Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom


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Atmung vergaß. Jedenfalls fühlte ich mich miserabel. Ich versuchte irgendwie cool zu bleiben, gleichwohl mein T-Shirt tropfnass geschwitzt war und meine feuchtheißen Hände wie in Fieberschüben zitterten. Ich zog hinter mir die Klassentür zu und kurz wie ein Wimpernschlag überlegte ich mir, noch im Treppenhaus abzuhauen. Ich entschied mich, es bleiben zu lassen, da im Grunde gar keine Notwendigkeit für eine Flucht vorlag. Im Gegenteil, es lag an mir – und nur an mir –, Mut und Stärke zu zeigen.

      Sie hatten das leerstehende Klassenzimmer der 3b im ersten Stock als, sagen wir mal, Verhörraum hergerichtet. Ich betrat es, nachdem ich mir mit meinem feuchten T-Shirt etwas von der kühleren Luft im Flur zugefächert und meine schweißigen Hände an der Hose abgewischt hatte.

      „Hallo, Oliver, komm, setz dich!“ Der etwas ältere der beiden Polizisten machte auf Guter Kumpel. Meinetwegen, das war mir ganz recht so. Zunächst war ich einfach einmal froh, keinem die Hand schütteln zu müssen.

      „Wie geht es dir?“, wollte der andere wissen.

      Was für eine Frage! Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Was sollte ich den beiden erklären, wie ich mich augenblicklich fühlte? „Es geht!“, sagte ich knapp und mit einem Schulterzucken.

      „Schön!“, sagte der Ältere.

      „Wie würdest du dein Verhältnis zu Dennis Brandenberger beschreiben? Ich meine, warst du sehr eng mit ihm befreundet?“

      Einen Moment lang war ich fassungslos. „Was heißt denn hier ‚Verhältnis‘? Ich hatte nie ein Verhältnis mit einem Jungen! Weder mit Dennis noch mit einem anderen. Dennis war für mich stets ein guter Klassenkamerad, mehr nicht. Und wenn Dennis auch schwul gewesen wäre, so hätte ich damit gar keine Probleme gehabt. Überhaupt, was heißt hier ich ‚war‘? Was ist mit Dennis, wie geht’s ihm?“ Nun war ich vollends aufgedreht.

      Der jüngere Beamte beugte sich vor. „Dennis wird intensiv betreut. Man musste ihn in ein künstliches Koma versetzen. Seine Kopfverletzungen sind zu schwerwiegend.“

      Ich schloss kurz die Augen und schluckte einmal leer. „Oh Gott! Wird er … wird er wieder gesund werden?“

      „Momentan kann nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden, ob er überhaupt durchkommen wird. Und auch wenn er überlebt, können bleibende Schäden nicht ausgeschlossen werden.“

      Ich fühlte, wie Tränen in mir aufsteigen. Meine Hände begannen noch intensiver zu zittern. „Es ist alles so schrecklich, was vorgefallen ist, und wir können nichts für ihn tun?“

      „Doch, Oliver. Du kannst jederzeit etwas für Dennis tun. Geh hin. Besuche ihn und zeig ihm, dass du da bist. Dass er nicht allein ist in seinem Schmerz.“

      „Aber zuerst möchten wir, dass du etwas für uns tust: Anhand von Aussagen deiner Kameraden wissen wir, dass du bei der Schlägerei gestern Nachmittag als Zuschauer dabei warst. Ist das korrekt so?“

      „Okay, ich war auf dem Hof. Aber ich bin nicht als Gaffer hingegangen, sondern zufällig hineingeraten. Da war die Keilerei bereits im Gange.“

      „Oliver, hier geht es momentan nicht um die Schuldzuweisung für unterlassene Hilfeleistung. Damit muss jeder Einzelne von euch klarkommen. Jeder muss für sich selbst Rechenschaft darüber ablegen, ob er noch mit gutem Gewissen in Dennis’ Augen blicken kann.“

      „Erzähl uns einmal, was sich auf dem Schulhof wirklich ereignet hat. Was waren das für Typen, die Dennis so zugerichtet haben?“

      „Ich befürchte, dass ich Ihnen da nicht viel weiterhelfen kann“, holte ich aus. „Ich sagte doch schon, die Prügelei lief bereits. Fünf Kerle und ihr Anführer. In ihrer Mitte Dennis. Zuerst gingen sie mit den Fäusten auf ihn los, bis er hinfiel. Dann traten sie ihn mit den Füßen. In den Bauch, in den Rücken, in die Seiten … dann ins Gesicht! Immer wieder und wieder!“

      „Okay, Oliver. Hast du die Typen erkannt?“

      Ich schüttelte den Kopf.

      „Oliver, deine Mitschüler haben ausgesagt, du seiest am längsten da gewesen! Alle anderen seien vor Schiss schon früher weggerannt.“

      „Ach so, daher weht also der Wind!“

      „Na also, mein Junge. Dann erzähl uns doch mal, was geschah, als du mit den Kerlen allein da warst!“

      „Es tut mir leid, da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war wie elektrisiert. Ich konnte mich einfach nicht mehr bewegen, sonst wäre auch ich davongelaufen. Dann kam dieser Anführer auf mich zu und packte mich an der Kehle. Ich bekam keine Luft mehr. Es begann zu flimmern und ich bin für einen Moment weggetreten. Als ich wieder zu mir kam, da hatte ich diesen … Filmriss. Die Bande war weg, alle Kids waren weg. Nur noch Dennis … in einer großen Blutlache … und ich. Ich hatte auf einmal riesengroße Angst. Als ich gehört habe, dass Hilfe naht, bin auch ich weggerannt. Ich weiß, klingt nicht gerade edel. Aber wie gesagt, ich war in diesem Moment wirklich wie durch den Wind gedreht.“

      „Na gut, Oliver, und du behauptest immer noch, niemanden von der Bande erkannt zu haben?“

      „So ist es …“

      „Okay, würdest du allenfalls die Kerle anhand von Fahndungsfotos wiedererkennen?“

      „Eher nein! Wissen Sie, diese Typen sehen doch alle gleich aus: kurze schwarze Haare, Visage wie ein Pflasterstein – meist unter einer Kapuze versteckt –, kanakisch sprechend und was die Älteren betrifft: das Arbeitslosengeld für den Sixpack im Kraftraum abschwitzend!“

      „Ja, du hast recht, das macht die Suche nicht gerade einfach“, sagte der Jüngere. „Übrigens, wusstest du, dass muslimische Extremisten gezielt Jagd auf diese schwarz gekleideten Jugendlichen machen, auf diese … diese Typen mit den Pony-Frisuren und den Piercings im Gesicht? Wie nennt man sie schon …?“

      „Emo-Kids oder einfach Emos“, erklärte ich. „Nein, wusste ich nicht. Nie etwas davon gehört“, log ich.

      „Ach ja“, der Ältere steckte mir eine Visitenkarte zu. „Falls dir doch noch etwas einfallen sollte …“

      Er stand auf und reichte mir die Hand. Für sie war die Vernehmung beendet. Ich erhob mich ebenfalls.

      „Ja, da ist noch etwas, das Sie wissen sollten: Die Typen, die Sie suchen, sind nicht von hier. Die sind überall und doch nirgendwo zu Hause. An unserer Schule haben über achtzig Prozent aller Schüler einen Migrationshintergrund. Die meisten dieser Kids leben vorwiegend auf der Straße, weil beide Elternteile jobben müssen. Erwarten Sie von uns also bitte nicht den gleichen IQ-Klassenschnitt wie zum Beispiel von solchen der International School!“

      „Oh, ich denke, das kann man so nicht sagen …“

      „Doch, doch. Für unsereiner sind das fast schon elitäre Verhältnisse!“

      „Schon gut, mein Junge. Ich versteh dich. Aber das bringt uns nicht weiter. Für heute sind wir fertig. Du kannst gehen!“, sagte der Ältere.

      Unter der Tür blieb ich stehen und drehte mich nochmals um. „Ich weiß nicht, ob es Ihnen weiterhilft: Sie nennen ihren Anführer Häuptling!“

      Ich glaube, ich war nie so schnell wieder in der Klasse.

      Als der Unterricht endlich vorbei war, standen viele Schüler gruppenweise zusammen und diskutierten eifrig, wer was der Polizei erzählt hatte – diese Blödmänner! Ich packte meine Sachen und machte, dass ich nach Hause kam.

       5

      Eine Woche später hatte ich das Geschehene so weit psychisch verarbeitet, dass ich mich stark genug fühlte, Dennis im Kantonsspital zu besuchen. Immerhin war er mein Klassenkamerad und er hätte vom Typ her eigentlich sehr gut in unsere Clique gepasst, die sich damals so allmählich herauszubilden begann.

      Noch am Telefon hatte mir die Dame vom Empfang gesagt, dass Dennis so weit wieder okay sei, dass man ihn von der Intensivstation