Ramazan Demir

Unter Extremisten


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ans Heck eines Geländewagens zu knoten. Und ab, quer durch die Stadt. Jenen zur Warnung ins Stammbuch geschrieben, die meinen, sich gegen Allahs irdischen Arm zur Wehr setzen zu müssen. Abermals sieht Musa die Antlitze dieser Männer auftauchen. Sie stehen, knien an den Innenlidern seiner zusammengepressten Augen, blutüberströmt und schon jetzt halbtot um Gnade winselnd, ehe der wilde Ritt über staubige Straßen erst losgeht. Gnade? Das Wort Gnade findet keinen Widerhall in ihrer, seiner Sprache. Um Gnade zu flehen ist in ihrer, seiner Welt geradezu lachhaft. Ein Zeichen endloser Schwäche. Ein Zeichen von Selbstaufgabe.

      Ein andermal hat Musa reglos zugesehen, wie Kämpfer seines Trupps eine Handvoll junger Männer hingerichtet haben. Vor den Augen ihrer im Schrecken verstummten Mütter. Es ist wirklich nichts Persönliches. Es ist bloß, weil der Verdacht von Spionage im Raum steht. Nichts Konkretes. Mehr ein vages Gerücht. Härte zeigen, einfach bloß, um gekeimten oder auch nur allfälligen Widerstand gegen den Islamischen Staat zu brechen. Schon nach ein paar Wochen hat sich die Wertigkeit eines Menschenlebens in ihm bedeutend verringert, und schon bald schrumpft die Halbwertszeit gegen Null. Jedes Tun, jedes Denken erfolgt nur noch wie unter einer einzigen, alles vereinnahmenden Wolke, die über Land und Leuten liegt. Sie steuert die Geschöpfe, Ereignisse, macht sie zu ameisenhaft winzigen Gefügigen im Geiste einer riesenhaften, übergeordneten Fügung, setzt die Impulse einer kollektiv entfesselten Lust an Gewalt und Macht – und setzt diese Impulse auch frei. Eine gemeinschaftliche Ohnmacht der Unbarmherzigkeit, die wie ein Leitstern auf ihrer aller fundamentalistischem Himmel steht. Und so hat der Mensch als des Menschen Wolf rasch auch in ihm, Musa, die Oberhand gewonnen. Das Tier hat gesiegt. Der Rausch des Triumphierens, die Triebe und der Instinkt des Überlebenwollens als alles bestimmende Faktoren.

      Dann aber, inmitten dieses nicht enden wollenden Rausches und wie zur ungebetenen Nüchternheit, ist der Traum geplatzt. Plötzlich erscheint Musa Musa wieder als er selbst. Wenn auch nur unterschwellig und für niemand sonst erkennbar. Jener alte Musa, den es tief verborgen auch noch gibt. Der Hitze, Feuer, Kälte, Tod und Verderben ringsum überdauert hat wie ein Same, der endlos lange im Tiefschlaf ausharrt und nur dieses einen Tropfens Wasser bedarf, der ihn am rechten Ort zur rechten Zeit begießt, zum Keimen bringt.

      Er sieht, wie ein Getreuer eine junge Mutter vor sich hertreibt, hin zu einem Abgang in eine Schutthalde, die einmal Zuhause geheißen hat. Musa weiß, was kommt. Die Waffe im Anschlag, wird der Kämpfer die Frau in Schach halten, sie nach Belieben missbrauchen. Auf welche Weise immer. Es gibt keinen Zweifel an dem, was folgt. Einziger Unsicherheitsfaktor allenthalben würde sein, wie oft er es tut.

      Musa kennt diese Art von Schrei, der so anders klingt als alle übrigen, die eine Kehle freizusetzen weiß. Markdurchdringender, als jeder Regisseur eines Horrorstreifens es in Szene zu setzen wüsste. Das atemlose Herauswürgen von Hoffnungslosigkeit und Schrecken. Das sprachlose, keuchende Wissen, dass zwischen jetzt und dem erlösenden Tod nur noch endlose Bahnen des Grauens liegen. Musa blickt hin, sieht das lähmende Entsetzen im Antlitz dieser Frau. Ich werde, kann, darf mich nicht wehren, steht darin geschrieben. Was geschieht sonst mit meinen Kindern? Wer kümmert sich um sie, wenn ich nicht mehr …? Und auf einmal sieht Musa seine Mutter Maryam, sieht seine beiden jüngeren Schwestern. Hatija und Aisha. Sie starren ihm in die Augen, versinken nebelhaft im Boden. Seine von ihm so verherrlichte Mutter, die ihn und die Schwestern mangels Vater zeitlebens umsorgt, die sich die Hände blutig geschuftet hat, um sie alle durchzubringen. Irgendwo dort. Im fernen Mitteleuropa.

      Und auf einmal weiß Musa, dass Schluss sein muss. Dass er nicht weitermachen kann. Es ist nicht bloß eine vage Einsicht. Es ist eine bodenlose Überwältigung, die ihn aufschaudern lässt, ihm die Knie erweicht, während die Schreie dieser anderen, unbekannten Mutter dumpf an sein Ohr dringen. Oh, nein, er denkt nicht darüber nach, sie zu retten. Nicht eine Sekunde. Wie absurd. Als würde ein einzelnes Sandkorn gegen einen Sandsturm aufbegehren. Nein. Musa denkt bloß daran, dass er nicht mehr kann. Dass er es nicht mehr ertragen kann. Das alles hier. Dass er weg muss. Jetzt. Andernfalls ist sein Verlorensein ein endgültiges, unendlich tiefer noch als jenes, in dem er bereits feststeckt.

      Und so mobilisiert Musa alle Kräfte, stiehlt sich nachts heimlich aus den Reihen davon. Seine Flucht hat begonnen, es gibt kein Zurück, und dieser nackte Trieb des Fortbestehens peitscht ihn immer weiter fort. Bis hierher. In dieses zerschossene Stück Existenz. In dieses von Granaten und Gewehrkugeln zersiebte Haus.

      Wie lange hat er schon nicht mehr nachgedacht? Musa hat nicht den Schimmer einer Ahnung. Bloß, dass er es jetzt wieder tut. Endlich wieder. Dass er sich fragt, was und wer er ist. Ja, er, Musa, Sohn einer Mutter. Bruder zweier Schwestern. Aber darüber hinaus? Ist er ein Mörder? Weil er andere Menschen getötet hat? Aus welchen Gründen? Sind es richtige Gründe? Ehrenhafte? Oder doch …? Gibt es überhaupt richtige, ehrenhafte Gründe, einen Menschen zu töten? Ein ums andere Mal schiebt Musa diese drängenden Fragen beiseite. Sie sind lästig, lenken ihn ab von seiner Aufgabe. Und diese Aufgabe hat nur einen Namen: Überleben.

      Doch dann, wie zur ultimativen Prüfung seines aufgeweichten Gewissens, bedrängt ihn diese andere Frage: Wie hat es soweit kommen können? Wie mitunter, dass er zu zweifeln begonnen hat? Alles hat so leuchtend klar vor ihm gestanden. Seinerzeit. Zuhause. Er ist frei von Zweifel gewesen, wollte, würde dieser einen, richtigen Sache dienen. Gerade so, wie der Prediger es ihm prophezeit hat. Der Prediger. Dieser kluge, Ehrfurcht gebietende Mann. Dieser Vater, zu einem solchen aufzuschauen ihm nie vergönnt gewesen und der dieser fremde Mann ihm so selbstlos gewesen ist. Aus dem Koran hat er ihm vorgelesen. Auf Arabisch. Wiewohl Musa gerade das nicht kann: Arabisch. Doch es sind ihm wohlvertraute Klänge, die träumerisch aus seiner alten Heimat Tschetschenien heranwehen. Musas Sprache ist Deutsch. Die Sprache der neuen Heimat, die ihm nie zu einer geworden ist.

      Bei ihm, dem weisen, wie allwissenden Prediger, hat Musa sich von Anbeginn geborgen gefühlt. Diese Wärme in der Brust, ernstgenommen zu werden. Er, Musa, ist nicht ein länger x-beliebiger lästiger, kraft seiner Herkunft missachteter Tschetschene in Wien. Musa ist mit einem Schlag Mensch. Man achtet ihn. Braucht ihn. Und wenn er zu dem Prediger von diesem Leben in Wien spricht, sieht ihm der Prediger tief in die Augen. Wie auch er dem Prediger tief in die Augen sieht, wenn der von seinen Dingen spricht. Seiner Sicht der Welt. Dem Übel. Und auch davon, dass Allah den Tod der Ungläubigen wünscht.

      Er erzählt Musa von den Untaten, die Ungläubige in aller Welt begehen. Nicht bloß in Syrien. Nicht bloß im Irak. Rund um den Globus. Auch in Europa. Gerade in Europa, wo es oberstes Ziel sei, sich die Muslime untertan zu machen. Menschen wie ihn, Musa. Seine Brüder und Schwestern. Und dass es Männer und Frauen seiner Schlagkraft, seines noch zu festigenden Glaubens bedürfe, den Ungläubigen Einhalt zu gebieten. Dies allein sei Allahs Wille.

      Ja, Musa hat die Wut des Predigers verstanden. Zunehmend mit jeder Faser seiner von Misstrauen, Ausgrenzung und Generalverdacht geleiteten Existenz. Wie er auch die Wut des Predigers über ihn und andere junge Muslime verstanden hat, die ihr Leben der Bequemlichkeit verschrieben hätten. Die in Sicherheit schliefen, während ihre Geschwister draußen in der Welt Leid und Ungerechtigkeit zu erdulden hätten. Und insgeheim hat er begonnen, das Lob des Predigers für jene, die ausziehen, um zu kämpfen, zu seinem eigenen Lob zu machen. Die Bomben in U-Bahn-schächten zünden. Die Ankunftshallen auf Flughäfen zu Kriegsschauplätzen wandeln. Die Lastwägen zu Waffen gegen Menschenmengen machen. Oder einfach nur in einem Zugabteil ein Messer zücken. Von London spricht der Prediger. London vor bald zehn Jahren. Juli 2005. Vier der Ihren, allesamt mit britischem Pass, die Sprengsätze zünden in U-Bahn und Bus und 56 Menschen in den Tod reißen. Weitere siebenhundert verletzt. Und er spricht von der jüngsten Vergangenheit. Brüssel im Mai 2014. Das Attentat im Jüdischen Museum.

      Nicht alle Bilder zu den Taten trägt Musa in Erinnerung. Bei London ist er noch ein Kind am Übergang zur Hauptschule gewesen. Doch an Brüssel erinnert er sich nur zu gut. Brüssel ist allzu frisch. Wenige Wochen ist das damals her gewesen. Der Name Mehdi Nemmouche dringt erstmals an Musas Ohr. Ein Franzose algerischer Abstammung und Syrien-Heimkehrer. Einer von vielen, die sich fortan auf den Kampf in Europa eingeschworen haben. Wie eine Fackel des eisernen Widerstands glimmt der Name in den Augen des Predigers auf.

      Musa indes hat andere Pläne. Längst hat er begonnen, zuhause seinen beiden kleinen Geschwistern von der Strahlkraft des IS zu berichten, von der famosen Idee der Errichtung