sie ist gerade mit ihren Eltern im Harz, deswegen konnte ich bei ihr nicht schlafen», berichtete er.

      Komisch, an manche Dinge dachte man lange nicht, und dann fielen sie einem in den unmöglichsten Situationen wieder ein. Inzwischen war Rückert längst verheiratet und Vater.

      Der Einsatzleiter nickte ihnen zu. «Wir können.»

      Otto Kappe peilte die Lage. «Ich gehe voraus», raunte er seinem Kollegen Rückert zu und zog seine FN-Pistole, Kaliber 7,65, Modell 1910, entworfen von John Moses Browning. FN stand für Fabrique Nationale. Dahinter verbarg sich der belgische Waffenhersteller Fabrique Nationale d’Armes de Guerre. Otto Kappe marschierte los, den anderen nach. Rückert ihm hinterher. Sie schlichen mit der Waffe im Anschlag durch die bereits offene Haustür ins Treppenhaus. Einige Kollegen postierten sich an der Treppe zum ersten Stock.

      Der Einsatzleiter klingelte Sturm an der Wohnungstür. Als auch nach dem dritten Versuch niemand öffnete, winkte er den bereits eiligst herbeizitierten Hausmeister heran. Der stand noch immer mit vom Schlaf plissiertem Gesicht in Schlafanzug und Morgenmantel im Hausgang und schlotterte vor sich hin. Auf ein Zeichen hin zückte er seinen großen Schlüsselbund und suchte umständlich einen Schlüssel heraus. Der passte nicht. Er versuchte es mit dem nächsten. Und dann noch einem.

      «Nu machen Sie hinne!», flüsterte der Einsatzleiter.

      Der Hausmeister nickte und suchte hektisch weiter. Der Schlüsselbund klirrte. In der Wohnung blieb es ruhig. In Otto Kappe machte sich der Verdacht breit, dass sie einer Finte aufgesessen waren. Oder dass, wer auch immer in der Wohnung sein mochte, inzwischen vom Geklingel und Geklapper an der Tür aufgewacht sein musste und längst über alle Berge war, wenn er wirklich Dreck am Stecken hatte.

      Erneut ein Fehlversuch. Einer der Männer fluchte. Die Hände des Hausmeisters zitterten. Auch beim fünften Versuch bekam er den Schlüssel nicht ins Schloss. Schließlich aber schaffte er es: Der Schlüssel passte! Alle atmeten erleichtert auf, als die Wohnungstür endlich aufschwang.

      Otto Kappe und Rückert gaben sich gegenseitig Deckung, als sie den Flur betraten. Die Kollegen folgten.

      Plötzlich hörten sie ein Klappern.

      «Hier ist jemand!», brüllte Otto Kappe und rannte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Durchs Küchenfenster, das im böig-scharfen Wind auf und zu schlug, sah Otto eine schwarze, dick vermummte Gestalt in Richtung Admiralsbrücke davoneilen. «Verdammt, warum steht hier niemand unter dem Fenster?» Dann schrie er: «Halt, Polizei! Stehen bleiben!» Und noch einmal: «Stehen bleiben, Polizei! Nehmen Sie die Hände hoch, und bleiben Sie sofort stehen!»

      Die Gestalt hielt kurz inne, griff in die Tasche und hastete weiter.

      «Stehen bleiben, Hände hoch, lassen Sie die Waffe fallen!», donnerte Otto Kappe, hechtete aus dem Küchenfenster und spurtete hinterher.

      Er hörte nicht mehr, wie Kollege Jürgen Rückert sagte: «Hier ist nichts. Keine Druckplatten, kein Papier. Nichts. Die Wohnung ist bis auf die Möbel komplett leer. Auf den ersten Blick wirkt sie, als wäre sie unbewohnt. Keine Photos, keine persönlichen Gegenstände. Der Kohleherd ist allerdings noch lauwarm. Aber schaut mal, kaum noch Glut. Da ist seit gestern Abend nicht mehr nachgelegt worden. Der Kohleeimer ist auch leer. Jemand hat uns aufs Glatteis geführt.»

      Rückert blickte sich um. Die Fensterscheiben begannen bereits zu vereisen. In der Küche stand nur das Nötigste. Der Kohleherd, daneben die Spüle.