Hannelore Kowalski.
Als Hannah die weiße Fassade des I.G.-Farben-Hauses vor sich sah, konnte sie sich nicht erinnern, wie sie hierhergelangt war. Die Begegnung mit dem Betrunkenen und der Frau, die sie jahrelang gequält hatte, wühlte sie mehr auf, als sie zugeben wollte. Sie wies sich am Kontrollpunkt der Sperrzone aus und hastete die Flure des Hauptquartiers der amerikanischen Streitkräfte entlang. Ohne anzuklopfen, stieß sie die Tür zu Scotts Büro auf.
Besorgt blickte er sie an. »Darling, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Nicht eins, sondern gleich zwei.«
Er kam um den Schreibtisch herum, drückte sie sanft an sich und küsste sie auf die Wange. Seine warmen braunen Augen, das schmale Gesicht und die vertraute Nähe ließen Hannahs Anspannung abklingen. In seiner Gegenwart brauchte sie sich nicht zu verstellen und konnte sich fallen lassen, ganz sie selbst sein. Sanft fuhr sie durch sein dunkelblondes Haar.
»Ach Scott, manchmal glaube ich, es wird niemals enden. Sie sind überall.«
»Du bist blass wie der Mond. Was ist passiert? Erzähl!«
Sie streifte die Fliegerjacke ab, ließ sich in einen Sessel fallen und berichtete von ihren Begegnungen. Scott setzte sich auf die Kante des Schreibtischs und blickte gedankenverloren auf die zerstörte Stadt hinaus.
»Diese Verbrecher haben sich nicht in Luft aufgelöst, nur weil ihr den Krieg verloren habt. Es waren nicht nur die Görings und Himmlers, sondern vor allem die Meiers und Schmidts, die mitgemacht haben. Sorry, ich fürchte, es werden uns viele – wie sagt man in German? – durch die Lappen gehen.«
»Dann sollen wir die Mörder laufen lassen?«
»Nein, natürlich nicht. Think positive. Wir haben viel erreicht. Seit Dezember stehen die Organisatoren der Euthanasieverbrechen vor Gericht, unter ihnen Brandt und Victor Brack.«
»So viele von ihnen laufen frei herum.« Hannah sprang erregt auf. »Und was machen wir? Akten wälzen und sortieren! Es dauert alles viel zu lange. Inzwischen sind die meisten untergetaucht. Wir haben weder Heyde noch Eberl erwischt.«
»Aber Wahlmann und Gorgaß«, warf Scott ein. »Die anderen kriegen wir auch noch.«
Während er sie prüfend betrachtete, bildete sich über seiner Nasenwurzel eine senkrechte Falte. Ein sicheres Zeichen, dass ihm etwas missfiel oder Sorgen bereitete. So gut kenne ich ihn inzwischen, dachte Hannah.
»Du arbeitest zu viel«, fuhr er fort. »Es gibt mehr Dinge im Leben als die Jagd nach Kriegsverbrechern.«
»Was könnte wohl wichtiger sein, als den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen?«
»Wir beide. Wir sollten heute Abend ausgehen. Du brauchst ein bisschen Entertainment, etwas Ablenkung. Was meinst du?«
Hannah lief erregt auf und ab. Sie nahm Scotts Einladung kaum wahr, zu sehr war sie mit dem Erlebten beschäftigt.
»Paul Schiese ist noch immer Direktor in der Herborner Anstalt.« Das Werbeschild der Arztpraxis drängte sich vor ihr inneres Auge: Dr. med. Moor, Allgemeinmediziner.
»Moor war der Vorgesetzte der Kowalski. Sie arbeitet für ihn. Er betreibt ganz offiziell eine Praxis in Frankfurt! Das können wir nicht zulassen, wir müssen ihn sofort verhaften.«
»Darling.«
Sie schnappte sich ihre Jacke. »Komm. Wir werden ihm einen kleinen Besuch abstatten.«
»Warte, Hannah.«
Sie sah ihn irritiert an. »Was hast du?«
»Setz dich.«
Eine dunkle Vorahnung beschlich sie. »Du wusstest von Moor«, sagte sie.
»Ich wollte es dir die ganze Zeit schon sagen, aber du schienst mir nicht bereit dafür zu sein. Du bist so … fanatic. Hannah, du darfst nicht deine gesamte Zeit mit der Jagd nach Kriegsverbrechern verbringen. Es gibt so viel, was du nicht gesehen hast, so viel zu erleben. Vergiss die damned Nazis.«
»Rede nicht um den heißen Brei herum. Was willst du mir sagen, Scott?«
Er setzte sich hinter den Schreibtisch, zündete sich eine Chesterfield an und schaukelte auf dem Drehstuhl. »Die Administration beabsichtigt, die Verfolgung von Kriegsverbrechern in die Hände der deutschen Staatsanwaltschaften zu legen. Sehr bald schon.«
»Das könnt ihr nicht machen. In vielen Behörden sitzen dieselben Richter und Staatsanwälte, die im Dritten Reich ein Unrechtsurteil nach dem anderen gefällt haben.«
»Es gibt sie, that’s right.«
»Die Täter sollen also nach ihresgleichen fahnden? Ist es das, was die Amerikaner wollen?«
»Hannah, das ist nicht so einfach. Wir sind im CIC völlig überlastet und haben viel zu wenig Personal. Wir brauchen die Hilfe der Deutschen. Irgendwann müsst ihr die Dinge sowieso alleine regeln.«
»Ich kann es nicht glauben. Ihr zieht den Schwanz ein.«
»Es ist bereits beschlossen. Unsere Abteilung wird aufgelöst.«
»Und Moor?«
Scott rieb sich das glatt rasierte Kinn. »Es ist … complicated. Ja, ich weiß von Moor. Er steht auf der Fahndungsliste. Ich habe Anweisung, ihn in Ruhe zu lassen.«
»Warum?«
»Es gibt kaum Ärzte in Frankfurt, wir brauchen ihn. Die Deutschen brauchen ihn.«
Darum darf die Kowalski mit den Roundup-Linien fahren, dachte Hannah. »Die Amerikaner dulden also, dass ein T4-Gutachterarzt, der für Dutzende Krankenmorde verantwortlich ist, eine Praxis mitten in Frankfurt betreibt.«
Scott seufzte. »That’s right.«
Sie drehte ihm den Rücken zu und sah aus dem Fenster. Über der Landschaft lag ein feiner Schleier aus Raureif. Sie konnte spüren, wie die Kälte durch die Scheibe kroch.
»Dann war unsere Arbeit der vergangenen anderthalb Jahre umsonst«, sagte sie.
»Oh no. Wir hatten viele Erfolge. In Nürnberg sind die Hauptverbrecher vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Vergiss das nicht.«
»Und all die kleinen Nazis, die unbehelligt bleiben? Sollen die Opfer Tür an Tür mit den Tätern leben?«
»Wir haben die Spruchkammern eingerichtet«, antwortete Scott. »Jeder kann dort Verdächtige melden, Mitglieder der SS und …«
Hannah wandte sich abrupt um. »Es gibt kaum Anklagen und noch weniger Verurteilungen. Sie entlasten sich gegenseitig. Hilf du mir, dann helfe ich dir. Weißt du, wie man die Entnazifizierungsdokumente inzwischen nennt?«
»Nein.«
»Persilscheine«, sagte sie, »der eine wäscht den anderen rein und weiß. Eine saubere neue Gesellschaft haben wir da geschaffen.«
Scott drückte seine Zigarette aus, trat hinter Hannah und massierte ihre angespannten Nackenmuskeln.
»Komm mit mir in die Staaten. Wir könnten dort ein neues Leben beginnen. Ohne Nazis und abscheuliche Verbrechen.«
Sie wandte sich um. »Du gehst zurück in die USA?«
Noch vor einem Augenblick war sie zornig auf ihn gewesen, nun hatte sie Angst, ihn zu verlieren.
»Yes. Für mich ist der Krieg vorbei. Ich habe eine Stelle bei der Army an der Ostküste angenommen – ein guter, ruhiger Posten.« Er lächelte. »Boston ist meine Heimatstadt. Sie wird dir gefallen, das Klima ist so ähnlich wie in Deutschland. Du liebst doch die Natur so sehr. Das Meer liegt vor der Haustür und im Herbst verzaubert der Indian Summer die Wälder.«
Ihr Herz klopfte schneller. Es war verlockend, die Trümmerwüste hinter sich zu lassen. Sie hatte keine Familie, die sie vermissen würde, höchstens Ruth. Doch von ihr hatte sie seit Monaten nichts gehört; und Joschi, der alte Freund ihrer Mutter und ihr stummer Beschützer während all der Jahre, war tot.