hier, sondern auf den guten und auch teuren Rat des Anwalts seiner betuchten Familie hin. Denn mit Einsicht und Bereitschaft zur Selbstreflexion ließe sich die Härte des Gesetzes ja vielleicht noch abfedern. Er lässt mich seinen Widerwillen spüren und deutlich durchblicken, dass der Anlass für unseren Termin eigentlich nicht der Rede wert ist. Damit will er auch gleich seinen Rahmen abstecken, dass es, wenn es nach ihm ginge, nicht viele solcher Rendezvous geben würde.
Ich bin anderer Meinung, doch ich muss ihm in dieser sensiblen ersten Phase Leine geben und höre einfach zu. Seiner Meinung nach handelte es sich um einen Spaß, einen Scherz, der bloß aufgebauscht worden sei. Mittlerweile sei das Ganze geradezu ein Witz, wenn auch ein schlechter, geworden.
Ich gebe mich weiter abwartend, mit einem Lächeln, das ihn zum Erzählen ermuntern soll, aber nicht meine Augen erreicht. Das gestriegelte Bürschchen im Fauteuil mir gegenüber ist ein Taktiker. Er will ganz offen mit mir konspirieren, um einer Gerichtsbarkeit, die er nicht respektiert, die lange Nase zu drehen. Das sagt er auch gleich ganz deutlich.
Am liebsten wäre ihm, ich würde ihm jetzt sofort eine Bestätigung über 20 absolvierte Sitzungen ausstellen und seine hohe reflexive Potenz und die daraus folgende Einsichtsbildung attestieren. Danach würden wir auf ein Bier gehen und uns köstlich darüber amüsieren.
Ich trinke leider kein Bier und auch mein Humor folgt einem anderen Kompass. Meine sanfte, aber bohrend unausweichliche Nachfrage ist jetzt unvermeidlich. Was den Tathergang anlangt, hat er eine Art inneren Hollywood-Streifen à la »Stirb langsam 3« mit sich selbst in der Hauptrolle gespeichert. Dazu passt auch, dass er nicht das geringste Unrechtsbewusstsein hat. Er bringt sich in meinem Fauteuil in die passende, also lässig hingegossene, Position. Es war maximal ein Lausbubenstreich, also nicht der Rede wert. In Wirklichkeit ziemlich cool, mega-cool sogar, wenn man es genau nimmt und er sich an die ganze Action und das Gefühl dabei erinnert.
»Es war an einem Samstag, spät abends, eigentlich war es schon so gegen halb zwei Uhr«, beginnt er, als ich ihn auffordere, mir die ganze Sache nochmals zu schildern. Eigentlich war es ein ganz chilliger Abend gewesen. Jo-Jo, sein bester Freund, und er hatten ziemlich viel Bier getrunken und sich die Zeit mit Computerspielen, Warcraft und so, vertrieben. Sie waren allein im Haus seiner Eltern, die in ihr Wochenendhaus gefahren waren. »Uns ist dann das Bier ausgegangen«, eröffnet er mir in einem Ton, als würde das das Folgende bereits völlig selbstredend erklären.
Sie beschlossen also, zu einer Nachttankstelle auszureiten, um sich mit weiterem Bier einzudecken. Der Range Rover seiner Mutter schien in der elterlichen Garage nur darauf zu warten. Der zu diesem Zeitpunkt bereits recht hohe Alkoholisierungsgrad ließ nicht nur das geplante Unternehmen plausibel erscheinen. Er war auch dafür verantwortlich, dass die Fahrt in einer engen, beidseitig zugeparkten Seitengasse des 13. Wiener Gemeindebezirks mit einem großflächigen Schaden an gut einem Dutzend Fahrzeugen endete, als Phillip mit dem Wagen seiner Mutter die anderen Autos abrasierte. Durch kluges Gegensteuern war es ihm sogar gelungen, dabei auf beiden Seiten kein einziges Fahrzeug auszulassen. Doch damit nicht genug. Nach dem Eintreffen der Polizei kam es zu turbulenten Szenen, als Phillip sich mit einem von einem Fahrzeug kurzerhand abgebrochenen Scheibenwischer der Festnahme durch mehrere Beamte widersetzte. »Den Bullen habe ich es gezeigt«, sagt er zu mir, noch immer von sich selbst überzeugt und ohne jeden Ansatz von Reue.
Es ist zum Haare raufen! Da sitzt dieses Milchbubi vor mir, das in seinem ganzen Leben laut Aussage seiner Eltern keine größeren Härten als einen Zahnarztbesuch hat erleben müssen, trägt Kleidung, die ein durchschnittliches Monatsgehalt eines Normalverdieners kostet, gehört zur sogenannten Zukunftselite und hat nur ein Achselzucken dafür übrig, dass er neben einer ganzen Reihe von Delikten auch noch mindestens zwei Polizisten schwer verletzt hat. Das ist dem Polizeibericht leider unmissverständlich zu entnehmen.
Eigentlich ist Phillip streng genommen als soziopathisch einzustufen. Doch gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass hier vor mir ein großer Dreijähriger sitzt, der schlicht und einfach noch nicht imstande ist, die Tragweite seines Handelns zu begreifen, sondern in seiner Unbedarftheit immer noch meint, das Ganze würde als Scherz durchgehen.
Dass sich hinter Phillips vorgeschobener Coolness ein tief verunsicherter, sehr verwirrter junger Mensch verbirgt, der bereits seit Langem vergeblich nach Führung sucht, die ihm Handlungsanleitung und Orientierung gibt, wird sich in seiner ganzen dahinter liegenden Verzweiflung erst in den nächsten Sitzungen eröffnen. Im Moment denke ich mir bloß: »Der spinnt doch einfach.«
Bedauerliche Einzelfälle – oder steckt System dahinter?
Elena mit ihrem Wutanfall auf meinem roten Sofa und ihrer ohnmächtigen Mutter oder Phillip sind nicht die einzigen Kinder oder jungen Menschen, die augenscheinlich Probleme mit ihrer Entwicklung haben.
Da ist auch noch Josef, mein dreizehnjähriger Schulverweigerer, der mit seinen 140 Kilogramm schon eine riesige Menge an Kränkungen in die Waagschale zu werfen hat, die mit schuld an seinen sozialen Ängsten sind. Er ist aber nur einer aus einer beängstigend großen Gruppe von schwergewichtigen Kindern, für deren Behandlung man bereits Spezialambulanzen einrichten muss.
Sophie wiederum kennt nichts anderes, als die Fahndung nach weiteren Kalorien, die sie reduzieren kann. Sie lebt unter dem Terrorregime ihrer Badezimmerwaage und ist mit ihren zarten zwölf Jahren bereits Anorexie-Patientin. Frühere Generationen hätten in ihrem Alter dieses Wort noch nicht einmal buchstabieren können.
Markus verweigert als Achtjähriger nach wie vor jeglichen geregelten Toilettengang, den er stattdessen konsequent in die Hose abliefert. Er ist bereits mehrfach nach allen Regeln organmedizinischer und psychologischer Kunst vermessen und getestet worden, was jedoch nichts am bestehenden Sachverhalt geändert hat.
Lydia hat im letzten Jahr vor Aufnahme ihrer Therapie ihre Unterarme mit derart vielen Schnitten traktiert, dass sich nun ein Narbenmuster aus zarten weißen Linien wie eine überdimensionale tätowierte weiße Manschette auf der gemarterten Haut abzeichnet.
Gregor ist internetsüchtig und hat seiner Mutter schon mit vierzehn in einem Wutanfall die Papierschere durch den Oberarm gerammt, als sie die Internetverbindung zu kappen drohte. Nach Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht lebt er nun in einer symbiotischen Beziehung mit seinem Laptop.
Anna, Manuela und Kerstin wiederum haben in der dritten Klasse des Gymnasiums einen handfesten Prostitutionsbetrieb eingerichtet, mit dem sie sich ihr Shopping finanzieren. Aufgrund der guten Nachfrage und wegen der limitierten Pausenzeiten in der Schule haben sie das nun auch auf den Nachmittag ausgeweitet und praktischerweise gleich in eine der elterlichen Wohnungen verlegt, da sowieso niemand zu Hause ist. »Sex ist einfach etwas, auf das die Typen stehen und mit dem sich super Kohle machen lässt«, erklärt mir Manuela voller Überzeugung. Mich befallen angesichts ihrer unverrückbar anmutenden Selbstverständlichkeit und Sicherheit dunkle Zweifel, ob für dieses Kind Sexualität je etwas anderes sein wird als ein Konsumgut und somit eine Ware. Immerhin braucht sie nicht zu lügen, denn die nachschulische Nachmittagsbeschäftigung wird von ihrer berufstätigen alleinerziehenden Mutter stillschweigend geduldet. Sie sieht lieber weg, als Kämpfe mit ihrer frühreifen Tochter auszufechten, solange diese die Pille nimmt und zur Therapie kommt.
Neben dieser Gruppe von Kindern, die derart auffällig geworden sind, dass sie einer Behandlung zugeführt werden müssen – jenen Kindern also, die meiner langjährigen Einschätzung nach einfach ganz, ganz laut werden müssen, um auf ihre innere Not und Verwirrung hinzuweisen –, neben dieser sichtbaren Spitze des Eisbergs also gibt es eine weitere, noch viel größere und beständig wachsende Gruppe von Kindern, die gerade noch unterschwellig sind. Das heißt, sie fliegen gerade noch unter dem Radar offensichtlicher Auffälligkeit, sind aber in der einen oder anderen Form deutlich beeinträchtigt und geben Anlass zur Besorgnis, wenn man darüber nachdenkt, wie sie in Zukunft ein erwachsenes, selbstverwaltetes Leben führen und befriedigende respektvolle Beziehungen mit anderen Menschen eingehen sollen.
Eine altgediente Pädagogin aus einer unserer Ausbildungsgruppen zur Erziehungsberaterin hat das einmal sehr prägnant zusammengefasst: »Als ich vor rund dreißig Jahren in den Schuldienst eintrat und als klassenführende Pädagogin zu arbeiten