Vera Nentwich

Wunschleben


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ich Ihnen auch ein Brot machen?« Eine Antwort wartet Bettina nicht ab, sondern steht gleich auf und sucht Brot und Aufschnitt zusammen.

      »Haben Sie Urlaub?«

      »Nein, ich arbeite zu Hause«, erwidert Anja.

      »Oh, das ist ja angenehm. Was machen Sie denn genau?«

      »Ich mache Webseiten für Firmen.«

      »Das ist bestimmt ein interessanter Beruf. Ich habe ja nur den PC, um mal ins Internet zu gehen und E-Mails zu schreiben. Mehr kann ich damit nicht. So, guten Appetit!«

      Sie stellt das Brot und die anderen Utensilien vor Anja auf den Küchentisch.

      »Sollen wir uns nicht duzen? Ich heiße Bettina.«

      »Anja.«

      Sie geben sich förmlich die Hand.

      »Es ist schön, dass ich hier mal jemanden kennenlerne.«

      Anja nickt wieder und beginnt, sich ein Brot zu schmieren, wobei Bettina erneut das Wort ergreift. »In den ersten Wochen in der Stadt hatte ich es schwer, mich zu orientieren. Ich fand mich nur schlecht zurecht und musste ständig suchen.«

      Anja kann nur gelegentlich nicken.

      »Am Wochenende ist hier doch Schützenfest, nicht wahr? Das soll ja ganz schön sein. Gehst du hin?«

      Anja schüttelt heftig den Kopf, während sie in ihr Brot beißt.

      »Och, schade. Jonas ist am Wochenende bei meinen Eltern, und ich würde gerne mal unter Leute gehen. Aber allein? Oder ist das Fest nicht zu empfehlen?«

      Anjas Gedanken rattern. »Das ist nichts für mich.«

      »Hast du einen Partner?«

      Wieder kann Anja nur kräftig den Kopf schütteln.

      »Aber dann musst du erst recht hingehen. Wäre doch schön, sich mal wieder in der Männerwelt umzuschauen.«

      Am liebsten würde Anja aufspringen und wegrennen, und ist doch wie gelähmt. Panik kommt in ihr auf. Die ganze Situation überfordert sie. Alle möglichen Ausreden schwirren durch ihren Kopf, werden bewertet und auf ihre Folgen hin beurteilt.

      »Ich… Ich habe keine Zeit.«

      Welch blöde Ausrede, Anja rollt innerlich mit den Augen. Und wirkungslos noch dazu, wie sie sogleich an Bettinas Antwort merkt.

      »Keine Zeit gibt es nicht. Komm! Gib dir einen Ruck! Ich hole dich um acht Uhr ab!«

      Starre. Anja ist zu keiner Regung fähig. Es könnte ja die Falsche sein.

      »Ich muss jetzt dringend arbeiten. Kunden rufen an.«

      Nur schnell raus. Sie greift ihre Einkäufe und nimmt nur noch verschwommen wahr, wie Bettina ihr etwas nachruft, das wie ›Bis Freitag‹ klingt.

      Der Tag verläuft wie im Nebel. Sie spricht mit Kunden, arbeitet an ihrem aktuellen Projekt und schreibt ein paar Rechnungen, aber am Abend kann sie nicht mehr sagen, was genau sie getan hat. Ständig hallen Bettinas Worte in ihren Ohren.

      ›Bis Freitag!‹

      Immer wieder war sie kurz davor gewesen, einfach zur ihr zu gehen, zu klingeln und ihr kurz und knapp mitzuteilen, dass sie am Freitag nicht ausgehen wolle. Sie stand sogar schon an ihrer Haustür, die Hand am Türgriff. Dann aber hatte sie innegehalten. So würde doch kein normaler Mensch reagieren. Dabei will Anja nichts mehr, als ein normaler Mensch sein. Besser noch: Eine normale Frau. Ein normaler Mensch hätte doch kein Problem, mit einer Freundin auszugehen. Freundin, wie das klingt.

      Schon wieder schreckt Anja zusammen. Dieses Mal aber ist es dieses komische, wohlige Gefühl, das sich in ihr breitmacht und das sie erschreckt. Freundin! Bisher hat sie keine. Aber es wäre schön, eine zu haben.

      Freundinnen sind etwas ganz Besonderes. In Büchern gibt es immer wieder Geschichten über das besondere Verhältnis unter Freundinnen. Freundinnen, die sich alles erzählen. Freundinnen, die ausgehen, sich über Männer unterhalten und über sexuelle Erlebnisse. Wieder ergreift sie die Panik. Da ist etwas, das unbeherrschbar zu sein scheint, aber dennoch einen unbeschreibbaren Reiz ausübt.

      Ich muss mich ablenken! Das übliche Abendritual könnte helfen. Wasser kochen, Tee aufgießen und dann mit einem guten Buch auf die Couch legen. Vielleicht schaut sie heute noch die Tagesschau, um wieder auf dem Laufenden zu sein, was so in der Welt los ist. Und in dem Krimi, den sie gerade liest, kommen keine Freundinnen vor. Nur ein einsamer und wortkarger Detektiv.

      Das Ritual hilft. Als sie später ins Bett geht, ist die Panik nicht mehr zu spüren. Morgen wird sie klarer sehen und die Verabredung absagen, da ist sie sich ganz sicher.

      Das Aufwachen ist wie immer. Keine Erinnerung an einen Traum. Das Morgenprogramm läuft ebenso automatisch ab wie jeden Tag. Heute entscheidet Anja sich für den kurzen schwarzen Rock, der viel von ihren Beinen zeigt. Sie hat schlanke Beine. Einer der wenigen Vorteile, sagt sie sich immer. Sie braucht das gute Gefühl, das ihr dieser Rock und die Nylonstrümpfe geben. Gleich wird sie bei der Nachbarin klingeln und höflich aber bestimmt sagen, dass sie morgen nicht mit zum Schützenfest gehen wird. Ja, das wird sie tun. Nach dem Frühstück.

      Heute ist immerhin Joghurt da, denkt sie und muss lachen.

      Es ist so weit. Beherzt öffnet sie die Wohnungstür und geht auf den Flur zur Nachbarwohnung. Einmal tief durchatmen, dann klingelt sie. Schritte. Die Tür öffnet sich.

      »Kommst du jetzt immer zum Frühstück?« Bettina lacht.

      Wieso lacht sie denn? Verdammt! Die Szene im Kopf hatte anders ausgesehen.

      »Komm herein. Kaffee steht bereit.«

      Anja will nicht in die Wohnung. Sie will ganz bestimmt und nüchtern sagen, dass sie nicht mitkommen will. Sie will sich umdrehen und gehen und kein Lachen sehen, keinen Kaffee trinken und auch nicht in die Küche gehen. Aber nun macht sie es doch. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als Bettina unsicher zu folgen.

      »Gestern im Supermarkt habe ich gehört, wie sich zwei Frauen über das Schützenfest unterhalten haben. Es soll sehr schön sein. Ich freue mich schon auf morgen. Es wird wirklich Zeit, dass ich mal wieder unter Leute komme.«

      Anja lässt sich auf einen Stuhl fallen.

      »Deswegen komme ich eigentlich vorbei«, beginnt sie zögerlich und nippt an dem Kaffee.

      »Jetzt sag nicht, du kommst nicht mit?«

      Bettina schaut sie herausfordernd an. »Das kannst du mir nicht antun!«

      Anjas Mut ist völlig verraucht.

      »Die Frauen haben gesagt, dass man vor zehn Uhr nicht dort sein muss. Wir können doch vorher noch etwas essen gehen. Ich habe in der Nebenstraße diesen kleinen Italiener gesehen. Sieht nett aus. Warst du da schon mal?«

      »Nein, ich gehe selten aus.«

      So sehr Anja mit sich ringt, sie findet keinen Ausweg. Es gibt kein Entrinnen. Sie muss morgen auf das Schützenfest.

      »Dann lass uns den morgen mal ausprobieren. Nach leckerer Pasta und einem Prosecco können wir dann schwungvoll den Abend in Angriff nehmen. Was meinst du?«

      Bettina strahlt, doch Anja kann nur nicken. Wenn man weiß, dass es keinen anderen Weg mehr gibt, sollte man langsam entdecken, welche guten Seiten oder gar Chancen dieser Weg bietet. Das hat Anja in ihrem Leben gelernt. Es gibt immer Chancen. Also auch die Chance, dass sie den morgigen Abend überlebt.

      III

      Manchmal kommt man an einem Ort an und kann sich nicht mehr an den Weg dorthin erinnern. Man fragt sich: Habe ich die Kreuzung dort hinten bei Rot überquert? Und kann sich nicht entsinnen, überhaupt über diese Kreuzung gefahren zu sein. Anja steht vor ihrem Spiegel und hat keine Ahnung, was gestern und heute geschehen war. Sie weiß nur, dass in etwa einer Stunde Bettina klingeln wird, sich auf einen schönen Abend