Petra Gabriel

Kaltfront


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Berkowitz zog die rechte Hand aus dem Muff und schaute auf die Uhr. Ihr Kopf und die Verletzung an ihrer Seite pochten um die Wette. Sie musste dringend Schmerzmittel auftreiben. Am Abend würde Bendler am vereinbarten Treffpunkt auf sie warten. Ob sie hingehen sollte? Sie musste. Vorher musste sie aber unbedingt noch einmal in die Wohnung am Fraenkelufer, um nach Lenchen zu sehen. Vielleicht fand sie dort auch noch Tabletten, die ihre Schmerzen etwas linderten. Hoffentlich war das Mädchen da. Hoffentlich!

      KAPITEL VIER

       in dem zwei Kappes heimlich eine Wohnung aufsuchen und nicht nur einen Toten finden

      EINE WEILE beobachtete die Frau in dem viel zu großen Ulstermantel das Haus am Fraenkelufer. Doch es blieb alles ruhig. Wie es schien, waren die Polizisten abgezogen. Ida Berkowitz atmete erleichtert auf. Vielleicht wurde doch noch alles gut. Und vielleicht hatte Lenchen ausnahmsweise gehorcht.

      Ida schaute sich um. Es war gerade niemand auf der Straße, und sie nutzte die Gelegenheit, sich ins Haus zu schleichen. Ungesehen kam sie ins Gebäude und schloss leise die Wohnungstür auf. Stille empfing sie. Und Kälte. An den Fenstern hatten sich bereits Eisblumen gebildet.

      «Lehnchen! Lenchen, bist du da?» Keine Antwort. Ida rannte in die Küche und schob den Vorhang zwischen Spüle und Kohleherd zur Seite. Das Versteck war leer. Ebenso die Stube. Als sie ins Schlafzimmer kam, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Auf dem Bett lag, regungslos und bleich, ein Mann. Unter ihm hatte sich ein roter Fleck ausgebreitet. Die Matratze hatte das Blut breitflächig aufgesogen. Erst traute sie sich nicht, näher an die Gestalt heranzutreten. Dann schlich sie sich näher, so leise, als könne sie den Toten im Schlaf stören. Das war Peter Klaus. Der Nachrichtenhändler, der sie und Lenchen bei sich aufgenommen hatte. Er arbeitete beim Büro Ost der West-Berliner SPD mit, lieferte aber auch Informationen an die KgU. Die beiden Organisationen hatten dasselbe Ziel: den Kommunismus auszuhebeln und die DDR zu destabilisieren. Deswegen kooperierten sie eng bei dem Versuch, Genossen von der SED abzuwerben und für die westlichen Werte zu gewinnen.

      Ida war ebenfalls SPD-Mitglied. Wie Ursula. Doch sie selbst hatte es leichter gehabt als ihre Schwester, die in der Zone wohnen geblieben war. Nach der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD waren von dort viele in die Westsektoren übergewechselt – nicht aber Ursula. Die wollte bleiben und für eine bessere Welt kämpfen. Es gab noch immer kleine Grüppchen von SPD-Treuen in den Betrieben drüben, die aus der Bundesrepublik unterstützt wurden, mit Geld, mit Infrastruktur und mit Wohnungen im Westen, wenn jemand fliehen wollte. Ursula hatte zu einer dieser Gruppen gehört. Und nun saß die Schwester im Gefängnis.

      Ob Peter Klaus ein überzeugter Sozialdemokrat war, vermochte Ida nicht zu sagen. Er verkaufte seine Nachrichten an alle, die ihm etwas dafür bezahlten: die CIA, die Organisation Gehlen, an Zeitungen, an die SPD. Er lieferte zudem Informationen für das Archiv der KgU über im Russlandfeldzug verschollene Soldaten oder solche, die in Straflagern verschwunden und niemals wiederaufgetaucht waren. In den letzten Jahren hatte die KgU umfangreiches Material über oft schreckliche Schicksale zusammengetragen.

      Manchmal hatte Peter Klaus Nachrichten in einem toten Briefkasten bei einem Baum in der Nähe der Wohnung deponiert. Hatte eine dieser dunklen Gestalten, die sie abholten, ihn umgebracht, weil er gefälschte Nachrichten verkauft hatte? Das tat er nämlich immer wieder. Er schrieb die sensationellsten Berichte, die sich nicht selten aus Zeitungsnachrichten, Gerüchten und der eigenen Einbildungskraft nährten. Je spektakulärer die Meldungen waren, umso besser bezahlten seine Abnehmer.

      Die KgU lieferte hin und wieder ebenfalls Informationen an die Organisation Gehlen oder die CIA, zum Beispiel über die neue Anlage bei der Gasag. Dafür bekam die Gruppe Geld, mit dem sie ihre Arbeit finanzieren konnte.

      Ida wagte einen Blick auf Peter Klaus. Von vorn sah sein Gesicht unverletzt aus. Nur die Augen waren wie in völliger Verblüffung weit aufgerissen. Er musste seinen Mörder gekannt haben. Der tödliche Schlag war wohl von hinten gekommen.

      Jetzt, da Ida näher bei ihm stand, erkannte sie, dass der Fleck auf der Matratze, der sich noch immer weiter ausdehnte, keineswegs nur aus Blut bestand, sondern auch aus Hirnmasse. Sie würgte, wich zurück und trat auf etwas. Am Boden lag das kleine Fleischbeil, das sie zum Hacken der Suppenknochen benutzten. Sie waren nicht reich, Schweine- und Rinderknochen gab es billig beim Metzger. Die ergaben zusammen mit Kartoffeln und selbstgesammelten Esskastanien oder gerösteten Nüssen einen wohlschmeckenden Eintopf. Und jetzt das! Das Fleischbeil lag normalerweise ordentlich verstaut in einer Küchenschublade. Wer diesen Mann erschlagen hatte, musste von dem Beil gewusst haben. Lenchen? O nein, nicht Lenchen! Ob er versucht hatte, sie … Idas Verstand weigerte sich zunächst, den Gedanken zu Ende zu denken. Doch er ließ sich nicht wegdrängen. Peter Klaus hatte Lenchen in der letzten Zeit so seltsam angestarrt, wenn er glaubte, niemand beobachte ihn. Nein, nein, nicht Lenchen! Lenchen war doch noch ein Kind!

      Aber wer dann? Wieso war Peter Klaus überhaupt hier? Er hatte doch gesagt, er würde länger weg sein.

      Ida zögerte. Sollte sie die Polizei alarmieren? Nein. Es war besser, sie verschwand hier. Schnellstens. Außerdem musste sie versuchen, Lenchen zu finden. Womöglich trieb sich das Kind bei dieser Affenkälte draußen herum und wusste nicht, wo es hin sollte. Am Ende erfror das Mädchen noch! Oder die von drüben fingen Lenchen ein wie einen herrenlosen Hund und taten ihr am Ende etwas an, weil sie in ihr eine Mitwisserin vermuteten. Nicht auszudenken! Lieber ging Ida selbst dabei drauf. Aber nicht Lenchen! Sie konnte doch für all das nichts.

      Nach Lage der Dinge konnten Lenchen und sie jedenfalls nicht in dieser Wohnung bleiben. Hastig kramte Ida die wenigen Habseligkeiten zusammen, die im Schrank verstaut waren, und steckte sie in den alten Pappkoffer, den sie ebenfalls dort deponiert hatte. Wohin sollte sie gehen? Es fiel ihr schwer, klar zu denken. Sie musste dem Mädchen eine Nachricht hinterlassen. Aber wo? Vielleicht in dem toten Briefkasten? Nein, von dem wusste Lenchen nichts. Ida fiel nur einer ein, der ihr vielleicht helfen würde: Uwe Müller. Ursula kannte ihn gut. Sie hatte ihm vertraut, sonst hätte sie Müller niemals die Adresse ihrer Schwester Ida als Anlaufstelle genannt, als er in den Westen gewechselt war. Er hatte eines Tages vor ihrer Tür gestanden. Ida hatte ihn zunächst aufgenommen, ihm bei der Wohnungssuche geholfen und ihm durch ihre Empfehlung eine Stelle bei der Gasag vermittelt. Dort hatten sie gerade einen Ingenieur gesucht.

      Idas Fluchtinstinkt wurde übermächtig. Nur weg von hier, dann konnte sie vielleicht besser denken.

      Da hörte sie Schritte im Hausflur. Und Männerstimmen. Sie konnte zunächst nicht verstehen, was geredet wurde. Dann klingelte es. Einmal. Zweimal. Jemand sagte: «Da brat mir einer ’nen Storch! Die Tür steht offen, aber niemand meldet sich.»

      Ida überlief es siedend heiß. Sie hatte die Wohnungstür nur angelehnt. Hastig klappte sie den Koffer zu und stellte ihn in den Schrank zurück. Kurz dachte sie darüber nach, sich ebenfalls dort zu verkriechen. Aber im Schrank würden sie sicher zuerst suchen. Wohin dann?

      «Brr, hier is es janz schön kalt», sagte der eine.

      Ida schaute sich verzweifelt um. Die Stimme kannte sie! Aber woher? Der Mann war schon im Flur. Blieb als Versteck nur noch dieses Zimmer.

      «Dann schauen wir uns mal um», antwortete der andere. «Vielleicht bekommen wir Hinweise darauf, ob hier jemals eine Fälscherwerkstatt gewesen ist. Haben die Kollegen eigentlich herausgefunden, wer unter dieser Adresse gemeldet ist, Otto? Hat Rückert vorhin am Telefon etwas dazu gesagt?»

      «Nee, hat er nich. Er hat noch nicht mal nachgefragt, warum ich det wissen wollte.»

      «Vielleicht ahnt er, was wir treiben. Is ihm wohl lieber, im Zweifel sagen zu können, er wisse von nichts.»

      «Vermutlich. Das rechne ich ihm ooch hoch an. Aber zurück zur Wohnung. Ich hab selber mal ’n bisschen nachgeforscht und meine Kontakte jenutzt, bevor ich zu dir gekommen bin. Dit ist seltsam, hier is niemand jemeldet. Eigentlich steht die Bleibe leer, Onkel Hermann.»

      «Wie ich höre, bist du voller Tatendrang. Das freut mich. Geht es dir inzwischen etwas besser?»

      «Der erste Schock is vorbei. Un nu hab