Volker Dützer

Die Ungerächten


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… und ob er es konnte. Alles hing davon ab, ob er überhaupt noch in Deutschland war.

      6

      Pawel rieb die kalten Hände aneinander und wärmte sie mit seinem Atem. Die Schlange elender Gestalten, in der er stand, kam nur langsam voran. Einsam, blind vor Zorn und von Rachefantasien getrieben, war er durch die Straßen Wiesbadens geirrt. Auf dem Weg zur Innenstadt war er schließlich auf eine Gruppe Flüchtlinge gestoßen und hatte sich ihnen angeschlossen. Ein amerikanischer Offizier hatte sie zu einer Notunterkunft am Stadtrand geschickt.

      Wieder ging es zwei Schritte vorwärts. Sein Magen knurrte, er fühlte sich schwach und schwindelig. Wenn er sich wenigstens eine Nacht lang aufwärmen und ausruhen könnte, würde es ihm besser gehen. Morgen war ein neuer Tag, der neue Hoffnung bringen würde.

      Eine Stunde später trug er einen Teller Suppe zu einem der Tische, dazu fünfhundert Gramm Brot – die Tagesration, mit der jeder auskommen musste. Er freute sich, dass in der dünnen Suppe sogar ein paar Fleischbrocken schwammen.

      Das Notquartier war überfüllt, ständig trafen Neuankömmlinge ein. Pawel schlang ausgehungert das Essen herunter. Allmählich fühlte er sich besser und verfolgte aufmerksam, was um ihn herum geschah. Während sich ein Pole und zwei Deutsche um den letzten freien Schlafplatz stritten, schnappte sich Pawel eine stockfleckige Matratze und eine Pferdedecke. Kurz darauf rollte er sich auf dem Boden zusammen und schloss die Augen. Die Stimmen und Geräusche verschwammen zu einem plätschernden Gemurmel. Im Lager hatte er sich angewöhnt, überall und zu jeder Zeit einschlafen zu können. Man wusste nie, wann die nächste Gelegenheit kam, eine Stunde oder gar eine ganze Nacht Erholung zu finden. Kaum hatte sein Kopf die Matratze berührt, war er auch schon eingeschlafen. Irgendwann in der Nacht weckten ihn leise Stimmen, denn ein Teil seines Unterbewusstseins befand sich in einem antrainierten Alarmzustand, um ihn jederzeit vor drohender Gefahr zu warnen.

      »Ich sage dir, es ist der sicherste Weg, über die Grenze zu kommen.« Die raue Männerstimme war kaum mehr als ein Flüstern.

      Jemand kicherte unterdrückt. »Wenn mir damals jemand prophezeit hätte, ich würde mich mal als Jude ausgeben, hätte ich ihn über den Haufen geschossen.«

      »Die Zeiten haben sich eben geändert. Ich habe Freunde in Bolivien. Doch zuerst müssen wir aus Deutschland raus.«

      »Und wie willst du das anstellen?«

      »In Zeilsheim haben die Amerikaner ein großes Lager eingerichtet. Dort warten Tausende auf ihre Ausreise. Die Drecksjuden erhalten jede Unterstützung, weil alle ein schlechtes Gewissen haben. Alles, was du brauchst, ist jemand, der bestätigt, dass du der bist, der du vorgibst zu sein. Dann bekommst du neue Ausweispapiere, Ausreisegenehmigungen und ein Einreisevisum nach Palästina.«

      »Was soll ich in Palästina?«

      »Es geht um eine neue Identität, du Hohlkopf. Wie willst du denn sonst über die Grenze kommen? Die Hacken zusammenknallen und dich als SS-Obersturmführer Mahlke vorstellen? Als Jude reist es sich entschieden besser. Wenn wir erst mal in Italien sind, besorgen wir uns in Genua eine Passage nach Südamerika.«

      Schlaftrunken lauschte Pawel dem Gespräch. Traumbilder vermischten sich mit der Wirklichkeit. Er sah Milena, die der alten Frau von dem Karren half, und Theissen, der seine Pistole zog. Er hörte die Schreie der Eingeschlossenen in der Scheune und roch ihr verkohltes Fleisch.

      Versprich mir, dass du uns rächen wirst.

      Mitschkes Kasernenhofstimme drängte sich in die Erinnerungen: Wir beschäftigen kein Diebsgesindel.

      Die Raubfische, die sich im großen Sammelbecken des Dritten Reichs vollgefressen hatten, schwammen wieder oben. Die Führungsriege, die in Nürnberg vor Gericht gestanden hatte, war lediglich die Spitze des Eisbergs gewesen. Viel zu viele der kleinen Fische dagegen gingen den Siegern durch die Netze. Typen wie Bolkow waren längst in der Menge untergetaucht und würden nie für ihre Taten bestraft werden. Es sei denn, Pawel nahm die Rache in die eigenen Hände und löste sein Versprechen ein.

      Er wälzte sich auf den Rücken und dachte lange nach. An die Theissens und Kaindls dieser Welt kam er nicht so einfach heran, denn sie saßen wieder in Positionen, wo er ihnen nichts anhaben konnte. Aber auf Mitschke traf das nicht zu. Er sollte stellvertretend für die anderen Mörder bezahlen. Pawel schloss die Augen und döste eine Weile. Er musste nur ein bisschen ausruhen, dann würde ihm schon ein Plan einfallen. Bald darauf schlief er ein und träumte von Vergeltung.

      Am Morgen schlang er seine karge Ration hinunter, dazu einen Viertelliter Ersatzkaffee. Er aß und schmiedete düstere Pläne. Danach verließ er die Notunterkunft. Er hatte nicht vor, hierher zurückzukehren, denn heute Nacht würde er sich von Mitschke holen, was er für ein menschenwürdiges Leben brauchte.

      Den Nachmittag verbrachte er in der Nähe des Bahnhofs. Die Anschlagtafeln waren ein beliebter Treffpunkt, sie ersetzten außerdem eine Tageszeitung. Man tauschte Neuigkeiten aus, handelte und knüpfte Verbindungen. Es kostete Pawel die letzten beiden Zigaretten, um mehr über das sogenannte DP-Camp in Zeilsheim zu erfahren. Die Amerikaner brachten dort displaced persons unter. Das waren hauptsächlich Juden, die das Land verlassen wollten, aber auch ehemalige KZ-Häftlinge und Flüchtlinge aus allen Teilen Europas. Über Mitschke erfuhr er ebenfalls mehr. Er traf einen Landsmann, den der Schrotthändler um seinen Lohn betrogen hatte. Pawel spendierte ihm einen Muckefuck, woraufhin der Pole ihm bereitwillig Auskunft gab. Mitschke hieß eigentlich Fischer. Es war ihm gelungen, unter Angabe eines falschen Namens aus einem Kriegsgefangenenlager entlassen zu werden. Nun besaß er neue Papiere und war rasch auf die Füße gefallen. Mitschke kaufte von den Amerikanern ausrangierte Jeeps, Panzerwagen und unbrauchbare Geschütze. Das Altmetall verhökerte er für Höchstpreise an deutsche Stahlkocher im Ruhrgebiet, die unter britischer Kontrolle standen. Binnen eines Jahres hatte er ein kleines Vermögen gemacht.

      Gegen Abend opferte Pawel einen Teil seiner schwindenden Barschaft, um sich eine Busfahrkarte zu kaufen. Es dämmerte bereits, als er in der Nähe des Schrottplatzes aus dem Bus stieg. Er besaß ein gutes Gedächtnis und prägte sich die Lage des weitläufigen Grundstücks ein. Eine mannshohe Mauer, unterbrochen von einem stabilen Stahltor, durch das er gestern den Hof betreten hatte, schützte das Gelände zur Straße hin vor Schrottdieben. Der hintere Teil grenzte an eine Bahntrasse und war von einem Maschendrahtzaun umgeben. Der Anblick des Stacheldrahts auf der Zaunkrone ließ Pawel unwillkürlich an Sachsenhausen denken.

      Geduldig schritt er Zaun und Mauer ab und fand schließlich ein Schlupfloch, durch das er ins Innere gelangte. Er wartete, bis es dunkel geworden war. Mit der Nacht kehrte die beißende Kälte zurück. Diesmal machte sie Pawel nichts aus, denn er hatte ein Ziel vor Augen. Die erregende Aussicht, Mitschke für seine Verbrechen bezahlen zu lassen, die er unweigerlich als SS-Offizier begangen hatte, ließ ihn alles andere vergessen. Er wusste nicht genau, wie er das Versprechen einlösen sollte, das er seinem Vater gegeben hatte, aber das spielte in seinem Denken keine Rolle. Endlich tat er etwas, und das genügte.

      Pawel verharrte in der Finsternis, bis im ersten Stock des schmucklosen Bürogebäudes neben der Werkshalle das Licht ausging. Er löste sich aus dem Schatten eines ausgebrannten Sherman-Panzers und verschmolz mit der Nacht. Als er sich dem Haus näherte, dachte er an das Hundegebell, das er am Tag zuvor gehört hatte. Er lauschte eine Weile, diesmal blieb alles ruhig.

      Der Hof wurde von vier Bogenlampen schwach erhellt. Am Rande ihrer Lichtkegel schlich Pawel auf die Tür zu, durch die der Schrotthändler gestern herausgekommen war. Überall lagen ausrangierte Maschinenteile, Eisenbahnschienen und rostige Überbleibsel der Wehrmacht herum. Pawel zog ein stabiles Rohr aus einem Stapel Schrott, das an einem Ende wie ein Brecheisen geformt war, und hebelte das einfache Schloss der Blechtür auf. Dann schlüpfte er ins Haus und wartete, bis sich sein rasender Herzschlag beruhigt hatte.

      Vor ihm lag ein Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Bereits das erste Zimmer entpuppte sich als Mitschkes Büro. Durch das Fenster fiel das fahle Licht der Bogenlampen und enthüllte Aktenschränke, einen wuchtigen Schreibtisch und zwei Stühle. Pawel begann, den Raum systematisch zu durchsuchen. Hinter einem hässlichen Ölgemälde stieß er auf einen Wandtresor, dem er jedoch mit dem improvisierten