Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom


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Mitgefühl, Anteilnahme, ja, in gewisser Weise sogar Geborgenheit und Wärme wie das gemeinsame Beschimpfen einer misslichen Situation.

      Der Wind pfeift um die Ohren und bläst den Regen direkt ins Gesicht. Es ist kalt. Aber immer noch zu wenig kalt, um den Niederschlag in Schnee zu verwandeln. Das wäre schön: Ein makelloses Weiß, das den Schmutz, den grauen und den braunen Dreck, die Trostlosigkeit und die Tristesse des Alltags einfach zugedeckt hätte. Wenigstens für eine kurze Zeit wäre der ganze unansehnliche Müll, der Morast verschluckt worden. Verschwunden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Einfach endloses Weiß, das unter einem stahlblauen Himmel glitzert, lediglich durchbrochen von den in bunten Winterklamotten spielenden und vor praller Lebensfreude jauchzenden Kindern.

      Nun hat sich das Leben zurückgezogen. Ist in Deckung gegangen. In die Behausungen, in die Höhlen, in die Nischen. Früher scharten sich die Menschen bei Kälte um ein Feuer, versammelten sich in einem beheizten Raum. Vielleicht in der Küche, vielleicht in der Stube. Eigentlich recht gemütlich, wenn ich mir das so vorstelle.

      Heute versammeln sie sich in den riesigen Einkaufszentren. In den Läden und Restaurants rund um die Mall wuselt es nur so von Leben. Besonders in der Vorweihnachtszeit. Da trifft man sie alle wieder, in Eintracht, beim Befriedigen ihrer Süchte. Und alle geben sich die größte Mühe, sich im Stress nichts anmerken zu lassen. Ihre eigene Unzufriedenheit, ihre eigentliche Abscheu, ja, ihre angestaute Frustration über ihr Versagen, dem wirtschaftlichen Diktat wieder nichts entgegengesetzt zu haben. Alle mimen gute Laune, grinsen sich affig an und geben heuchlerische Phrasen von sich, obwohl jeder seinem Gegenüber am liebsten die Faust in die blöde Fresse schlagen möchte. Und jeder denkt, es im nächsten Jahr ganz sicher besser zu machen. Aber was heißt das schon. Was soll denn noch besser werden? Noch mehr Umsatz, noch mehr Gewinn, noch mehr Konsumrausch?

      Ich denke es immer wieder: Die Menschen sind schon seltsam. Geht es ihnen schlecht, geben sie sich alle solidarisch und stehen einander bei. Geht es ihnen nur schon ein bisschen besser, vergessen sie alle ihre guten Vorsätze, kippen ihr soziales Gewissen über Bord und mutieren zu egoistischen Wesen. Manchmal denke ich, dass eine Katastrophe in dieser Hinsicht auch eine positive Seite hätte. Ich meine natürlich nicht diese 08/15-Katastrophen, wie sie jährlich wiederkehren. Die, die man spätestens nach einem Jahr wieder vergessen hat. Erdbeben im Iran: 50.000 Tote. Tsunami in Japan: 30.000 Tote oder so ähnlich. Mal ehrlich: Wen juckt das hierzulande schon? Ich meine, es müsste schon etwas Handfestes sein. Etwas, das nicht nur ein Land erschüttert, sondern den ganzen Globus zum Taumeln bringt. Also etwas in der Art von „Deep Impact“ oder „Armageddon“. Ein Kometeneinschlag zum Beispiel, das wäre der Hammer. Dann könnten die Überlebenden, mit dem Wissen von heute, nochmals von vorne beginnen. Ohne den ganzen Zivilisationsmüll, der im Grunde niemandem etwas bringt. Ein Alltag, der sich gänzlich auf das Dasein beschränkt. Ein Alltag ohne Reizüberflutung, ohne den gigantischen Informationsmüll, ohne Konsumterror und ohne Vergnügungssucht. Ausgerüstet nur mit etwas Saatgut und Gartenwerkzeug. Einfach eine Erdscholle fruchtbar machen, Feldfrüchte anbauen und neue, einfache Siedlungen gründen, in denen zufriedene Menschen leben würden. Menschen, die mit sich zufrieden sind und mit ihrer Umwelt in Einklang leben.

      Und wenn alles Leben ausgelöscht würde? Das wäre auch okay. So lange die Erde sich dreht und die Sonne scheint, kann sich immer wieder neues Leben entwickeln. Auch solches ohne Menschen. Wenn ich Schöpfer wäre, würde ich mir das sowieso nochmals gründlich überlegen – das mit den Menschen. Eine solche Radikalkur wäre schon megakrass. Aber sie hätte drei unbestreitbare Vorzüge: Erstens gäbe es über ein solches Ereignis nicht die geringste Zeitungsmeldung. Zweitens: Man bräuchte nirgends ein Careteam einzusetzen. Und drittens (das Wichtigste): Es gäbe niemanden, der Profit daraus schlagen könnte. Wir alle wären Verlierer. Das ist doch sehr tröstlich. Oder sollte ich vielleicht sagen, dass wir alle Gewinner wären? Jeder wäre der Erste beim großen Showdown, und wie es danach weitergeht, weiß sowieso niemand mit Bestimmtheit. Ich meine, wenn der Mensch so etwas wie eine Seele besäße, was würde mit dieser nach seinem Ableben geschehen, wenn es nirgends mehr eine Heimat gäbe, wo sie Zuflucht und Ruhe finden könnte? Und was wäre, wenn sich am Ende alles nur als ein gigantischer Irrtum herausstellen würde? Letztlich sind wir doch alle aus Sternenstaub entstanden und werden einst in ferner Zukunft in diesen Zustand zurückkehren, ganz unabhängig davon, wie wir unser Dasein auf Erden verbracht haben. Ist damit etwa der göttliche Plan des Ewigen Lebens gemeint?

      Also, mal ganz ehrlich: Ich wäre sofort für Plan B – die radikale Variante. Jedoch wie so oft wird auch das von ganz anderer Stelle entschieden. Aber wie gesagt: Es wäre hammermäßig stark und ich wäre erfüllt von tiefster Genugtuung!

      Nun jedoch sitze ich am Schreibtisch in meinem Zimmer, starre durch das Fenster, an das unablässig schwere Regentropfen klatschen, und ich lasse in meinen Gedanken die Geschichte nochmals Revue passieren, die ich zu Papier bringen möchte, und betrachte dabei die nackten Baumwipfel, die mal mehr, mal weniger heftig im Wind schaukeln. Ich möchte die Geschichte so detailgetreu wie möglich niederschreiben, sofern dies meine Erinnerungen zulassen. Denn ich weiß, dass ich der Einzige bin, der die ganze Wahrheit kennt, die sich dahinter verbirgt. Nur ich weiß, wie sich damals die Ereignisse wirklich abgespielt haben.

      Ich heiße Oliver. Oliver Ambühl. Ich bin siebzehn Jahre alt. Im kommenden Sommer werde ich das dritte und letzte Jahr meiner Ausbildung zum Maurer in Angriff nehmen. Der Job ist ganz in Ordnung. Okay, manchmal ist es schon Knochenarbeit, aber ich hatte Glück und bin in einer guten Bude untergekommen. Ein richtiger Familienbetrieb, in dem noch der Patron das Sagen hat. Das Domizil befindet sich in der Gewerbezone am östlichen Stadtrand. Im Großen und Ganzen befriedigt mich die Arbeit, denn ich kann abends sehen, was ich tagsüber geleistet habe. Ich arbeite gerne draußen. In einem Büro würde ich auf die Dauer verkümmern. Die Mannschaft ist auch ganz okay, und auf dem Bau bin ich sowieso selten der einzige Azubi. Da ist zum Beispiel mein Unterstift. Er heißt Noah Stemmler. Wieso Noah? Das weiß nicht einmal er selbst. Vielleicht wollen seine Alten, dass er einmal eine Arche baut. Aber dann hätte er besser den Zimmermannsberuf erlernen sollen. Egal, er ist ein prima Kerl, auch wenn er das Arbeiten nicht gerade erfunden hat. Aber er kann zupacken, wenn man ihn darauf aufmerksam macht. Tja, ich kenne das. Man hat es nicht leicht, so nach neun Schuljahren zum ersten Mal „im Stollen“. Ich meine, so richtig, mit schwerem Gerät, und das bei Wind und Wetter.

      Was ich nach der Grundausbildung mache, weiß ich noch nicht so genau. Zuerst einmal einfach abhauen. Einfach weg von hier. Fort aus diesem Zirkus, der sich Familie nennt.

      Mein Zimmer ist nicht besonders groß. Etwa vier auf drei Meter. Eine bessere Besenkammer. Aber es gehört mir. Ein Bett, ein Schrank, der Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze, und ein Regal mit ein paar auserwählten Büchern, denn ich lese oft und sehr gerne, anstatt meine Zeit vor der Glotze zu verschwenden. Seit meiner Kindheit lese ich Bücher. Zuerst waren es Abenteuergeschichten – Indianer, Cowboys, Piraten und so. Dann kamen Archäologie und Astronomie dazu. Später auch Philosophisches und gelegentlich Romane. Beim Lesen konnte ich wenigstens temporär wegtauchen. Ich bereiste fremde Länder, entdeckte ferne Welten, die mir sonst für immer und ewig verborgen geblieben wären.

      Dafür wurde ich in der Schule als Langweiler gehandelt. Oft schnappte ich mir etwas aus der Stadtbücherei und zog mich in eine ruhige Ecke zurück – meistens in mein Zimmer, während die Kids draußen spielten. Von niemandem wurde ich vermisst. Die Bücher offenbarten mir eine Welt voller Wunder und Magie. Damit war mein Dasein als Außenseiter genügend entschädigt.

      Einen Computer gibt es bei uns keinen. Unsereiner kann sich so was nicht leisten und meine Alten, besonders Opa, halten die Anschaffung zivilisatorischer Errungenschaften, wie zum Beispiel Unterhaltungselektronik, die etwas mehr bietet als analoges TV, für so ziemlich das Sinnloseste, was der Mensch braucht. Alles, was über das Festnetztelefon (am besten noch mit Wählscheibe) hinausgeht, ist für ihn völlig überflüssig und hochgradig dekadent. Mir soll’s recht sein. Brauchten wir für die Schulaufgaben einen Rechner mit Internetzugang, half mir mein gleichaltriger Schulfreund Charly und wir benutzten gemeinsam die Kiste seines Vaters. Im Übrigen bin ich seit Neuestem stolzer Besitzer eines Smartphones – wow! Na ja, auch unsereiner, der der „Working Class“ angehört, will gelegentlich mit der Zeit gehen.

      An den Wänden