Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom


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ich glaub, ich hab’s kapiert!“, sagte Charly, verzichtete jedoch auf eine weitere Stellungnahme.

      Ich fühlte mich ihm gegenüber wenigstens intellektuell haushoch überlegen, dafür stellte er mich für die ersten Jahre unserer Freundschaft sportlich und kräftemäßig weit in den Schatten. Hätte ich damals schon geahnt, mit welchen Streichen mir das Leben seine Aufwartung machen würde, wäre ich in philosophischen Dingen wohl etwas zurückhaltender gewesen. Denn so oft ich mich auch mit Giger & Co. beschäftigte, für die nächsten paar Jahre war der Qualm meiner Zigaretten das Einzige von mir, das himmelwärts stieg.

      Gelegentlich trafen wir auch auf die Leute, die im Tattoostudio ein- und ausgingen oder sich vor dem Laden eine Zigarettenpause gönnten. Für mich damals alles wilde Kerle, die nur den sprichwörtlichen Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll im Kopf hatten. Mittlerweile weiß ich, dass die Kundschaft mit den feuerspeienden Drachen auf der unbehaarten Brust, den blutigen Totenmasken und den krudesten Dämonenfratzen auf den Oberarmen nicht selten zu den sanftmütigsten und lebensbejahendsten Wesen gehören, die die Götter je zur Erde gesandt haben.

      Ach ja, meine Schulzeit: Eine Tragödie in neun Akten. Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, in all den Jahren stets solche Typen als Klassenlehrer zu haben, die man ausnahmslos den Sparten nett, unauffällig, belanglos, langweilig hätte zuordnen können. Damen und Herren also, die den Unterricht pflichtbewusst, brav gemäß Lehrplan herunterspulten und dabei jegliche Form von Leidenschaft oder Begeisterung für den uns dargebotenen Schulstoff im Besonderen und für das Lernen im Allgemeinen vermissen ließen. Wohlverstanden, davon ausgenommen sind die Sportlehrer – die bilden noch heute eine eigene Kategorie, und ich meine nicht nur die mit pädophilen Neigungen – nein, auch die Lehrerschaft für die Sonderfächer verdienen, wenigstens teilweise, etwas mehr Respekt für ihre Arbeit. Da war zum Beispiel für das Fach Bildnerisches Gestalten die damals zirka vierzigjährige und alleinstehende Dorothea Scheinfrucht, die wir aufgrund ihres Alters und ihrer Körperfülle salopp, aber keinesfalls geringschätzig unsere Zeichentante nannten. Sie ist eigentlich auch heute noch eine recht attraktive Frau – Nomen ist eben nicht immer Omen! –, von der wir mehr über das Leben erfahren durften als von allen anderen zusammen.

      Wen wundert’s, dass ich das meiste Zeug beim Ordnen meiner Festplatte gleich wieder über Bord geworfen und ein für alle Mal im Meer des Vergessens versenkt habe. Ein kleines Detail aus meiner Frühzeit ist mir trotzdem in bester Erinnerung geblieben. Es war in der ersten Klasse. Fach: Deutsche Sprache. Lesen lernen bei Frau Adelheide Neubauer (liiert mit einem Rottweiler Zahntechniker und ebenfalls aus der deutschen Nachbarschaft übergesiedelt, zur Verstärkung des heimischen Lehrkörpers). Wir hatten irgendeine Geschichte gelesen, die mit dem Satz endete: „Mensch sein heißt Kämpfer sein!“ Ich weiß nicht mehr, wovon die Geschichte handelte. Offensichtlich hatte ich damals etwas falsch verstanden, denn ich stellte mir augenblicklich alle Menschen in Militäruniformen vor und ich fragte mich, ob es wirklich notwendig sei, dass alle eine Ausbildung zum Soldaten absolvieren müssen. Leider unterließ es Frau Neubauer, näher auf das Thema einzugehen, was gerade für schwächliche Jungens wie unsereiner sicher von Vorteil gewesen wäre. Doch da schellte bereits die Schulglocke und der Heimweg lockte zu neuen Abenteuern.

      Die Lektion war aber noch nicht ganz ausgestanden. Da gab es in unserer Klasse noch diesen Vollpfosten namens Andreas Schöneich, genannt Andy. Ein Typ, der in mancher Hinsicht andersrum geschraubt war. So machte er ab einem gewissen Alter kein Geheimnis mehr daraus, dass er schwul sei. Natürlich war für jede Menge Spott gesorgt, wenn wir gelegentlich mitbekamen, dass er wieder auf der Suche nach hübschen Jungs mit denselben Vorlieben war.

      In regelmäßigen Intervallen, das heißt in etwa täglich, wollte er außerdem seine Kräfte messen, und dafür quatschte er jeden erdenklichen Typen an, der ihm über den Weg lief. Er nannte es Friedenskampf und meinte damit Ringen in ungezwungener Atmosphäre. Eine Zeit lang, gehörte ich ebenfalls zu seinen Auserwählten. Er quasselte mich so lange an, bis ich mich blöderweise erweichen ließ und zusagte. Vielleicht wollte er mehr von mir. Vielleicht stand er sogar auf mich. So genau lässt sich das im Nachhinein nicht mehr beurteilen. Wir trafen uns nach Schulschluss auf der großen Spielwiese hinter dem Schulhaus. Ich hatte einerseits natürlich keine Ahnung vom Ringen, andererseits wollte ich ihn nicht einfach mit einem gezielten Kinnhaken k. o. schlagen, denn das wäre meine einzige Option gewesen. Also dauerte der Kampf kaum zwei Minuten, schon lag ich auf dem Rücken, der triumphierende Andy saß rittlings über mir.

      Vielleicht hätte uns Frau Neubauer doch noch etwas über das Thema Kämpfen erzählen sollen …

       3

      Der Schreibtisch steht direkt unter dem Fenster. Mein Blick schweift über eine kleine Senke mit einem städtischen Schrebergartenareal. Auf der gegenüberliegenden Anhöhe macht sich eine Elite von Neureichen und Zugezogenen mit Luxusappartements und Einfamilienhäusern im Landhausstil breit, deren ökozertifizierte Schwimmteiche allein schon mindestens doppelt so groß sind wie die gesamte Grundfläche unseres Häuschens. Dort drüben wohnt auch ein weiterer Junge unserer Clique, Kai-Uwe Hagen, der vor etwa vier Jahren mit seinen Eltern aus Kassel hierhergezogen ist. Man hatte ihn derselben Schulklasse zugeteilt, die auch Charly und ich besuchten. Und als Neuling mit einem ausgeprägten nordhessischen Dialekt genoss er zunächst ebenso wie auch wir den Status eines Außenseiters.

      Wenn ich Opas altes Fernglas nehme, kann ich ihn erkennen, wenn er zum Beispiel auf der Dachterrasse ihrer Attikawohnung steht. Gelegentlich winkt er dann zu mir herüber und ich winke zurück.

      Mein Zimmer befindet sich im Obergeschoss eines dieser kleinen, aber eigentlich ganz hübschen Häuschen, die zur Eisenbahner-Genossenschaftssiedlung gehören, welche so etwa in den Vierziger- oder Fünfzigerjahren am Stadtrand errichtet wurden. Es sind einfache, vorwiegend aus Holz gebaute Häuser. Nur die Untergeschosse sind gemauert. Jedes Haus trägt dieselbe Fassadenverkleidung, die aus cremefarbenen Eternitschindeln besteht. Dafür variieren die Anstriche der Fensterläden von tannengrün bis dunkelbraun. Je nach Budget und Fantasie der Bewohner sind auch die kleinen Gärten gehalten: Meist dominieren Gemüsebeete und Beerensträucher, aber auch einfache Kiesflächen mit urtümlichen Wäscheleinen sowie üppig blühende Blumenrabatten lassen sich in unserem Quartier finden.

      Peter Ambühl, mein Großvater, war bis kurz vor seinem Abgang Fahrdienstleiter bei den Bundesbahnen. Besuchern zeigt er jeweils gerne und mit Stolz seine schwarze Uniform und besonders seine Mütze mit dem Emblem der Gesellschaft und den weißen Streifen, die ihn im Rang eines Bahnhofsvorstandes bestätigten. Er hatte in sämtlichen Stationen an der Hauptstrecke nach Zürich gedient, oftmals auch als Ablöser, und später, im Laufe der Umstrukturierungsmaßnahmen, als die SBB in eine Aktiengesellschaft überführt und immer weitere Strecken automatisiert beziehungsweise Stationen auf Fernsteuerung umgestellt und Fahrkartenschalter durch Ticketautomaten ersetzt wurden, rückte auch Peters Arbeitsbereich in greifbare Nähe. Ganz zuletzt wurde ihm noch ein Posten in der Einnehmerei im Bahnhof unserer Stadt angeboten. Aber diesen Job verrichtete er nur noch ein knappes Jahr lang, dann begab er sich, mit einem ärztlichen Attest in der Hand, in Frührente. Das geschah kurz nach einem leichten, aber doch deutliche Zeichen setzenden Herzanfall. Und diesem ging der schmerzvolle Verlust seiner geliebten Hannelore – meiner Oma – voraus, die von einem unheilbaren Krebsleiden befallen wurde. Damit begann der langsame und unerbittliche Zerfall von Peter Ambühl. Anstatt sich noch einmal aufzuraffen, sich eine vernünftige Freizeitbeschäftigung anzueignen, zum Beispiel Reisen oder Wandern, was für die körperliche und geistige Fitness von Vorteil gewesen wäre, vielleicht Tontaubenschießen oder doch wenigstens Briefmarkensammeln, liegt er nur noch auf dem Diwan herum, sitzt stundenlang vor der Glotze oder unterhält sich mit Hörfunksendungen auf SRF 1, was immerhin seine Fantasie ein wenig ankurbeln mag.

      Doch einem bescheidenen Hobby ist Peter zeitlebens treu geblieben. Er ist leidenschaftlicher Pfeifenraucher – sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die Opa zum Rauchen erbarmungslos vors Haus schickt. Sie findet, so ein Buschfeuer, wie sie das Pfeifenrauchen abschätzig nennt, gehört nicht in den Wohnbereich. Für ihren Zigarettenkonsum erlässt sie großzügige Ausnahmen. In den warmen Sommermonaten