Petra Gabriel

Kaltfront


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ist er ’ne gute Seele. Rückert natürlich. Und dann noch Hans-Gert.»

      «Hans-Gert? Der Enkel vom ollen Gustav Galgenberg? Ich dachte, der sollte versetzt werden.»

      «Nee, sie haben ihn dann doch hierbehalten. Der Chef war wohl der Meinung, Kappe zwei und Galgenberg zwei könnten ein gutes Team ergeben. Allerdings ist Hans-Gert gerade im Urlaub, er kommt nächste Woche wieder.»

      «Dann ist ja gut», meinte Kappe und bekam Sehnsucht nach dem ollen Gustav Galgenberg. Der sah längst die Primeln von unten. Wenn dessen Enkel so gut mit Otto zusammenarbeitete wie er einst mit Galgenberg, dann konnten alle sich glücklich schätzen. «Vielleicht sollten wir damit anfangen, dass wir uns die Wohnung am Fraenkelufer noch mal genauer anschauen. Womöglich ist der Inhaber oder die Inhaberin jetzt zu Hause. Wenn wir Glück haben, handelt es sich sogar um diese Ida Sowieso, und wir können mit ihr reden.»

      KAPITEL DREI

       in dem eine Frau verzweifelt nach ihrer Nichte sucht

      IDA BERKOWITZ hielt sich den ganzen Tag über in U-Bahn-Schächten und S-Bahnhöfen warm. Niemand achtete auf die schmale Frau mit dem grauen Wollschal über den Haaren, die in dem schweren Ulstermantel fast versank und sich mal da und mal dort hinsetzte. Manchmal zuckte sie zusammen, wenn die Wunde unter dem breiten Verband nach einer unbedachten Bewegung schmerzte. Keiner bemerkte es. Alle wollten nur eiligst von A nach B, vor allem aber schnellstens ins Warme.

      Das war nicht ganz einfach, denn vor der Kälte kapitulierte nicht nur die Bevölkerung, sondern immer wieder auch die Technik. Es gab Oberleitungsschäden, und die Schienen waren teilweise durch den Frost geborsten. Die BVG bemühte sich zwar um Ersatzrouten und Ersatzfahrzeuge, aber das entspannte die Lage nur unwesentlich. Die Busse, die fuhren, waren brechend voll. Auf den Straßen herrschte allenthalben Chaos. Nicht weil viel Schnee gelegen hätte, sondern wegen der vielen Wasserrohrbrüche und weil Autos aller Fabrikate den Dienst versagten.

      Überall, wo sich Menschen trafen, war die Kälte deshalb das beherrschende Thema. Während Ida Berkowitz durch Straßen, Tunnelschächte und U-Bahnhöfe irrte, fing sie im Vorübergehen Gesprächsfetzen auf. Die Boote der Wasserschutzpolizei konnten nicht mehr auslaufen, vom kleinsten Rinnsal bis hin zum Großen Wannsee war inzwischen alles zugefroren. In einigen Schulen waren sogar «Kälteferien» angeordnet worden, obwohl es so etwas in Berlin offiziell gar nicht gab. Die Leute unterhielten sich auch darüber, dass die Revierstreifen, die Funkwagenbesatzungen und die Verkehrspolizisten in Anbetracht des Frostes nicht länger als eine Stunde am Stück und nicht mehr als sechs Stunden am Tag Außendienst tun durften. Selbst in der Landespolizeidirektion schenkten sie heißen Tee aus. Die Verkehrsposten der Polizei bekamen auf Anordnung des Kommandos der Schutzpolizei Tee mit Rum in Thermoskannen mit. Die Eil- und Telegrammboten sowie die Briefträger konnten sich alle drei Stunden bei Tee im Postamt aufwärmen. Die Kraftfahrer der Post erhielten ebenfalls eine warme Stärkung, wenn um 10 Uhr morgens bereits 10 Grad Kälte herrschten.

      Ida hatte keinen heißen Tee. Sie fror trotz des schweren Herrenmantels und des wärmenden Muffs für die Hände erbärmlich. Der Frost war ihr inzwischen durch die undichten Sohlen der Stiefeletten bis in die Seele gekrochen. Und sie hatte große Angst um Lenchen. Hoffentlich war ihre Nichte schlau gewesen und hatte sich in der Wohnung versteckt gehalten. Hoffentlich hatten die Polizisten sie nicht entdeckt. Und, das machte Ida die größten Sorgen, hoffentlich auch nicht die anderen. Die sie unter Druck setzten und sie zwingen wollten, für sie zu spionieren. Wenn sie es genau nahm, hatte sie eigentlich nur eine Hoffnung: dass sie Lenchen nicht erwischten, weil ihre Nichte offiziell überhaupt nicht existierte. Wenn sie erfuhren, dass es das Mädchen gab, würden sie es sicherlich holen kommen. In der Zone waren sie nicht zimperlich, wenn es um die Kinder verurteilter Zuchthäuslerinnen ging. Fünfzehn Jahre hatte ihre Schwester Ursula im Januar bei ihrem Prozess vor dem Stadtgericht bekommen. Nein, in der Zone durften sie auf keinen Fall herausfinden, dass es Lenchen gab. Sonst würden sie die uneheliche Tochter der Zuchthäuslerin wegholen, sie vielleicht sogar entführen und in eine parteikonforme Pflegefamilie stecken. So etwas hörte man immer wieder.

      Und sie selbst? Warum schoss jemand auf sie? Sie hatte doch getan, was sie wollten. Vielleicht waren sie es auch gar nicht gewesen. Aber wer sonst sollte so etwas tun?

      Sie dachte an Ursula, ihre kleine Schwester Ursula. Die gehörte zu denen, die in den Zeitungen der Zone KgU-Banditen genannt wurden. KgU stand für «Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit» – eine von den Amerikanern unterstützte West-Berliner Organisation, die in der Zone den Widerstand gegen die SED unterstützte. In der Berliner Zeitung war Ursula als gewissenlos und frech beschrieben worden, als Seelenverkäuferin, die nicht menschlich denke und fühle, als Agentin der KgU-Verbrecherzentrale, die Namen und Adressen von Mitarbeitern volkseigener Betriebe an den Westen verkauft haben solle. Ida erinnerte sich genau an die Sätze, hatte sie immer und immer wieder gelesen.

       Ungerührt bekannte die Berkowitz auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden, ob sie den Hauptagenten Latschetschek – mit dem sie schlief, als ihr Mann im Krankenhaus lag – nach dem Wofür gefragt habe: «Er sagte mir, dass es für die Ernst-Ring-Straße sei.» Vorsitzender: «Wussten Sie, was da ist?» Angeklagte: «Ja, ich wusste aus Unterhaltungen, dass dort die KgU-Zentrale ist. Ich wusste, dass man es für Spionagezwecke haben wollte.»

      Spionagezwecke – wie sich das anhörte! Anfangs war es bei der KgU doch nur darum gegangen, eine Datei für einen Suchdienst aufzubauen, der in der Sowjetunion vermissten deutschen Soldaten nachspürte und damit den Angehörigen, denen der Suchdienst des Roten Kreuzes nicht helfen konnte, endlich Klarheit darüber verschaffen konnte, warum ihre Männer, Söhne und Brüder nicht längst heimgekehrt waren. Und ja, es ging auch um Vergeltung. Für das, was nach Kriegsende mit den Frauen geschehen war. Zum Beispiel mit Ursula, der angehenden Ingenieurin, die ihrer Tochter Lenchen niemals in die Augen sehen konnte.

      Und so hatte Ida ihre Nichte Lenchen zu sich genommen, das Kind, von dem niemand wissen durfte. Auf Letzterem hatte Ursula bestanden. Latschetschek – mit dem sie schlief. Ida fragte sich, wo sie das nun wieder herhatten. Ursula hatte keinen Geliebten. Sie schlief mit keinem Mann. Seit damals nicht mehr.

      Was geschehen war, konnte niemand ändern. Doch Ida durfte nicht zulassen, dass sie Lenchen bekamen. Obwohl sie zunehmend Schwierigkeiten miteinander hatten, liebte sie das Mädchen von Herzen.

      Lenchen war meist in sich gekehrt und ertrug es nicht, wenn man ihr zu nahe kam. Sie überfielen dann regelrechte Tobsuchtsanfälle, bei denen sie nicht mehr zu wissen schien, was sie tat. Ida hatte sich mehr als einmal gefragt, ob sich die Umstände der Zeugung eines Kindes vom Moment der ersten Teilung der Eizelle an in der Seele eines Fötus festsetzen konnten. Aber sie wusste, dass das Unsinn war.

      Nein, es war nicht immer einfach gewesen mit Lenchen. Dennoch hatte sie ihre Nichte so gut es ging selbst unterrichtet und sie, wann immer es ihr möglich gewesen war, nach draußen gebracht und ihr die Welt außerhalb der Wohnung gezeigt. Seltsamerweise hatte es Lenchen in den ersten Jahren nicht viel ausgemacht, die meiste Zeit ihres Lebens drinnen zu verbringen. Doch das hatte sich inzwischen vollkommen geändert.

      Vielleicht lagen ihre zunehmenden Probleme mit dem Kind auch daran, dass Lenchen langsam zu begreifen begann, dass bei ihr einiges anders war als bei anderen Kindern. Sie stellte Fragen. Aber Lenchen war doch erst elf Jahre alt! Was hätte sie ihr antworten sollen? Ida spürte, dass ihre Nichte ihr nicht mehr vertraute. Sie wurde zunehmend verstockter, und inzwischen verschwand sie einfach immer wieder tagelang. Ida hatte den Verdacht, dass sie stahl. Sie hatte Lenchen vorsichtig darauf angesprochen. Doch diese hatte äußerst aggressiv auf ihre Vorhaltungen reagiert und war dann wieder einmal einfach abgehauen.

      Sie konnte das Kind doch nicht einsperren! Lenchen hatte recht, wenn sie Aufklärung einforderte und fragte: «Warum muss ich mich immer verstecken? Warum darf niemand wissen, dass es mich gibt? Weil du dich für mich schämst? Weil du nicht willst, dass die Leute von deiner unehelichen Tochter wissen?» Lenchen hielt sie für ihre Mutter. Das Kind wusste von nichts. Wie sollte man ihm auch sagen, dass es das Ergebnis einer Vergewaltigung war und die wirkliche Mutter seine