Maria Stich

Tübinger Fieberwahn


Скачать книгу

auf. Da schlug ein Gegenstand neben Julias Schulter im Wasser auf. Sie ruderte erstaunt zur Seite, als sie einen Deckenstrahler erkannte.

      Im nächsten Augenblick brach ein Inferno an Geräuschen los. Unter lautem Knirschen lösten sich Teile der Decke und stürzten herunter. Das Wasser schwappte in großen Wellen aus dem Becken.

      »Markus!«, brüllte Julia voller Entsetzen. Der junge Mann schwamm verzweifelt auf sie zu. Im gleichen Moment wurde er von einem herabfallenden Balken am Kopf getroffen. Julia konnte sehen, wie sich sein Mund zu einem Schrei öffnete. Dann versank er in den brodelnden Fluten. Das Deckenlicht flackerte und erlosch dann vollständig. Jetzt erhellte nur noch der diffuse Schein der Unterwasserbeleuchtung die riesige Halle.

      Julia begann zu kreischen und bekam eine Ladung Wasser in den Mund. Die Stelle, an der Markus untergegangen war, färbte sich blutrot.

      »Markus!«, keuchte Julia. Aber ihre Stimme ging in den Geräuschen der herabfallenden Putzteile und Holzbalken unter. Ein weiterer Strahler löste sich aus der Hallendecke und traf Julias Schulter. Ohne auf den Schmerz und die blutende Wunde zu achten, holte Julia tief Luft und tauchte unter. Verzweifelt versuchte sie, den Körper von Markus zu orten.

      Aber Staub und Blut hatten das Wasser in eine trübe Brühe verwandelt. Julia tauchte, tastete, schrie, strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht, spuckte Wasser. Sie spürte ihren rechten Arm nicht mehr.

      Steine, Gips, Schneebrocken und Holzteile flogen wie Geschosse durch den Raum. Wie durch ein Wunder bekam Julia schließlich den Arm ihres Freundes zu fassen. Sie schnappte keuchend nach Luft und versuchte, den leblosen Körper an die Wasseroberfläche zu ziehen.

      Das rot leuchtende Display der Digitaluhr an der Wand war immer noch intakt und sprang auf 00.05 Uhr. Dann riss ein herabfallender Balken die Uhr von der Wand. Sie krachte auf einen Startblock und zersplitterte in unzählige Einzelteile, die in einem Funkenregen ins aufgewühlte Wasser prasselten.

      Danach wurde es still. Zwischen den Trümmern trieben zwei leblose Körper im blutigen Wasser.

      Wie in Zeitlupe löste sich die restliche Deckenverschalung und fiel fast lautlos herab. Dann brachen die Dachsparren. Das tonnenschwere Material krachte in einer Staublawine mit einem gewaltigen Getöse herunter und bedeckte schließlich wie ein Leichentuch das Becken und den Boden.

      Celine Dion sang:

      »Near, far, wherever you are,

      I believe that the heart does go on,

      once more you open the door,

      and you’re here in my heart,

      and my heart will go on and on!«

      Die Soundanlage und einige Lautsprecher in den Wänden waren durch eine Laune des Schicksals von den Trümmermassen verschont geblieben. Gespenstisch tanzten die Schneeflocken zu den Klängen.

      Die Unterwasserleuchten flackerten und erhellten das trübe Wasser noch für einen kurzen Moment, bevor sie endgültig erloschen.

      Der Himmel mit den dunklen Schneewolken spannte sich über einem gigantischen Loch, wo bis vor einigen Minuten noch die Decke des Hallenbades gewesen war. Schnee wirbelte herab und bedeckte die Trümmerteile mit einem weißen Schleier. Ein Knistern lag in der Luft und immer noch fielen Mauerbrocken und Holzteile herab.

      Erste Sirenen waren in der Ferne zu hören.

      Der große Aufmacher im »Tübinger Tagblatt« am 16.2.2013 lautete:

      Spaceshuttle abgestürzt

      In der Nacht zum Samstag stürzte das Dach des neu errichteten Hallenbads Ost in sich zusammen.

      Die Schülerin Julia O., gerade 18 Jahre, und der Facility-Manager Markus G., 22 Jahre, konnten bis jetzt als die einzigen Opfer geborgen werden. Sie wurden unter den Trümmern im Becken begraben. Nach Angaben des Einsatzleiters lagen sie sich, im Tod vereint wie durch eine tröstliche Fügung, in den Armen.

      Genauere Ursachen des tragischen Unfalls sind noch nicht bekannt. Experten vermuten, dass die extreme Schneelast das Dach zum Einsturz brachte.

      Schwer atmend, aber mit zufriedenem Gesichtsausdruck stieg Wotan Wilde vom Rad. Er trug eine rote Outdoorjacke über einem schwarzes Funktionshemd und schwarze Radlerhosen mit den drei Streifen auf der Seite.

      Seine grünen Kniestrümpfe, die etwas altbacken wirkten, steckten in schwarzen Shimano Bikerschuhen. Der drahtige Mann lehnte sein Fahrrad gegen einen Laternenpfahl vor dem vierstöckigen blauen Gebäude Am Alten Güterbahnhof 17. Die schwarze Eingangstür stand offen und war mit einem Türkeil fixiert. Der Radfahrer nahm den neongelben Fahrradhelm ab und hängte ihn an den Lenker.

      Ein böiger Windstoß traf ihn von hinten und ließ seinen schweißbedeckten Körper kurz erschaudern. Für Mai war es ungemütlich kalt, fuhr es ihm durch den Kopf.

      In sieben Minuten war er von der Linsenbergstraße 45, seiner alten Wohnung, bis hierher zu seiner neuen Adresse in dem Mehrfamilienhaus geradelt. Das war sein persönlicher Rekord. Er lächelte zufrieden, für seine 46 Jahre war er immer noch ganz gut in Form.

      Wotan Wilde fuhr kein E-Bike. Er setzte auf Muskelkraft und benutzte immer noch das alte Rennrad aus Studentenzeiten. Es war zwar schon etwas ramponiert, hatte ihn aber bis jetzt überall hingebracht.

      Wilde blickte auf die letzte Strecke des Weges zurück, den er gerade gekommen war. Der Radweg führte an dem neuen Wohnviertel entlang, das in den letzten Jahren neben der Bahnlinie Tübingen-Stuttgart entstanden war. Er verschwand in der Unterführung der Blauen Brücke, die über die Bahngleise führte.

      Auf der Brücke glaubte er den Umzugswagen mit der Aufschrift »Umzüge Federleicht – Ihr regionales Umzugsunternehmen in Tübingen« zu sehen. Er stand hinter einem Stadtbus im Stau. War das nicht Panagiotis Treggelidis, der Inhaber, mit seiner karierten Schirmmütze, der am Steuer saß?

      Der Fuhrunternehmer mit griechischen Wurzeln sprach reinstes Schwäbisch und wurde von seinem Bruder Aristos Treggelidis und einem Studenten mit Dreadlocks unterstützt.

      »Heilix Blechle, am 9. Mai wollet Se umziehe? Des isch aber scho in drei Wocha. Ob i da no a Terminle frei hab, wois i it. Warum habet Se si ned eher gmeldet?«, hatte der Umzugsunternehmer auf Wotans telefonische Anfrage gesagt.

      Der hat guad schwätze, der Panagiotis Treggelidingsda, hatte Wilde damals leicht verzweifelt gedacht. Wie hätte er denn ahnen können, dass seine Angetraute, die liebe Siegrun, ihn einfach so verlassen würde.

      Sie betrieb bei Instagram einen Reiseblog, während er sich die Nächte im Kommissariat um die Ohren schlug, und führte seiner Meinung nach ein ruhiges, sorgloses Leben.

      Er konnte es noch immer nicht glauben. Der Schmerz saß tief. Ihre »Handgschabten« und den »Ofenschlupfer« würde er vermissen. Sie weniger, wie er sich nach kurzer Trauerphase eingestehen musste.

      Siegrun wollte damals etwas Eigenes, etwas Schönes mit Stil, eine Eigentumswohnung. Das sei eine »sichere Geldanlage in Zeiten der Wohnungsnot und der steigenden Immobilienpreise in Tübingen«, betonte sie. Wotan unterschrieb schließlich mit ihr den Kaufvertrag für die Wohnung zwischen zwei Fällen im Kommissariat und ohne ihn richtig durchgelesen zu haben.

      Während der zweijährigen Planungs- und Bauzeit für das Objekt Am Alten Güterbahnhof fand sie in dem Innenarchitekten Gunter Sprühnagel einen Berater und Seelenverwandten.

      Hinter Wotans Rücken, wahrscheinlich in ihren unzähligen Meetings, waren sich die beiden nähergekommen und hatten ihre Auswanderung nach Südafrika geplant, um dort eine Lodge zu eröffnen. Seit wann wollte Sigrun nach Afrika? Davon hatte sie nie geredet. Er konnte das nicht nachvollziehen. Sollte er sich so in ihr getäuscht haben? Es war ihm schlichtweg schleierhaft.

      Wotan hatte sich unwohl und deplatziert gefühlt, als ihn die beiden nach einer Baubesprechung vor vollendete Tatsachen stellten.

      »Das wirst du doch sicher verstehen, Wotan! Aber so konnten