Volker Dützer

Die Ungerächten


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hatten. Hannah zog die Fliegerjacke enger um ihre Schultern und hörte das Papier in der Innentasche knistern. Trotz ihrer düsteren Stimmung musste sie unwillkürlich lächeln. Fast schämte sie sich wegen ihrer trübseligen Laune, denn die vergangenen Tage waren mit freudigen und aufregenden Ereignissen angefüllt gewesen. Sie zog die CPL aus der Tasche und strich sie glatt. Die internationale Commercial Pilot Licence war auf ihren Namen ausgestellt und trug das Datum vom 7. März 1947 – ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Irgendwie hatte Scott es geschafft, die Flugprüfung auf genau diesen Tag zu legen. All ihre Träume hatten sich erfüllt. Sie besaß nun die Erlaubnis, Flugzeuge bis zur Größe einer Junkers 52 zu fliegen. Und damit nicht genug, sie war die einzige Frau, der diese Ehre im Nachkriegsdeutschland bisher zuteilgeworden war. Deutlich erinnerte sie sich an die im Sonnenlicht blitzende Douglas DC-2, an die strengen Blicke des Prüfers und ihre schweißnassen Hände in den ledernen Fliegerhandschuhen, als sie die Maschine getrimmt und die Motoren gestartet hatte. Scott hatte sie als Navigator begleitet.

      Eine Stunde später besaß sie eine Pilotenlizenz. Das Mädchen, das in den Wolken nach Bildern gesucht hatte, war erwachsen geworden und erlebte, wie sein Traum Wirklichkeit wurde. Der einzige Wermutstropfen war die Tatsache, dass bislang kein Deutscher die Erlaubnis erhielt, ein Flugzeug zu besitzen oder gar zu fliegen. Nur ausländische Fluggesellschaften wie die Pan American World Airways durften die Flughäfen in Frankfurt und Berlin ansteuern. Wenn sie als Pilotin arbeiten wollte, musste sie darauf hoffen, eine Anstellung bei einer dieser Gesellschaften zu ergattern. Scott hatte bereits versucht, ihr schonend beizubringen, dass die Aussichten dafür schlecht standen. Trotzdem hatte er ihr die Ausbildung bei der US-Army ermöglicht. Noch war ihr nicht ganz klar, warum er das getan hatte, aber er dachte eben praktisch. Vielleicht hatte er bereits einen Plan, mit dem er sie überraschen wollte.

      Scott Young arbeitete für den CIC, einen amerikanischen Geheimdienst, dessen Hauptaufgabe in Europa darin bestand, Kriegsverbrecher aufzuspüren. Hannah dachte daran, wie sie Scott im Klingelpütz, dem Kölner Gefängnis, kennengelernt hatte. Wäre sie ihm nicht begegnet, würde sie noch immer eine Haftstrafe wegen Schieberei, Dokumentenfälschung und Schwarzmarkthandel absitzen. Scott hatte sie es auch zu verdanken, dass sie die Gelegenheit erhielt, den Gutachterärzten der Aktion T4 und dem untergetauchten Personal der Tötungsanstalten nachzujagen.

      Sie hatte fast zwei Jahre in verschiedenen Anstalten verbringen müssen und mit knapper Not überlebt, und sie kannte die Namen und Gesichter vieler Täter. Deshalb hatte Scott ihre Freilassung aus der Haft erwirkt. Seitdem half sie ihm, nach Ärzten und Pflegern der Mordanstalten zu fahnden. Den einen oder anderen hatten sie erwischt, viele waren jedoch auf freiem Fuß und machten unter falschen Namen bereits wieder Karriere.

      Als Zivilangestellte der US-Army kam sie in den Genuss, die als Roundup bezeichnete Straßenbahnlinie 13 benutzen zu dürfen, die vom Bahnhof durch das Sperrgebiet zum Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte im I.G.-Farben-Haus führte. So brauchte sie nicht jeden Morgen zu Fuß den Weg durch die zerstörte Innenstadt zurückzulegen.

      Hannah schob die Pilotenlizenz in ihre Jacke und blickte in Gedanken versunken hinaus. Vor den Fenstern zogen Schuttberge und ausgebombte Häuser vorbei. Frankfurt glich einem gigantischen Trümmerhaufen, in dem in Lumpen gehüllte Gestalten nach allem suchten, was ihr Überleben sicherte. Es würden Jahre vergehen, bis die Stadt zur alten Blüte zurückfand. Ob es überhaupt jemals gelingen würde?

      Die Bahn drosselte das Tempo und stoppte an der Haltestelle Palmengarten. Die Türen öffneten sich, kalte Luft strömte ins Innere. Drei neue Fahrgäste stiegen ein.

      Eine Frau mit hagerem Gesicht und verkniffenen Lippen ging durch den Mittelgang und setzte sich auf einen freien Platz. Hannah betrachtete sie flüchtig, ihre Gedanken weilten weit weg auf einer Wiese an einem Vorfrühlingstag des Jahres 1945. Sie schloss die Augen und sah Hans vor sich, die Grübchen, die sich an seinem Kinn bildeten, wenn er lachte, und seine Augen, die mit dem Himmel um das schönste Blau wetteiferten.

      Hannah schüttelte die Erinnerungen ab, denn sie waren zu schmerzhaft. Sie bemerkte, dass die Frau ihren Hut abgenommen hatte. Eine eisige Klaue krallte sich um Hannahs Herz, eine lange verdrängte, alles verzehrende Furcht stieg in ihr hoch. Sie starrte gebannt auf das knochige Profil mit der Geiernase und dem Hexenkinn und wartete, bis die Frau ihr das Gesicht zuwandte. Hannah kannte sie. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, an diesem Morgen in der Straßenbahn einer Toten zu begegnen.

      3

      Die Frau sah durch Hannah hindurch und schien sie nicht wahrzunehmen. Sie trug einen beigefarbenen, elegant geschnittenen Wintermantel, dazu passende Stiefel aus braunem Leder. Sie hieß Hannelore Kowalski, geboren am 23. September 1895 in Gießen. Vom 1. Januar 1938 bis zum 31. Dezember 1944 hatte sie als leitende Oberschwester in der Zwischenanstalt Herborn gearbeitet. Ihr Vorgesetzter war Dr. Herbert Moor gewesen. Ruths Schwester Thea hatte ihn Dr. Schnipp-Schnapp genannt, weil er die Zwangssterilisationen durchführte. Er stand auf der Fahndungsliste des CIC, galt jedoch als unauffindbar.

      Sie hatte die Oberschwester mit den knochigen Wangen und der Hakennase, die ihr den Spitznamen der Geier eingebracht hatten, sofort wiedererkannt. Daran änderten auch die modische Kleidung und die dezente Schminke nichts. Hannelore Kowalski mochte sich gehäutet haben, unter der neuen Haut steckte dieselbe alte Giftschlange.

      Hannah war inzwischen zu einer selbstbewussten jungen Frau herangereift, die sich vor niemandem fürchtete. In Gegenwart der verhassten Oberschwester kehrte jedoch die Todesangst zurück, die während des Aufenthalts in den Tötungsanstalten in Herborn und Hadamar ihr ständiger Begleiter gewesen war. Jeder Tag hätte der letzte sein können, wenn Ärzte wie Moor und seine gefühlskalten Helfer es so beschlossen. Hannah hatte in ihrer Kindheit unter einer leichten Form von Epilepsie gelitten, im Lauf der Jahre jedoch waren die Anfälle seltener geworden und hatten schließlich ganz aufgehört. Beim Anblick der ehemaligen Oberschwester spürte sie zum ersten Mal seit langer Zeit die vertraute Dunkelheit kommen, die einem epileptischen Anfall voranging. Ihr Puls beschleunigte sich und ihr Blickfeld verengte sich zu einem immer schneller kreisenden Tunnel. Erschrocken kämpfte sie gegen die heranrasende Finsternis an, in der winzige Blitze zuckten.

      Lange verdrängte Bilder tauchten vor ihren Augen auf: das kleine Mädchen, dessen Beine zu kurz waren, um in den grauen Bus steigen zu können. Der kleine Ralfi, der sich ängstlich an Hannah geklammert und vier Wochen später tot im Keller der Anstalt gelegen hatte … und die Puppe. Als die Kowalski das Mädchen hochgerissen und in den Bus gestoßen hatte, hatte es die Puppe verloren, eine einfache Puppe mit Armen und Beinen aus gedrehten Hanffasern und kreuzförmig aufgestickten Augen. Das Kind war längst tot, die Puppe besaß Hannah noch heute.

      Wie hypnotisiert starrte sie auf das Profil der früheren Oberschwester, die die Transporte in die Tötungsanstalten zusammengestellt hatte. Hannahs Wangen brannten, als lägen die Schläge, mit denen die Frau sie gequält hatte, nicht Jahre, sondern nur Minuten zurück.

      Die Kowalski hatte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche geholt, musterte kritisch ihre Reflexion und schraubte die Kappe von einem Lippenstift. Die Geste war so alltäglich und harmlos, dass sie auf eine plumpe Weise entwaffnend wirkte. Selbst Hannah vergaß beinahe, dass die Oberschwester Hunderte Unschuldige in den Tod geschickt hatte.

      Sie rief sich die Einzelheiten der Akte ins Gedächtnis, die sie vor einer knappen Woche bearbeitet hatte. Laut Zeugenaussagen war Hannelore Kowalski im Frühjahr 1944 von Herborn in die Anstalt Grafeneck gewechselt und dort an den sogenannten »Abspritzungen« beteiligt gewesen. Sie hatte Dutzende Menschen mit geistiger Beeinträchtigung eigenhändig mit Scopolamin getötet.

      Im Gegensatz zu Moor war Hannelore Kowalski von der Fahndungsliste gestrichen worden, weil ihr Mann sie vor einem Monat für tot hatte erklären lassen. Offiziell wurde sie seit einem Bombenangriff auf Gießen im Frühjahr 1945 vermisst. Nun saß sie quicklebendig in der Straßenbahn und zog ihren Lippenstift nach. Offenbar fühlte sie sich völlig sicher. Da sie die Linie 13 benutzte, musste sie gute Verbindungen zu den Amerikanern besitzen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, schien es ihr finanziell gut zu gehen.

      Während Hannah sich von ihrem Schock erholte und darüber nachdachte, wie sie vorgehen sollte, stoppte die Bahn an der nächsten Haltestelle.