noch hatte sie die Befugnis, jemanden festzunehmen. Ihre Aufgabe bestand darin, Listen mit dem Personal der Tötungsanstalten zu erstellen und belastendes Material zu sammeln, das in einem Prozess verwendet werden konnte. Trotzdem musste sie etwas unternehmen. Wenn sie den Geier aus den Augen verlor, würde sie die Frau vermutlich nicht wieder aufspüren können.
Die Türen glitten auseinander, Hannelore Kowalski stieg aus. Hannah folgte ihr in einigem Abstand, vorbei an ausgebombten Mietshäusern und Trümmergrundstücken. Gigantische Schuttberge versperrten ganze Straßenzüge. Hannah nutzte herabgestürzte Mauern und Stapel aufgetürmter Ziegel als Deckung.
Die ehemalige Oberschwester ging über Nebenstraßen nach Osten und überquerte den Börneplatz. Hannah wartete, bis sie die andere Seite erreicht hatte, und eilte an den Ruinen der Synagoge vorbei. Vor vielen Jahren war sie hier Opfer eines bösen Streichs geworden. An jenem Tag hatte ihr Leben eine unheilvolle Wendung genommen. Ob es heute noch mal geschehen würde?
Sie kam an einer Parole vorbei, die an eine Hauswand geschmiert worden war. Seit ein paar Wochen tauchten sie überall auf.
Wir wurden ermordet! Rächt uns! Gedenkt unser!
Auch an den Grundmauerresten der Synagoge leuchteten die Buchstaben blutrot als Erinnerung an die Toten und Mahnung an die Lebenden. Manche behaupteten, sie wären tatsächlich mit Blut geschrieben worden.
Hannelore Kowalski nahm von den stummen Anklagen offenbar keine Notiz, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte. Nach dreihundert Metern bog sie in eine Nebenstraße ein, die zu dem Haus führte, in dem Hannah und ihre Mutter gewohnt hatten, bevor die Nazis ihr Leben zerstörten. Im Erdgeschoss hatte sich Malishas kleiner Schneiderladen befunden.
Neben einer Litfaßsäule blieb die Kowalski kurz stehen und blickte sich misstrauisch um. Hatte sie bemerkt, dass ihr jemand folgte? Hannah drückte sich in einen Hauseingang und wartete.
Als die Frau weiterging, wagte sich Hannah aus ihrem Versteck und lief los, alles um sich herum vergessend außer der hageren Gestalt. Sie stieß mit einem alten Mann zusammen, der bei der Kollision zu Boden stürzte.
»Kannste nicht aufpassen, Mädchen? Einen alten Mann einfach umzurennen! Wo gibt’s denn so was?«
»Entschuldigung. Warten Sie, ich helfe Ihnen auf.«
Hannah beugte sich über den Alten und versuchte, die Kowalski nicht aus den Augen zu verlieren. Der Geier strebte eilig einem Torweg entgegen, der zu einem Hinterhof führte. An der Mauer hing ein weißes Schild mit der Aufschrift: Dr. med. Moor, Allgemeinmediziner.
Ihr Herz drohte zu zerspringen. Die Kowalski und Moor standen in Kontakt! Die Oberschwester hatte sie, ohne es zu ahnen, auf direktem Weg zu Dr. Schnipp-Schnapp geführt. Eilig zerrte sie am Arm des alten Mannes.
»Nich so hastig. Ein bisschen Geduld mit den morschen Knochen.«
Er stützte sich schwer auf ihre Schulter, fluchte lästerlich und kam unbeholfen auf die Beine. Sein Atem stank nach billigem Fusel.
»Da, sieh nur, was du angerichtet hast!«
Seine Drillichhose war an den Knien durchnässt und schmutzig, auf seiner fadenscheinigen Jacke breitete sich ein Fleck aus, es roch nach Schnaps. Er griff in die Tasche und zuckte zusammen. Von der Spitze seines Mittelfingers tropfte Blut. Offenbar war eine Flasche in seiner Jackentasche bei dem Sturz zerbrochen. Er begann zu jammern.
»Bis zum Schwarzmarkt aufm Römer bin ich gelaufen und jetzt isse kaputt!«
Hannah achtete kaum auf ihn und hielt Ausschau nach der ehemaligen Oberschwester. Sie war verschwunden. Der Mann packte indessen Hannahs Oberarm und schüttelte sie.
»Schau dir an, was se aus mir gemacht haben. Meine schöne Uniform ham se mir genommen.« Er presste verbittert die Lippen zusammen. »’ne feine Gegend war das … vorm Krieg.«
»Lassen Sie mich los!«
Er krallte seine knochigen Finger fester in das Leder ihrer Fliegerjacke.
»’ne feine Gegend. Und ich hab für Ordnung gesorgt. Da hat keiner ’nen armen Mann umgerannt. Siehste den Laden dahinten? Mit den Brettern vor dem Schaufenster?«
»Sie tun mir weh!«
Hannah befreite sich entschieden aus seinem Griff. Der Alte strauchelte und wäre beinahe erneut gestürzt. Er grinste und deutete auf die Durchfahrt zu einem Hinterhof.
»Da haben wir mit dem Pack richtig aufgeräumt … damals. Das waren noch Zeiten.«
Hannah erschrak. Der Alte sprach nicht von irgendeinem Laden, sondern vom Geschäft ihrer Mutter. Der Laden … Malisha, die sich verzweifelt wehrte, Lubeck und die scharfe Schneiderschere in Hannahs Hand. Plötzlich war alles voller Blut gewesen.
»Wie … wie meinen Sie das? Sie haben aufgeräumt?«, fragte sie.
Der Mann richtete sich kerzengerade auf und reckte das Kinn vor.
»November ’38 war das. Da haben wir’s dem Judenpack gezeigt. Mit eisernem Besen haben wir gekehrt, jawoll! Wir Polizisten hatten ja Anweisung, uns rauszuhalten. Aber ich hab trotzdem mitgemischt.« Er machte ein paar unsichere Schritte auf den Laden zu. »Und was hat es genutzt? Das deutsche Volk war es nicht wert. Ein Haufen Schwächlinge, der sich bei den Amerikanern anbiedert.«
Hannah starrte den Alten an. Nun glaubte sie tatsächlich, ihn zu kennen. Ja, er war es. Der Name wollte ihr nicht mehr einfallen, doch das Gesicht erschien ihr auf einmal vertraut. Er war älter geworden, war abgemagert und ungepflegt, darum hatte sie ihn nicht gleich erkannt. Sie sah ihn vor sich, wie er in seiner stramm sitzenden Polizeiuniform die Straße auf und ab patrouillierte und Malisha mit geilen Blicken begaffte. Wenn der Wachtmeister im Torweg zum Hinterhof aufgetaucht war und die Judenkinder verjagte, hatte sie sich zu Tode gefürchtet. Jahre später hatte sie ihn in der Reichskristallnacht vom Fenster der Wohnung im ersten Stock aus beobachtet. Mitgerissen von der Gewalt hatte er das Schaufenster des Schneiderladens zerschlagen und dabei triumphierend gegrölt, sein Gesicht vor Wut verzerrt. Hannah würde den 9. November 1938 niemals vergessen. Zum ersten Mal hatte sie geahnt, was die Zukunft für sie bereithielt. In jener Nacht hatte ihre Kindheit abrupt geendet, die Zeit des Spiels war für immer vorbei gewesen. Was folgte, waren Jahre des Grauens.
»Dreckiges Judenpack«, murmelte der Alte.
Erst die Kowalski und nun der Albtraumwachtmeister ihrer Kindheit. Sie waren überall. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs waren die Hakenkreuzflaggen und SS-Uniformen verschwunden, doch die Männer, die sie getragen hatten, waren noch da. Wie Wölfe im Schafspelz leben sie unter uns, dachte Hannah. Und in ihren Köpfen ist der braune Spuk gegenwärtig, als wäre er nie weg gewesen.
»Hätten wir sie nur alle totgeschlagen, sage ich. Dann könnten sie jetzt keine Lügen über uns anständige Deutsche verbreiten. Wir …«
»Halten Sie den Mund.«
»Hä?«, machte er.
»Ich weiß, wer Sie sind. Glauben Sie etwa, ich hätte Sie vergessen?«
Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. »Biste etwa auch eine von denen?«
Hannah erinnerte sich an sein aufgesetztes Imponiergehabe, an den eitlen Stolz, mit dem er die Uniform getragen hatte, in die sie Dummköpfe wie ihn gesteckt hatten.
»Nehmen Sie gefälligst Haltung an, Mensch!«, ahmte sie sein Gebrüll von damals nach. »Zeigen Sie mal Ihren Entnazifizierungsbescheid! Sie haben keinen? Dann wird’s Zeit, dass wir uns mal mit Ihnen beschäftigen.«
Er atmete schwer und glotzte sie böse aus blutunterlaufenen Augen an. Sie machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, aufgebracht darüber, dass sie wegen ihm die Spur der Kowalski verloren hatte.
»Hauen Sie ab! Wird’s bald?«
Er wischte sich über den Mund, spuckte auf das Pflaster und trollte sich. Hannah sehnte sich nach Scotts Umarmung, nach jemandem, der sie festhielt und ihr versicherte, dass alles gut werden würde. Ihr war schwindelig. Die gefürchtete Dunkelheit lauerte an