Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom


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Fächerahorns.

      Nach Hannelores Tod und nachdem sich auch Peter vom Gärtnern verabschiedet hatte, übernahm Mum ihre Parts ebenfalls. Aber es war innert Kürze absehbar, dass ihr die Belastung allmählich über den Kopf wuchs. So klafften in den Blumenrabatten immer größere hässliche Lücken und in den Gemüsebeeten begann das Unkraut zu sprießen.

      Und ich? Ich hielt mich stets aus diesem Zirkus heraus, denn für mich war das Ganze eine einzige inszenierte Show, die nur dazu diente, unseren Nachbarn, unseren Gästen und den Passanten vorzutäuschen, dass in unserem schnuckeligen Häuschen mit der biederen Fassade nur bodenständige, konservative und selbstverständlich glückliche Menschen leben. Was für ein gigantischer Selbstbetrug. Eine Verlogenheit, die an Groteskem kaum zu übertreffen war. Für mich bestand das einzige Glück darin, dass alle beide darauf verzichteten, Gartenzwerge und sonstigen Zierramsch aufzustellen.

      Schließlich war es meine Mum, die den Garten gänzlich verwildern ließ und dafür in einem dieser Fitnessstudios für gelangweilte Hausfrauen ein Jahresabo löste. Als sich die Nachbarn wegen der Wildnis und des sich aussamenden Unkrauts beschwerten, suchte sie per Zeitungsinserat einen möglichst billigen, in Rente stehenden Gärtner für den Gartenunterhalt. Es meldete sich ein junger Arbeitsloser, der willig genug war, mit der Wildnis aufzuräumen, jedoch etwas mehr verlangte als die Rentner. Mum ließ sich durch nichts beirren, drückte den verlangten Tarif auf Rentnerniveau und versprach dem verdutzten Mann, den Rest in Naturalien auszuzahlen, wobei sie ihre Bluse aufknöpfte und ihm ihre Reizwäsche zeigte. Das genügte für einen mündlichen Vertragsabschluss. Jeweils nach verrichteter Gartenarbeit bietet sie dem Gärtner unsere Dusche an, worauf sie gleich mit ihm hinter dem Vorhang verschwindet. Zugegeben: Irgendwie war es schon ätzend, als ich zum ersten Mal meine Mum – diesmal auf dem Küchentisch – beim Herumpoppen mit einem jungen Kerl ertappte, der kaum mehr Bartstoppeln als ich vorzuweisen hatte. Na ja, mir blieb sowieso nichts anderes übrig, als mich daran zu gewöhnen.

      Manchmal fahren beide anschließend in seinem klapprigen VW-Pickup davon. Zu Hause sagt sie dann, sie gehe noch schnell was einkaufen. Tatsächlich dauern ihre Einkäufe nicht selten bis zwei Uhr morgens oder es wird noch später. Manchmal kommt sie auch erst im Laufe des Vormittags nach Hause. Dann wird Opa richtig grantig, weil niemand da ist, der ihm die Frühstückseier kocht und Kaffee macht. In solchen Momenten dreht er völlig durch, beschimpft Mum als geile Nutte, die sich gefälligst um den Haushalt zu kümmern habe, und nennt mich fauler Hurensohn, obwohl er eigentlich wissen müsste, dass ich mich längst auf dem Bau abrackere, wenn er sich endlich dazu bequemt, seinen eigenen Arsch von der Matratze zu hieven. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mit einem guten Teil meines Stiftenlohns herhalten muss, das Haushaltsbudget zu optimieren.

      Das sind diese Situationen, in denen ich mich beherrschen muss, Opa keine zu schmieren. Manchmal versuche ich, mit Mum darüber zu sprechen. Ich habe ihr schon öfters vorgeschlagen, dass es besser wäre, ihn für ein Altersheim anzumelden. Sie jedoch wimmelt jedes Mal ab. Entweder weil sie davon nichts wissen will oder weil es ihrer Ansicht nach noch zu früh ist. Dieses Verhalten wiederum macht mich wütend. Nicht wegen Opa – der ist im Grunde ein kranker und darum bedauernswerter Kerl –, nein, meine Mum, mit ihrem uneinsichtigen Verhalten, treibt mich zur Weißglut. Dann würde ich am liebsten abhauen. Aber irgendetwas hält mich zurück und ich weiß beim besten Willen nicht, ob es wirklich nur Vernunft ist. Stattdessen verlasse ich fluchtartig unser Haus, gehe zu Charly, meinem besten Kumpel, zum Krafttraining oder wir gehen, wenn sein Dienstplan es zulässt, in Miller’s Hafenkneipe etwas trinken.

      Eigentlich war Peter ein frommer, gottesfürchtiger Mann, der sonntags regelmäßig die Gottesdienste in der Quartierkirche besuchte und großen Wert darauf legte, dass seine Familie ihn ohne Widerspruch dahin begleitet. Früher, als ich klein war, spielte ich dieses Spiel widerspruchslos mit. Dann kam die Sache mit dem Religionsunterricht und der Vorbereitung zur Konfirmation.

      Es war einer dieser legendären Abende im Pfarrhaus. Unsere Klasse bestand damals aus etwa fünfzehn Jungen und Mädchen. Pfarrer Lautenschlager laberte uns eine satte Stunde lang mit so einer fünftausendjährigen Geschichte aus dem alten Testament die Gesichter zu. Irgendwas, das nun wirklich niemanden in der heutigen Zeit interessiert.

      Nach einem langen und strengen Schultag kämpften wir Jungs mehr oder weniger erfolglos gegen den Schlaf. Ich hielt meine Augen einigermaßen wach, indem ich die Mädchen beobachtete, ihre Rundungen, ihre Oberweiten; und ich versuchte mir vorzustellen, wie ihre Brüste wohl aussahen, wenn sie keine Blusen oder Pullover getragen hätten. Von einem dieser Mädchen war ich ganz besonders angetan. Sie hieß Conny Ritter und war unglaublich schön. Hellbraune, schulterlange Haare, schlanke Beine, ein Teint, der stets Ferienbräune zeigte, und zwei pralle Dinger, die zum Zupacken animierten. Mit der Zeit starrte ich nur noch sie an und ich glaube, ich hätte mich beinahe in sie verliebt, wenn sie sich nicht so zickig benommen hätte. Eines Abends kam sie auf mich zu und sagte mir direkt und ohne Umschweife, ich solle gefälligst die Glotzerei unterlassen. Ich sähe zwar auch ganz nett aus, aber sie bevorzuge Jungs aus den oberen Gesellschaftskreisen. Später angelte sie sich dann tatsächlich einen dieser smarten Pinkel, den sie beim Reiten kennengelernt hatte. Einen gewissen Gustav Oderbolz, ein pikfeiner, aber schon in Jugendjahren recht arroganter Typ aus einer steinreichen Industriellenfamilie, der die strohblonden Haare stets gescheitelt und angegelt hatte, eine dieser unmöglichen Hornbrillen mit zentimeterdicken Gläsern trug und bei jeder Gelegenheit nach Balma Kleie roch, sogar dann, wenn er mit seiner Entourage unterwegs in den Ausgang war. Tja, so ist das Leben. Eigentlich liebe ich solche Frauen wie Conny, denn man weiß immer sofort, woran man ist und wie die Chancen stehen. Obwohl, wenn ich mir das so recht überlege, finde ich, dann hätte sie mir doch ruhig auch mal einen blasen dürfen. Ich meine, von wegen nett aussehen oder so.

      Und dann kam eben dieser Abend, an dem uns Lautenschlager mit dieser Bibelgeschichte bekackeierte und uns aufforderte, diese Typen, die darin vorkamen, als Vorbilder zu nehmen. Da stand ich auf, nahm meine Bibel und warf sie dem verdutzten Pfarrer vor die Füße. Zur allgemeinen Belustigung der Klasse begann ich einen Monolog, in dem ich ihm den ganzen Bullshit dieser Veranstaltung unter die Nase rieb, ihn fragte, ob er sich vorstellen könne, wie sich das anfühlt, wenn einem bewusst wird, dass der leibliche Vater schon kurz nach der Geburt mit einer jungen, aus Osteuropa stammenden Zwetschge abgehauen ist, und wenn man gezwungen wird, bei einem senilen und demenzkranken Opa und einer mit jungen Handwerkern herumhurenden Mutter aufzuwachsen. Denn damals bezeichnete ich eben meine Mum so: Am Herd eine Schlampe, im Bett eine Hure. Vielleicht hätte ich mich dafür schämen müssen. Aber diesen Abend genoss ich. Die Klasse war augenblicklich in hellem Aufruhr, johlte und spendete Beifall.

      Okay, Lautenschlager sah mich extrem vorwurfsvoll und irgendwie konsterniert an und brabbelte etwas wie, sie sei bitte schön immer noch meine Mutter. Da habe ich die Schultern gezuckt und gesagt, wenn das sein letztes Wort gewesen sei, dann hätten wir uns nichts mehr zu sagen. Ich machte auf den Absätzen rechtsumkehrt und verließ diesen seltsamen Bibelclub für immer.

      Jeden Mittwochabend, Woche für Woche der gleiche Bockmist: Da pendelt der Pfarrer zwischen Schreibtisch und Flipchart hin und her, erzählt biblische Geschichten von einflussreichen Kamelzüchtern, Kaufleuten oder angesehenen Hohepriestern und Schriftgelehrten. Erwähnt alttestamentarische Familien mit gebildeten frommen Söhnen und schicken, toll aussehenden Töchtern, und ködert uns damit, auch uns stünden alle diese Möglichkeiten offen, sofern wir bereit wären, uns dem richtigen Gottesglauben hinzugeben und den weltlichen Sünden zu entsagen.

      Dann wieder schweift er ab und landet bei der wahren Christusliebe. Quasselt von armen, nackten, geschundenen Leuten und erklärt, dass auch sie Trost finden würden, sofern sie den richtigen Glauben annähmen und bereit seien, Christus zu folgen. Das ist doch sehr beruhigend.

      Trotzdem bin ich der Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, weil er nicht einfach eine andere Rasse von Schafen haben wollte, sondern eben Menschen. Eigenständig denkende und handelnde Wesen. Vor Jahren habe ich am Gebälk einer alten Jagdhütte einen eingekerbten Sinnspruch entdeckt, der mich seither immer wieder zum Nachdenken anregt. Er lautet ganz einfach:

      „Menschen sind, damit sie Freude am Leben haben.“

      Wenn also Gott den Menschen erschaffen und mit der Gabe der Selbstbestimmung