extremen Stress wegen der Probleme der Eltern haben.«
Da sind Bernadette, Markus, Sophia, Max, Flora, Paul, Anna, Robert, Kathrin, Sebastian, Maria-Martina und wie sie alle heißen, die einfach nicht mitmachen, ihre Hefte nicht aufschlagen, wenn sie sollen, nicht bereit sind, in den Garten zu gehen, wenn alle anderen es tun, sich tobend in der Garderobe wälzen, wenn sie ihre Jacke oder ihr Turngewand anziehen sollen. Allesamt überblasen sie die schrille Melodie obstinater, unüberwindbarer Verweigerung mit ihrem Verhalten und produzieren alltägliche Verzweiflung für ihre Umgebung.
Sie alle – und noch sehr viele mehr – tun ihre Rebellion kund, sorgen bei ihren Betreuerinnen, Pädagogen und auch bei ihrer Familie für Kopfschütteln und Ratlosigkeit. Sie legen allesamt ein Verhalten an den Tag, das gravierende Mängel im altersadäquaten Selbstmanagement und der Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, zeigt.
Sabine wird wahrscheinlich auch heute, während ich dies schreibe, wieder an ihrem Kakaofläschchen nuckeln, wenn sie zu Bett geht. Eine Szene, die angesichts der Tatsache, dass sie bereits elf Jahre alt ist und schon menstruiert, seltsam anmutet.
Robert braucht zwar kein Fläschchen mehr zum Einschlafen, aber der Zehnjährige beharrt darauf, zwischen seinen Eltern im Ehebett zu schlafen und prügelt jeden Ansatz eines Versuchs, ihn von einem altersadäquaten eigenen Schlafplatz zu überzeugen, im wahrsten Sinn des Wortes sofort aus seinen verängstigten, behutsamen Akademikereltern heraus.
Die neunjährige Sandra ist da vergleichsweise unproblematisch und akzeptiert sogar ihr eigenes Bett, solange ihr allabendlich die mütterliche Brust zur Verfügung steht.
All diese Kinder werden von ihren Eltern zwar als mühsam erlebt, aber eifrig als »normal« bezeichnet. Was allerdings an dem eigentlichen Problem vorbeigeht, dass diese Kinder durch die soziale Entwicklungsverzögerung bis hin zur Infantilisierungsfixierung in der Entwicklung ihres Potenzials vehement eingeschränkt sind. Die eigentliche Botschaft dieser Kinder ist die Verweigerung. Und hier könnte Schlimmes auf uns zukommen, wenn wir uns in zehn bis fünfzehn Jahren hauptsächlich in einer Gesellschaft bewegen und bewähren müssen, in der junge Erwachsene nichts anderes sind als großgewachsene Vierjährige, die ihre emotionale Steuerung noch nicht ausreichend im Griff haben. Die Zukunft der Tyrannenkinder könnte für uns Eltern noch weit schlimmer aussehen als die Gegenwart!
Wir haben also ein ernstes Problem mit der Generation, die da gerade heranwächst und die leistungsstark sein und üppig ins Steuer- und Pensionssystem einzahlen muss, wenn der ohnehin schon schwankende Karren nicht vollends an die Wand gefahren werden soll. Daher ist beherztes Nachforschen statt systematischem Wegschauen angesagt!
All diese Kinder, die heftig auffallenden Tyrannenkinder genauso wie jene, die sich an der Grenze zur Auffälligkeit bewegen, sind allerdings weder böse noch wahnsinnig und, um es für alle Ewiggestrigen explizit auszuformulieren, auch kein schlechteres Kindermaterial als frühere Generationen. Die allerwenigsten dieser Kinder sind tatsächlich manifest psychisch krank und nur ein paar vereinzelte bewegen sich durch ihre biographische Überforderung am Rande dazu. Aber verrückt, irgendwie »heraus gerückt« aus einem normalen, unbeeinträchtigten Kinderleben wirken sie mit ihren Verhaltensoriginalitäten, Eigenheiten, Wutanfällen und ihrer Tyrannei nahezu alle. Sie brauchen Hilfe, und zwar unmittelbar, rasch und auf grundsätzlicher Ebene!
Der Hausverstand würde den allermeisten Kindern hier attestieren, dass sie einfach spinnen und damit die feine Grenze zwischen einem »schlimmen« und einem »spinnenden« Kind ziehen. Das »schlimme« Kind setzt aus Übermut, Wut oder einer anderen Stimmung heraus eine Aktion, die ihm durchwegs als Regelverstoß bewusst ist. Das »spinnende« Kind setzt seine Aktionen aus einem eigenen inneren Bezugssystem heraus, das weder seiner altersadäquaten Entwicklung entspricht, noch soziale Grenzen ausreichend zu erkennen und respektieren vermag.
Doch wieso »spinnen« heute so viele Kinder? Und das ausgerechnet in unserer saturierten und sich nach allen Seiten hin offen und liberal gebenden Konsum- und Technologiegesellschaft, die so viel Mühe und medialen Einsatz darauf verwendet hat, »alte Erziehungswerte« als schädlich zu entlarven oder als nutzlosen Ballast abzuwerfen? So viel Plackerei und Arbeit wie in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten geleistet wurde, um das kollektive Unbewusste samt seinen Grundüberzeugungen und Glaubensgrundsätzen umzukrempeln, passiert sonst nur in Revolutionszeiten. Als Ergebnis stehen wir nun einer immer größer werdenden Gruppe gestörter Kinder und Jugendlicher gegenüber, deren Zukunft als Erwachsene Anlass zu ernsthafter Besorgnis gibt.
Was dürfen wir von einem Siebzehnjährigen erwarten, der sich grober Sachbeschädigung und Körperverletzung schuldig macht, ohne dabei das geringste Unrechtsbewusstsein zu haben? Können wir uns vorstellen, dass Sabine mit ihrem Nuckelfläschchen in zehn oder fünfzehn Jahren die Verantwortung für ein eigenes Kind übernimmt? Wie wird das Arbeits- und Beziehungsleben all dieser tyrannischen Prinzen und Prinzessinnen aussehen, wenn ihnen der Hofstaat ihrer sie bewundernden Familie abhandenkommt?
Eine oberflächliche Betrachtungsweise oder Schuldzuweisungen an die üblichen Verdächtigen sind hier jedoch gänzlich fehl am Platz. Dafür ist das, was sich da im Unterbau unserer Gesellschaft gerade abspielt, zu grundsätzlich und zu folgenschwer.
Nüchtern betrachtet, ist eine Gesellschaft mit ihren Regulativen und ihrem jeweiligen Selbstverständnis, ihrer Realitätskonzeption und damit ihrer Einschätzung dessen, was »angemessen« und »normal« ist, nichts anderes als ein Konzern, in dem Generationen produziert werden. Die Elterngeneration »produziert« die Folgegeneration und bereitet diese durch ihre Erziehung auf die Anforderungen des Erwachsenenlebens vor. Natürlich gibt es in jeder Produktion auch sogenannte »Mängelexemplare«, die für den geplanten Endzweck des Produkts – in diesem Fall Teil der neuen Zukunftsgesellschaft zu werden – weniger brauchbar sind. Wie so ein »Mängelexemplar« definiert wird, dafür gibt es Toleranzgrenzen. Und zwar sowohl dafür, wie stark von der erwünschten Norm abgewichen werden darf – also ab wann das Produktionsstück als zu »fehlerhaft« oder »nicht ausreichend konform« etikettiert wird – als auch für die Quantität – also wie viele Stücke aus einer gewissen Menge abweichend sein dürfen. Solange sich das Ganze im Toleranzbereich bewegt, bleiben alle ruhig. Ein gewisses Ausmaß an Verweigerern, Spinnern, ja sogar Soziopathen oder völlig Unproduktiven hält eine Gesellschaft im Allgemeinen aus. Die »Mängelexemplare« werden mal als Materialschwäche, mal als Versagen der mit der Bearbeitung betrauten Personen oder der bearbeitenden Maschine, also der Gesellschaft, gesehen.
Überschreiten die »Mängelexemplare« jedoch eine gewisse Anzahl, gerät die Produktion in Aufruhr und die Suche nach den Ursachen beginnt, da ansonsten die gesamte Produktionsanlage bedroht ist. Eine Produktion, die ihren Auftrag nicht erfüllen kann, rationalisiert sich logischerweise selbst weg. Das gilt bei der Herstellung von Tupperware oder Autoteilen genauso wie in Staat und Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die nicht mehr genügend »fitte« Nachkommen hervorbringen kann, sondern bloß eine Generation, die lautstark »Verweigerung!« schreit, könnte es also an den Kragen gehen …
Wir reden hier wohlgemerkt von unserer Gesellschaft. Mit ihrer Verweigerung präsentiert die nächste Generation uns die Rechnung. Es wird also Zeit für einen Aufruhr.
Was heißt hier »fit for life«?
Wir haben einen Auftrag in Bezug auf unsere Kinder. Und auf den sollten wir uns bei aller Selbstinszenierung, eigener Bedürftigkeit nach Anerkennung und allem »modern sein Wollen« auch tunlichst besinnen. Er ist ziemlich simpel und wenn man selbst genügend erwachsen ist, auch durchwegs erfüllbar. Das Ganze basiert auf einem einfachen und grundsätzlich unauflöslichen Vertrag, der in dem Moment in Kraft tritt, in dem wir Kinder in die Welt setzen. Wir sind für sie verantwortlich und müssen sie »fit for life« machen. Wir müssen sie durch ihre Kindheit und Jugend begleiten, bis wir sie im jungen Erwachsenenalter endlich in die Unabhängigkeit entlassen können.
Das heißt, wir als Eltern, aber auch als Gesellschaft, sozialisieren das Kind durch die Vermittlung von Normen, Werten, situativen Verhaltensweisen oder Regeln und bringen ihm einen Verhaltenskodex bei, der es ihm ermöglicht, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Das alles unter Berücksichtigung der speziellen Talente des Kindes und seiner