Volker Dützer

Die Ungerächten


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Geldkassette. Er stellte sie auf den Tisch und hebelte sie nach mehreren missglückten Versuchen auf. Darin befanden sich zweihundert Reichsmark und ein Bündel Dollarnoten.

      Bevor er das Geld in die Manteltasche stopfen konnte, flammte das Deckenlicht auf. Erschrocken fuhr er herum. Mitschke stand in der Tür. Er trug einen gestreiften Schlafanzug und zielte mit einem Trommelrevolver auf ihn.

      »Schau an, das Diebsgesindel ist zurück«, sagte er.

      Pawel wich vor ihm zurück und stieß gegen die Schreibtischkante.

      »Hast wohl vergessen, was wir im Lager mit dem Pack gemacht haben, was?« Mitschke spannte den Hahn des Revolvers. »Wir hätten euch alle erledigen sollen. Aber das kann ich ja zumindest bei dir nachholen. Weg mit dem Stemmeisen!«

      Pawel wurde sich bewusst, dass er noch immer das Rohr umklammerte. Es war seine einzige Waffe, aber gegen Mitschkes Revolver konnte er damit nichts ausrichten. Vor wenigen Minuten hatte er sich großartig gefühlt, innerhalb eines Augenblicks verkehrte sich alles ins Gegenteil. Das Verlangen nach Vergeltung hatte seinen Verstand vernebelt. Er war völlig unüberlegt und ohne Plan vorgegangen und das rächte sich nun.

      Mitschke grinste. »Na, behalt das Ding mal lieber. Vielleicht ist es besser, ich knall dich ab, solange du mich bedrohst.«

      Pawel suchte panisch nach einem Ausweg. Mehr aus Angst und Verzweiflung als durch überlegtes Handeln schwang er das Eisenrohr und traf den Lampenschirm über seinem Kopf. Die Glühbirne zerplatzte, ein heißer Regen aus Glassplittern ergoss sich über ihn. Mitschke brüllte wütend auf und schoss. Pawel sah das Mündungsfeuer aufblitzen und spürte einen Luftzug. Klirrend zerbarst das Fenster zum Hof.

      Der Schrotthändler gab einen weiteren Schuss ab, aber Pawel hatte sich bereits auf den Boden geworfen. Im Fallen holte er mit dem Stemmeisen aus und traf Mitschkes Schienbein. Der schrie auf und taumelte. Pawel erhob sich auf die Knie und schlug zu. Diesmal traf er den Unterarm seines Gegners. Er hörte das Knacken, mit dem der Knochen brach. Mitschke ließ den Revolver fallen und sank in die Knie. Das kalte Licht der Bogenlampen fiel auf sein Gesicht, in seinen überraschten Blick mischten sich plötzlich Unsicherheit und Angst.

      Pawel kam taumelnd auf die Füße. Ein heißes Gefühl des Triumphes durchflutete ihn, gepaart mit einer Wut, die er nicht mehr kontrollieren konnte. Er sah sich selbst im Schlamm des Appellplatzes liegen, wie er verzweifelt versuchte, sich vor den Tritten der Wachmannschaften zu schützen. Wieder erniedrigte er sich vor Theissen, pries die Vorzüge seiner Schwester an und flehte ihn an, Milena zu seiner Hure zu machen, damit sie leben durfte.

      »Du hast jetzt eine Aufgabe, Pawel«, sagte sein Vater, bevor er für immer die Augen schloss.

      Die Menschen, die er liebte, waren tot. Verhungert, an Entkräftung gestorben, ermordet oder elendig verreckt. Pawel hatte überlebt. In diesem Augenblick, in dem Mitschke winselnd vor ihm auf dem Boden lag, wusste er, dass der Schmerz und die Wut, die in ihm wühlten, nicht nur das Ergebnis seines Verlustes waren. Oh ja, er vermisste Milena, seinen Vater und seine Mutter, von der er nicht einmal wusste, wo und wann sie gestorben war. Doch da war noch etwas anderes. Es fraß an ihm wie ein Geier, der seinen Schnabel in ein Stück Aas hackt. Pawel fühlte sich schuldig. Warum hatte er als Einziger die Verfolgung und Deportation, das Grauen der Lager und den Todesmarsch überlebt? Was hatte er getan, dass der Gott, an den er nicht mehr glaubte, ihn so furchtbar bestrafte, indem er ihn weiterleben ließ?

      Rasend vor Zorn begann er, auf den am Boden liegenden Schrotthändler einzuprügeln, der sich von einem atmenden Menschen in ein seelenloses Objekt verwandelte. Es tat so gut und gleichzeitig so weh. Hier war endlich jemand, der nicht mehr vor ihm davonlaufen konnte und der bezahlen musste für alles, was man ihm angetan hatte. Mit jedem Schlag, mit jedem Tritt spürte Pawel, wie das Schuldgefühl wich und einer tief empfundenen Erlösung Platz machte. Die Rache schmeckte bitter, aber sie war der einzige Weg, damit fertigzuwerden, dass er lebte, denn sie gab seinem armseligen Dasein einen Sinn.

      Mitschke rollte sich wie ein Igel zusammen, barg den Kopf in den Händen und wimmerte. Pawel schlug auf ihn ein, immer wieder, bis ihn die Kraft verließ und er das Eisenrohr von sich warf.

      Der Schrotthändler rührte sich nicht mehr. Pawel kniete neben ihm auf dem blutbesudelten Boden und lachte hysterisch, weil ihn der gestreifte Schlafanzug an die Häftlingskleidung in Sachsenhausen erinnerte. Noch immer war seine Wut nicht ganz verraucht und er riss den linken Ärmel des Schlafanzugs ab. An Mitschkes Oberarm, dicht unterhalb der Achsel, fand er, wonach er gesucht hatte: eine etwa acht Millimeter große Narbe. Mitschke hatte die Blutgruppentätowierung entfernen lassen, die ihn als Mitglied der SS verraten hätte.

      Hundegebell zerriss die nächtliche Stille, Pawel erwachte schlagartig aus seinem Blutrausch. Zitternd vor Anstrengung starrte er auf den leblosen Körper. Mitschkes Blut glänzte im Lichtschein wie Öl.

      Das Zimmer drehte sich um Pawel, die Schreie der Häftlinge in Sachsenhausen vermischten sich in seinem Kopf mit dem Kläffen der Hunde vor dem Fenster. Albtraum und Realität ließen sich nicht mehr voneinander trennen. Was, um Gottes willen, hatte er getan? Die Henker hatten ihn selbst zum Mörder gemacht.

      Die Angst kehrte zurück und lähmte ihn. Pawel begann, unkontrolliert zu beben, und schluchzte wie ein Kind, das in einem Wutanfall sein Spielzeug zerbrochen hatte. Er hatte einen Menschen getötet und würde die Konsequenzen tragen müssen, wenn man ihn erwischte. Hastig stopfte er die Geldscheine in seine Manteltaschen und lief um den Schreibtisch herum zum Fenster. Zwischen den Schrottbergen tanzte das Licht einer Taschenlampe. Offenbar beschäftigte Mitschke einen Nachtwächter, der den Schrottplatz bewachte. Das erklärte, warum die Hunde vorhin nicht angeschlagen hatten. Wahrscheinlich hatte der Wächter seine Runde gedreht.

      Pawel flüchtete aus dem Büro und lief durch den Flur zu der Tür zurück, durch die er gekommen war. Vorsichtig schob er sie auf und spähte durch den Spalt.

      »Ist da wer?«, rief eine Männerstimme. Die Hunde antworteten mit aufgeregtem Gebell.

      Der Lichtstrahl huschte über Autowracks und Altmetallstapel. Pawel hetzte über den dunklen Hof und nutzte die turmhohen Schrottberge als Deckung. Irgendwie musste es ihm gelingen, einen Weg durch dieses Labyrinth nach draußen zu finden.

      Bevor er die Hälfte der Strecke zum Bahndamm hinter sich gebracht hatte, erfasste ihn das Licht der Taschenlampe. Unter einer Bogenlampe stand der Blonde mit der Zahnlücke, der sich Mitschke als Gomulka vorgestellt hatte.

      »He! Stehen bleiben!«

      Pawel rannte weiter und sah sich gehetzt um. Gomulka ließ die schwarz-braunen Rottweiler von der Leine. Pawel schlug Haken und lief in einem Bogen zum Haus zurück, er würde niemals rechtzeitig den Zaun erreichen, bevor die Hunde ihn stellten. Es kam zu einem Wettlauf, den er knapp verlor. Die Rottweiler schnitten ihm den Weg ab und kreisten ihn ein. Mit dem Rücken zur Wand der Werkshalle war er ihnen schutzlos ausgeliefert.

      Die Hunde waren noch etwa zehn Meter von ihm entfernt, als sich neben ihm eine Tür öffnete. Jemand packte ihn an der Schulter und zog ihn grob in die Halle. Pawel spürte ein Messer an seiner Kehle.

      »Keinen Mucks oder ich stech dich ab!«, zischte jemand.

      Pawel nickte stumm und rührte sich nicht. Die Hunde kläfften und sprangen enttäuscht außen an der Tür empor. Schritte näherten sich.

      »Lass uns abhauen«, flüsterte eine Frau. »Wir nehmen ihn mit.«

      »Warum? Er hat uns die Tour vermasselt. Wegen diesem Dummkopf hab ich mir die Nacht umsonst um die Ohren geschlagen.«

      »Gomulka hetzt die Hunde auf ihn, wenn er ihn findet.«

      »Na und? Wer so blöd ist und sich erwischen lässt, ist selber schuld.«

      »Er gehört nicht zu Mitschke, also ist er einer von uns, kapiert?«, beharrte die Frau.

      Die Messerspitze entfernte sich von Pawels Kehle.

      »Da… danke«, stotterte er.

      »Freu dich nicht zu früh«, entgegnete der Mann.

      Sie verließen die Lagerhalle